No 6 - Mon Corps / Mein Körper
 
Womit vertreibt sich Paula ihr Leben?
Sabine Spiehl
I
Womit vertreibt sich Paula ihr Leben? Zigaretten! Männer! Jazz! Ordnungswidrigkeiten aller erster Güte, man o man. Die Mutterbrust in der Zigarettenschachtel, ein groß wippender Schwanz in ihrer Hand, eine ImproSession - didabndudadowhatyoulike. Was kann sie schon dafür? Vor einem Jahr war da noch weh und ach und Herzschmerz. Heute ist da ein Leben auf der Kante. Besser? Passender. Und angsteinflössend, wie sie findet, wenn sie mittags in den Armen ihres doppeltalten Geliebten in den Sommertag schielt. Didabnduda. Ist Leben Freejazz? Wohin ist das nervöse Regelwerk verschwunden? Immer war es da und sie: artig, fleißig, unter Strom, ach und weh und Mund zu. Ist sie jetzt ein Waisenkind? Wo ist die Sippe? Mammi, Papi, Oma und Opa und das autoritäre Jedermannsgesicht? Sie hat sie aus den Augen verloren. Irgendwo spielt die Bande gerade Skat. Ob Paula aus dem Schneider ist? Sie liebt und lebt jetzt auf der Kante: läuft auf dem Bordstein, geht ins Bett wenn es blau wird, lacht ein sorglos fragwürdiges Leben.


II
So gesehen kamen aus ihr keine Sätze mehr. Satz - sagt er - heißt Anfang und Ende und dazwischen ein Sinn. Nein, das waren keine Sätze mehr - aber waren es noch Worte? Sie sprach noch Ja und Sicher und Genau und Mmh und Gut. Sie sagte noch Ja WUT Amen. Sie flüsterte noch Da hast du WUT recht. Komischerweise hörte sie seine Stimme kaum noch. Obwohl sie nickte und schwieg: WUT. Er sprach gerade von Kleber, so gutem Kleber, unglaublich, und Schraubzwingen und Pflaster und festem Zwirn, mit dem man alles zunähen könne.


III
Eines Nachts sah sie ihn. Er blickte sie weit an und plötzlich war alles warm und richtig und das Essen schmeckte ihr wieder. So einfach geht das also. Aus versichernder Ferne ein Blick, dazu eine leichte Bewegung der Flügel. Mehr war nur zu ahnen. Der Traum drängte sie weiter.

IV
Ich laufe zum Meer, zum dunkelgrünen Rauschen, zum salzigen JA. Vorbei an bleichen Strandkörben, gefüllten Badehosen, knatternden Wetterfahnen. Vorne am Wasser beugen sich blaulippige kleine Mädchen und tropfen Sandburgen zwischen gestrandete Quallen. Ein Junge mit blauen Schwimmärmeln bläst ein rosa Plastekrokodil auf. Ein schlenderndes Paar: er füttert sie mit Zitroneneis. Vorbei an stöhnenden Walen, zerklüfteten Schiffwracks und fühlenden Algen. Unter meinem Füßen zerplatzen Wellen, Steine, Muscheln. Dort am Horizont wächst die Abendsonne in die Leere hinein.

V
An Prüfungen hatte sie immer ihren Spaß. Klar, Arbeit war das auch, aber irgendwie auch schön - dieser direkte Kontakt, Auge um Auge quasi. Nach einer Prüfung ist man ein neuer Mensch, hatte schon ihr Großvater gesagt und der musste es ja schließlich wissen: die Kriege, die Gefangenschaft, die Lehre, die Bäckerei, zwei Ehen und fünf Kinder. Sie war das Kind seines Ältesten, die Tochter mit dem Indianergesicht. Stolz, strahlend und schmal. Am Anfang war sie ein schüchterner Wildfang, die langen schwarzen Haare blieben in den Zweigen der Johannisbeersträucher hängen, wenn sie sich dort versteckte. Anne wo bist du? Anne komm endlich nach hause! Ins Haus der Eltern tretend, riecht sie die Rosinenbrötchen und das ausgelegte frische Brot des Großvaters, der dort seine Backstube hat. Ihre Hand greift das Holzgeländer, ihre Ohren nehmen Schritte und Stimmen der Familie. Der Großvater spricht laut und der Vater lacht, im Treppenhaus schnurrt die Katze. Anne! Zart und hastig läuft sie die Treppe hinauf. Oben wartet die Mutter. Dunkel steht sie im Zimmer, streicht Anne übers Indianerhaar und wundert sich über nimmersatten klaren Augen ihrer Tochter und die leise Stimme. Anne, mein kleiner Hasenfuß. Komm, Annchen zieh dich aus, Zeit ins Bett zu gehen.
Die Mutter mit der bemehlten Schürze, der Vater mit dem roten Bart, der Großvater mit den harten Händen: Anne sieht sie gemeinsam ein riesiges Brot backen, ihre Arme tief im Teig, kneten und stoßen sie den weichen Laib. Plötzlich kriecht der Teig dem Großvater in den Mund und lachend und essend ruft der: Endlich!
Guten Morgen, Anne! Schon bist du achtzehn. Ein paar Prüfungen schon hinter dir. Deine Eltern verstehst du nicht mehr. Dein Großvater ist vor drei Jahren gestorben. Du blutest seit fünf Jahren und liest politische Manifeste. Mit bunten Bändern im Haar liegst du auf der Wiese im Park. Wie schön du bist! Dein Körper: die Ahnung einer Frau. Nun liegt er also neben dir: dein erster Freund. Er küsst deine Ohrläppchen und haucht: Zeit zu schlafen, Indianermädchen!
Der Freund mit Jeanshose und Nickelbrille, ein Mädchen mit rot beflecktem Plakat, der Großvater mit einem Osterbrot: Anne sieht sie gemeinsam zu einer karierten Musik tanzen, ihre Füße drehen sich im Schlamm. Plötzlich nimmt das Mädchen dem Freund die Brille ab und zwinkernd ruft der: Endlich!
Einundvierzig Jahre, Annchen. Heute gibt es deine Prüfung. Ein paar hast du schon hinter dir. Dein Studium mit laudare abgeschlossen, deine Doktorarbeit steht im Regal. Dein Telefon klingelt und du antwortest mit: Nice to hear
from you! Deine Stimme? Tief und kehlig kommt sie aus deinem Mädchenkörper. Deine Zigarettenmarke? Alles was stark ist. Niemand ist stark genug, für das was jetzt kommt, Anne. Schlaf, Anne! Schlaf!
Deine beste Freundin in dem Autowrack, der Großvater mit Gewehr im Anschlag, die Katze trinkt schwarze Milch: Anne sieht sich unterm Johannisbeerstrauch. Plötzlich fallen ihr drei rote Beeren in den Mund und sie ruft: Mama!
Nach einer Prüfung ist man ein neuer Mensch, hatte schon ihr Großvater gesagt und der musste es ja schließlich wissen.

Msabu August 2004

Sabine Spiehl: über die Autorin