No 6 - Mon Corps / Mein Körper
 
Mit Schopenhauer den Weltknoten schürzen
oder Wie der Leib in die Philosophie kam
Stefan Kleie
Ob Lebensphilosophen, Pantheisten oder Monisten, dazu die gesamte deutsche Literatengeneration zwischen Richard Wagner und Thomas Mann - in jüngerer Zeit v.a. Bernhard, Borges, Houellebecq - alle haben ihn gelesen. Nicht vom sächsischen Zarathustra mit seiner Vorliebe für das Schweizer Hochgebirge ist hier die Rede, sondern vom Frankfurter Buddha (Wilhelm Raabe), Arthur Schopenhauer. Für die Zeitgenossen um 1900 war das Ineinander von Schopenhauer und Nietzsche noch selbstverständlich, öffnete es doch die von Schopenhauer geforderte Willensverneinung hin zur aktivistischen Willensbejahung, es mußte ja nicht immer gleich der "Wille zur Macht" sein. Im übrigen hat wohl Georg Simmel in seinem Aufsatz "Schopenhauer und Nietzsche" (1907) am deutlichsten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Denkern herausgestellt: "Die tiefste Herabwürdigung [Schopenhauer] und der höchsten Triumph [Nietzsche] des Lebensprozesses hängt gleichmäßig an der Verneinung eines absoluten, außerhalb seiner gelegenen Zweckes und Wertes [...]." Gott starb nicht erst im Oberengadin. Dennoch gab es um die Jahrhundertwende soziale Unterschiede in der Rezeption: Während Nietzsche v.a. die Lebensreform und die Jugendbewegung erreichte, die unbeschwert genug "ihren", nicht selten aus losen Zitaten zusammengestückelten Nietzsche verschlangen, war die Lektüre Schopenhauers eher eine Sache der bourgeoisen "Décadence", also der "Gebildeten unter den Verächtern" ihrer Zeit. Durch diesen bürgerlichen Touch wurde Schopenhauer z.B. zum Lieblingsgegner der Hegel weiterführenden marxistischen Philosophie des späten Georg Lukács, der den in Danzig geboren Misanthropen zum düsteren Ahnherrn der "verhängnisvollen Rolle der deutschen Philosophie: ideologische Führerin der äußersten Reaktion zu sein" kürt (Die Zerstörung der Vernunft, Lukács, Werke Bd. 9., Luchterhand 1960, S. 177). Für diese pointierte Sonderwegsthese zieht Lukács neben der mißlungenen Revolution von 1848 auch die vehemente Abwehr des dialektischen und historischen Materialismus von Marx und Engels, den "ragendsten Gipfel des deutschen Denkens" (S. 176), durch die bürgerliche Philosophie heran. Ein Sonderweg allerdings, dem auch Lukács in der von Revolutionsangst und Imperialismus geprägten "Krise der bürgerlichen Gesellschaft" eine internationale "Führerrolle" beimisst, wie sie der deutschen Philosophie schon einmal - nach der französischen Revolution - zukam (vgl. Zerstörung der Vernunft, S. 175). Doch ist die Entdeckung des "Anderen der Vernunft", für die spätestens seit Nietzsches Metaphysikkritik das Denken des Leibes ("Der Leib ist eine grosse Vernunft") geradezu ein Synonym ist, auch keine Kleinigkeit.
Natürlich lässt sich von der schopenhauerschen Willensmetaphysik eine direkte Linie zum "Es" Freuds ziehen, die übrigens Freud selbst auch erkannt hat. Freud stürzt sich aber in einen erneuten Dualismus, wenn er mit den alten platonischen Oppositionen von Tiefe-Oberfläche, bewusst-unbewusst, Schein-Sein den furor hermeneuticus einer ausufernden Sinnsuche in Traumdeutung und psychoanalytischer Methode betreibt. Dagegen knüpft Schopenhauer an die Kontinuitäts- und Identitätsvorstellung der romantischen Naturphilosophie etwa eines Schelling an, die diesen Dualismus von Wille und Vernunft vermeidet. Lediglich die Hierarchien werden bei Schopenhauer radikal umgekehrt
Ebenso wie für die deutschen Idealisten bleibt auch für Schopenhauer Kant der Ausgangspunkt. Fast gebetsmühlenartig wiederholt er seit seiner Dissertation "Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichendende Grunde" (1813) die Fundamentalunterscheidung zwischen Ding an sich und dem durch den im Intellekt a priori vorhandenen Anschauungsformen Raum, Zeit und Kausalität, konstruierten Bild der Vorstellung. Der Rekurs auf Kant war wohl um 1818, dem Jahr der Erstausgabe seines Hauptwerks "Die Welt als Wille und Vorstellung" unpopulär genug, schickten sich doch eben Hegel und Schelling an, die Leerstelle des Kantschen "Ding an sich" durch spekulative Anleihen bei Religion und Geschichte auszufüllen.
Ohne die Pegasusflügel des deutschen Idealismus zu bemühen, gehen jedoch zwei bemerkenswerte Tatsachen über Kant hinaus: Schopenhauer spricht nicht von Bewusstsein, sondern von einer bloßen Gehirnfunktion, die nach einer Reihe physiologischer Prozesse als Ergebnis das Bild der Vorstellung liefert. Damit stellt er damals schon die auch in heutigen Debatten zwischen Philosophie und Neurologie so notwendige Brücke her und markiert den für das 19. Jahrhundert typischen Umbruch zur naturwissenschaftlich-biologischen Weltanschauung, die bis heute dominiert. Ähnlich wie die sonst als ‚Scharlatane, Tollhäusler und Windbeutel' gescholtenen Schelling und Hegel befriedigt ihn aber auch der Skeptizismus wie ihn Hume, Berkeley und letztlich auch Kant vertraten, nicht wirklich. Dieses Unbehagen an der Unzulänglichkeit der Welterfahrung, die uns durch den Intellekt vermittelt ist, drückt er mit fast existentialistischem Schauder - schon Pindar hatte den Menschen als "eines Schatten Traum" definiert - so aus: "wir fragen, ob diese Welt weiter nichts als Vorstellung sei; in welchem Falle sie wie ein wesenloser Traum oder ein gespensterhaftes Luftgebilde, an uns vorüberziehen müßte, nicht unserer Beachtung werth." (Welt als Wille und Vorstellung, Band I; Buch 2, §17)
Das vernichtende Urteil über die gesamte Erkenntnistheorie seit der Antike lautet demnach, sie habe das zur Erkenntnis notwendige Subjekt lediglich als "geflügelten Engelskopf ohne Leib" (WWV I, 2, §18) definiert. Schopenhauer insistiert auf diesem Leib ebenso wie auf Kants Aufweis der Transzendentalität der Anschauung. Denn selbst für die Vorstellung ist der Leib als "unmittelbares Objekt" ja unverzichtbar, liefert er doch sämtliche Datis der Sinneswahrnehmung, wird er doch von den "mittelbaren Objekten" affiziert. Diese Aufwertung des Leibes für eine sinnlich bestimmte Erkenntnis hatten schon die vom Wolffschen Rationalismus abgekehrten Sensualisten der Aufklärung vollzogen. Schopenhauer bleibt aber Metaphysiker, dafür opfert er auch schon mal das Erkenntnissubjekt.
Der an die Stelle der Subjekt-Objekt-Spaltung benutzte Terminus Individuum geht gerade schon in seiner Wortbedeutung von einer ‚unteilbaren' Einheit von Leib und Seele aus und setzt die kartesianische Unterscheidung von res extensa und res cogitans außer Kraft. Hier hat die sonst eher behäbige deutsche Sprache einen unschätzbaren Vorteil. Im Gegensatz zum lateinischen corpor, dem unbelebten Körper, ist im mittelhochdeutschen lîp schon immer ‚Leben' mitgedacht, die Wendung von "Leib und Leben" hat diese Synonymik übrigens bis heute bewahrt.
Schon 1813 - als fünfundzwanzigjähriger Doktorand - war sich Schopenhauer über die Tragweite dieser Zusammenführung von Vorstellungswelt und irrationaler Willenswelt bewußt: "Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem Erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich' beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich." Sogar theologisches Vokabular fährt er auf, wenn er vom Wunder kat' exochen spricht.
Wie erschließt sich nun der ominöse Wille? Allein durch das unmittelbare Erlebnis meiner Leiblichkeit, die immer zugleich ein affektgeladenes Gefühl zwischen Lust und Unlust ist. Fehlt ein solcher Impuls, folgt Langeweile, bleibt er unerfüllt, droht Schmerz und Leid. In diesem Teufelskreis bewegt sich das menschliche Leben ohne Aussicht auf Erlösung - Sisyphos, Faust, Don Juan nur als Beispiel. Zwar lassen sich in einzelnen Momenten Motive angeben, nie jedoch die Motivation des Willens als solchem, der nur ein blinder, grundloser ‚Wille zum Leben' sein kann. Nun ist unser Leib nicht mehr Gegenstand der Vorstellung, wie etwa noch beim bloß mechanischen Fußnägelabschneiden.
Der Wille als "Schlüssel zur eigenen Erscheinung" (WWV I; 2, §18) also, womit quasi durch eine schmale Hintertür zumindest in einem Fall die Festung des ‚Dings an sich' erobert werden kann, während alle andern Philosophien sie nur von außen skizziert haben (Welt als Vorstellung; vgl. WWV I; 2, §17). Dabei kann "Erscheinung" hier sogar ganz konkret verstanden werden. Alle Organe stellen nur eine Objektation verschiedener Ausformungen des Willens dar: "Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektiviertet Hunger; die Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen." (WWV I; 2, §20) Trotz aller Verschrobenheit weist diese Darstellung auch ein verstörendes Moment auf. Tatsächlich hatte Schopenhauer ja das (Erkenntnis)-Subjekt verabschiedet, sein "Individuum" war zwar vorausgesetzt, nie aber begründet worden. Eine postmoderne Fragmentierung des Körpers - der dann keine "Leib" mehr wäre - durch die unsichere Stellung zwischen Physiologie und Willensmetaphysik, ist somit nicht ausgeschlossen!
Dieser Schlüssel, den mir mein Leib liefert, stellt soll nun sogar eine Art Universalschlüssel für alle Phänomene der Natur dar. Wollen wir uns nicht in völliger Selbstbeschränkung auf den Standpunkt des "theoretischen Egoismus" zurückziehen, der als Solipsismus oder Narzissmus pathologisch wäre, müssen wir annehmen, daß der gleiche Wille, der in uns wirkt, auch überall wirkt. Dabei handelt es sich um eine Wiederbelebung des für die Vormoderne so typische Denken in Analogien, hier die besonders exponierte Analogie von Mikrokosmos und Makrokosmos, die nicht nur eine spezifische Erkenntnisform definiert, sondern jede poetischen Welterfassung (als Metapher, Allegorie) auszeichnet.
Mit dem "Willen" ist nun zwar das Eichendorffsche Zauberwort gefunden, das uns aber gerade nicht in eine harmonische Einheit mit einer ewigen Natur zurückführt, sondern die Fatalität des Daseins, den blinden, grundlosen Drang eröffnet - von der Schwerkraft bis zum Menschen. Diesen Abgrund der Natur hätte Darwin wohl nicht besser formulieren können, doch fehlt bei Schopenhauer jeglicher Glaube an seine Perfektionierbarkeit oder eine biologische Züchtung.
Daher auch die Faszination, die Schopenhauer auf eine mal melancholisch-pessimistische, mal aggressiv-weltverachtende Literatur ausübte, heute wie vor hundert Jahren - Bernhard, Borges, Houellebecq.
Stefan Kleie: über den Autor