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(W. fährt nach A.)
Andreas Reichel

 W. nahm seine leichte Sommerjacke vom Haken und verließ den Raum. Auf den breiten Treppen des Gerichtsgebäudes begegnete er einigen bekannten Gesichtern, Kollegen, manche ebenfalls Anwälte wie er, oder Richter, Staatsanwälte. Ein Kopfnicken zum Gruße, ein kurzes Hallo, lächelnd überbracht.

Als er vor das Portal des massiven Gebäudes trat, ganz vom Sonnenschein des lauen Frühlingstages umwoben, spürte er ein leichtes Drücken am großen Zeh des rechten Fußes. Er ließ sich auf diese Wahrnehmung genauer ein; mit Deutlichkeit wurde ihm klar, dass seine Schuhe, erst einige Tage alt, sich noch nicht ganz vom allgemeinen Maß ihrer Herstellung für einen so und so geformten Fuß an das ganz individuelle seines eigenen angepasst hatten, jetzt noch nicht.

Bis zu seinem Termin in A. hatte er noch zwei Stunden Zeit, ein Stück Zukunft, dessen Verlauf er, jedenfalls in groben Zügen, schon kannte und schätzte.

Wegen des drückenden Schuhs überquerte er mit schnellen Schritten die Straße, schon in deren Mitte zog er einen einzelnen Schlüssel mit einem kleinen Anhänger in Form eines Hufeisens aus der dunklen Hosentasche. In der unauffällig auf seinen Wagen gerichteten Hand lag der wohlgeformte kleine Korpus, mit dessen fast unscheinbarer Drehung auf so faszinierende und grausame Weise Welten in Bewegung gesetzt werden (können).

Als er langsam losfuhr, überflog er noch einmal gedanklich die Notwendigkeiten für seinen Termin in A. Nach positivem Abschluss dieser Überprüfung, lehnte er sich entspannter in das behagliche und körpergerecht geformte Leder des Sitzes zurück.
Er genoss den hellen Tag, den Volant entschlossen, aber nicht verkrampft, umfassend, und fühlte sich ganz Teil einer großen Bewegung. Während er den Fluss überquerte, konnte er einen der Ausflugsdampfer sehen, die ihren Betrieb nach der Winterpause erst vor wenigen Wochen wieder aufgenommen hatten. Ein Mädchen mit einem Fahrrad lächelte an einer Ampel in seine Richtung; mit ein wenig Phantasie konnte er glauben, es gelte ihm: Über allem lag eine ausgesprochene Leichtigkeit.

Beim Beschleunigen kurz nach der Einfahrt in die Autobahn verstärkte sich dieses Gefühl des Schwebens noch. Seit er diese Einfachheit, ja mehr noch, diese einfache Erhabenheit des Durchschneidens vom Zeit und Raum mittels einer in wenigen Zentimetern auszudrückenden Neigung des rechten Fußes zum ersten Mal erlebt hatte, war er davon auf eine fast kindliche Art begeistert. Wahrscheinlich könnte man ihm, so es möglich wäre, während der Fahrt von außen durch die Frontscheibe hereinzuschauen, einen Ausdruck entrückter Glückseligkeit, oder wenigstens der tiefen Freude geradezu vom Gesicht ablesen.

Etwas Musik würde sein Hochgefühl auf angenehme Art untermalen, dachte W. und suchte, während er abwechselnd auf Straße und Wagenkonsole schaute, in seinem Repertoire nach etwas Passendem. Schließlich folgte er, bewusst oder unbewusst, seinem Gefühl spielerischer Leichtigkeit, und entschied sich für Bachs ‚Goldberg- Variationen', die auf ihre Art Töne nahezu schwerelos werden lassen.

Er wechselte jetzt auf die äußere linke Spur und erhöhte das Tempo noch ein wenig. Wie bei einem rückwärts ablaufendem Film rauschten an seiner rechten Seite Fahrzeuge vorbei, kleiner erst, dann immer größer werdend um mit absurden Unterbrechungen im für ihn nicht mehr sichtbaren Bereich hinter der Leinwand zu verschwinden; kurz danach, einer nochmaligen Umkehrung dieses Films gleich, sah er eben jene blechernen Würfel noch einmal kurz im Rückspiegel auftauchen und ins Mikroskopische verschwinden. Vielleicht aber bildete er sich das alles nur ein und in der Vergangenheit hinter ihm war nichts, niemand mehr; alles nur noch eine Vision, die schemenhafter nicht sein konnte. Mit steigender Geschwindigkeit wurden die Erscheinungen der Welt vor seiner Scheibe immer schattenhafter und flüchtiger, flogen in einem riesigen Trichter auf ihn zu; niemand als er selbst bestimmte das Tempo, den Versuch, diesen rasenden Kegel zu verlassen; vergeblich zu verlassen.

Aufschriften bewegten sich an W.'s rechter Seite vorbei, einige konnte er ganz deutlich lesen: "Ihr Frischdienst" oder "Wir fahren für ihre Zukunft"; er glitt an einer rollenden, endlosen Werbetafel entlang. Und bei der Vorstellung, sie reiche als unendliches Spruchband über den Horizont hinaus, der vielleicht eben hier, oder wo auch immer, begann, bis ins Universum, konnte er sich ein kurzes Feixen nicht verkneifen.

Plötzlich las er: "ad eis rüf remmi dnis riW" oder anders: "lietroV merhI uZ"; es war zu absurd; schon wieder glitt eines heran: "leiZ sna rellenhcS"; was mochte das bedeuten. Oder war es einfach gar nichts, waren gar die Gesetzestexte, mit denen er täglich zu tun hatte, rückwärts gelesen, große Epen vergangener Helden, zerhackstückt von neidvollen Kleingeistern, die ohne zwanghaften Sinn nicht sein konnten. Der Gedanke machte ihn traurig; konnte wirklich alles nichts sein?

Als W. in den Rückspiegel blickte, sah er zwei Scheinwerfer ganz nah hinter seinem Wagenheck. Nein, so einfach wollte er sich nun auch wieder nicht geschlagen geben, das wäre ja gelacht; er zögerte den Spurwechsel noch einige genüssliche Sekunden hinaus, um dann, schon auf die mittlere Spur wechselnd, seinen Wagen so stark wie möglich zu beschleunigen. W. fühlte die Zeit fast körperlich, in der er auf das Erscheinen des Kühlergrills neben sich wartete; er grinste. Und wirklich, für einen kurzen Moment, er hätte schwören können, dass es wirklich nur ein ganz kurzer war, tauchte die feindliche Karosse neben der seinen auf, unwirklich, ein Fragment.

Doch seine kräftige und entschlossene Fußbewegung verhinderte Schlimmeres; der gegnerische Bug sank wieder auf den Boden des Trichters zurück. Schon wurde es knapp für ihn, denn jetzt musste er selbst überholen. Bremsen, Überholen, Bremsen, Überholen; er überlegte; die Vernunft gebot ihm zu bremsen, sonst wäre es zu riskant, für ihn und den Anderen; ja, er sollte jetzt bremsen. Als er die Lichter wieder ganz knapp hinter sich auftauchen sah, blendeten sie ihn, mehrmals, besser, sie versuchten es. Dieser niedrige Mensch ließ aber auch nicht ein Jota locker; er hätte ohne Mühe ein wenig langsamer fahren können.

Rechts von ihm sank ein Cabrio vorbei; bevor es verschwindet sieht W. am Steuer eine Frau sitzen; kurzes Haar, vom Winde bewegt; freie, schöne Schultern, bedeckt nur von dünnen Stoffstreifen. Er denkt an Claudia und wie aufreizend sie in ihrem roten Kleid mit den Spaghetti-Trägern aussieht, besonders nach einem Glas Wein, wenn die Scheu, lasziv zu sein, geschmolzen ist.

Die Lichter blendeten schon wieder hinter ihm; die Variationen wurden verrückter.

Sie hat dann dieses Lachen, kehlig, warm und erotisch wie ein nächtliches Saxophon in einer rauchigen Bar. Genau so ein Lachen, wie seine junge Kollegin; eigentlich fand W. sie nicht wirklich hübsch, aber sie hatte, das musste er sich eingestehen, doch eine starke Ausstrahlung, die vielleicht gerade darin lag, dass sie versuchte eine eben solche nicht nach außen zu kehren, wohl, weil sie für ihre Arbeit sich lieber etwas androgyn gab; man weiß ja nie. Wie kam er bloß auf sie? Neulich hatte sie, ganz ohne ihr Wissen, seine Phantasie beflügelt als sie morgens, aus der Kühle des unschuldigen Tages kommend, ihren Pullover auszog: Ihr Kleid war um einige Zentimeter nach oben gerutscht. Zu sehen gab es dabei genau genommen gar nichts: und doch; es waren die flüchtigen Falten Stoffes weniger über ihren Schenkeln, die ihn für einen Augenblick inne halten ließen, ihm eine Spur ihrer Lüste mitteilten, ihn das Fleisch erahnen ließen; und damit mehr ergriffen als es der Anblick ihrer vollen Nacktheit jemals hätte tun können. Er spürte plötzlich diesen leichten Druck in den Lenden, jenen angenehmen Druck, der unsere Gedanken lüstern macht und unsere Handlungen zielgerichtet.

Seine Hände schwitzten. Warum um alles in der Welt muss dieser sture Idiot unbedingt an mir vorbei? W. fuhr Höchstgeschwindigkeit. Sehr schnell; es war ihm nun nicht mehr möglich, die einzelnen Aufschriften auf dem Werbestreifen zu entziffern; nur Fetzen: Bier, glückliche esieR, tfnukuZ, Ende der tleW; aber was bedeutete das schon. Ein Gefühl von Stärke erfüllte ihn, von Unverletzlichkeit, geiler Unverletzlichkeit.

Was wollte dieses mickrige Würstchen hinter ihm schon. Nein! er würde sich nicht vom ihm ficken lassen, nicht so. Brückenpfeiler flogen auf ihn zu und verschwanden, mitsamt ihrer bedrohlichen Starrheit, Bäume, Schilder. Was bedeutet es schon, zu sterben, wenn er hier und jetzt Raum und Zeit beherrschen konnte; und den Drecksack hinter ihm. Nein! nein! die Vorstellung an einem solchen Betonständer zu zerschellen beeindruckte ihn nicht im Mindesten, obwohl er überdeutlich das Bild einer apokalyptischen Verwüstung sehen konnte: geborstenes Plastik, in bizarren Formen gen Himmel ragend; Glas, zu winzigen, das Sonnenlicht bunt wiedergebenden Kristallen zerbrochen; amorphes Blech, dessen Oberfläche, von gerissenem Lack überzogen, mit gleichmäßig verteilten Blutspritzern gesprenkelt ist; auf dem Wurzelholz Streifen roten Fleisches, verschönt von den nun ganz leicht dahin plätschernden Variationen; Gehirn, sein Geist, läuft zeitlupenhaft an der Türsäule hinab, die mit den Resten des Daches die Form eines Kreuzes bildet. Stille.

Na gut, du sollst deinen lächerlichen Sieg haben; er bedeutet mir nichts. W. zog auf die Mittelspur und blieb bei seinem Tempo. Ein Comic-Strip lief rückwärts ab, an dessen Ende das andere Fahrzeug in ganzer Länge an ihm vorbeigeschwebt war. Da huschte der Andere so knapp vor W.'s Wagen in seine Spur, dass er unwillkürlich bremsen musste. Du Arschloch! entfuhr es ihm und noch mit der letzten Silbe erschrak er über sich selbst.

Weit vor sich sah W. das Hinweisschild für seine Ausfahrt, es wurde schnell größer. So ungeschoren würde ihm diese Ratte nicht davonkommen; darben sollte er, an Ketten hängend, von gierigen Adlern gemartert, eben so, wie dieser Feuerbringer, Elendsbote, Glücksverheißer. Er hatte nichts zu verlieren; ein einziger Anruf in A. und er hätte alle Zeit der Welt um den Kampf aufzunehmen, um zu prüfen, wer nur ein Angeber ist und wer wirklich Mut hat. Die Ausfahrt war jetzt direkt vor ihm; die letzten Klänge verhallten.

Als W., unterm Arm die Mappe mit den Unterlagen, die Treppen hinaufstieg, Kollegen freundlich zunickend, drückte sein rechter Schuh ganz leicht.

Dresden, August 2002

Andreas Reichel: an_rei@gmx.de

 

   
"… Do fish ever get seasick?"
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