Nummer 2 - Territorium |
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"Das junge Mädchen wird definiert durch ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit, durch eine Kombination von Atomen, durch das Aussenden von Partikeln. Es wandert unaufhörlich auf einem organlosen Körper herum. Es ist eine abstrakte Linie oder Fluchtlinie."
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Ich laufe die Prager Straße entlang zum Bahnhof.
Am Bahnhof werde ich dann die Türken, die ihren Obstladen dort haben,
fragen, ob ich sie mal interviewen darf. Ich will nämlich eine Reportage
für unsere Schülerzeitung über die ausländischen Obstverkäufer in Dresden
machen. Aber ich habe noch über eine Stunde Zeit, und das Wetter ist auch
schön. Jetzt sitz ich am Springbrunnen, der Stein ist ganz warm von der
Sonne, und ich esse ein Eis. Da setzt sich dieser komische Mann neben
mich. Seine Haare sind ganz durcheinander, und er guckt mich nicht so
richtig an, sondern irgendwie durch mich hindurch. Obwohl es warm ist,
hat er einen langen Mantel an. Ich glaube aber, der hat kurze Hosen drunter,
denn man kann, wo der Mantel zu Ende ist, ein Stück von seinen Beinen
sehen. Er schaut durch mich hindurch und lächelt ein bisschen und fragt
mich, ob er mir mal was Interessantes zeigen darf. Ich hab sowieso eine
Stunde Zeit, und irgendwie ist der Mann ja auch freundlich, und da sag
ich klar, er könne mir ruhig was Interessantes zeigen, aber was? Er lächelt
geheimnisvoll und meint, das werde ich schon sehen, na ja, ich müsse aber
noch ein Stück mitkommen. Gut, geh ich halt mit ihm noch ein Stück spazieren.
Wir gehen am Karstadt Sport vorbei von der Prager weg und kommen zu diesem
kleinen Park mit den Bäumen und den Beeten. Er steigt über die kniehohe
Begrenzung, dann läuft er den Kiesweg entlang und ich ihm hinterher. Er
setzt sich auf die Wiese und schlägt die Beine übereinander, so dass man
seine nackten Waden sehen kann, ich setze mich daneben. Der Mann fragt
mich, wie ich heiße, mein Name ist Maria. Er fragt mich, was ich so mache,
was ich mal werden will und so. Ich will Bankkauffrau werden, wie meine
Mutti auch, aber erst muss ich noch meine zehnte Klasse machen. Vielleicht
geh ich aber auch zur Zeitung, das Schreiben für die Schülerzeitung macht
mir viel Spaß. Er schaut wieder durch mich hindurch, seltsam, wie er das
macht, ich habe keine Ahnung, warum. Komm Maria, wir müssen weiter, sagt
er. Er steht auf und ich stehe auch auf, er nimmt mich an die Hand. Das
find ich irgendwie doof, an die Hand genommen zu werden, so klein bin
ich ja auch nicht mehr. Ich hoffe, dass ich bloß keinen Bekannten treffe,
das wäre mir echt peinlich, aber es ist ja eh keine Menschenseele hier
im Park. Wir verlassen den Park und gehen über die Straße, es fährt kein
Auto hier entlang, seltsam, wo es doch kurz vor vier ist, außerdem haben
wir heute Freitag. Die Straße ist gar nicht weit weg von der Prager, aber
ich hab die noch nie gesehen, eigentlich bin ich oft hier, echt komisch.
Dann stehen wir vor einem alten Haus. Der Mann deutet auf die Türe und
sagt, geh voran, die Tür ist offen. Ich mache die Tür auf, geh rein, er
kommt hinterher und macht die Tür zu. Jetzt sind wir in einen großem Zimmer,
es hängt ein Glasleuchter mit Kerzen tief herunter, und es stehen zwei
abgewetzte Sessel da. Er sagt, ich soll mich hinsetzen, er setzt sich
in den Sessel mir gegenüber. Langsam kann er mir echt mal zeigen, was
er mir versprochen hat. Ich hoffe bloß, der veralbert mich nicht, und
ich bin den ganzen Weg umsonst mitgegangen. Was ist los, was wollten Sie
mir zeigen, frage ich. Er meint, ach ja, das habe er nicht vergessen,
das kommt sofort. Er steht auf, ich soll auch aufstehen, und er öffnet
eine Tür und sagt, ich kann mir irgendwas in diesem Zimmer aussuchen,
was mir gefällt, er hätte dann allerdings auch noch eine bescheidene Bitte.
Was er denn wolle, frage ich ihn, und er meint, ich solle mir zuerst was
aussuchen. In dem Zimmer sind ganz viele Klamotten, T-Shirts und Hosen,
Schuhe, es sieht fast aus wie im Karstadt, alles Zeug für Mädels in meinem
Alter. Wo der das bloß her hat, und wozu der das braucht, hat der vielleicht
eine Tochter, die so alt ist wie ich, aber selbst für eine Person allein
wäre das alles ganz schön viel. Ich zeige auf ein Sweatshirt, das mir
gefällt, das habe ich schon mal im Karstadt gesehen, aber das war mir
zu teuer, meine Mutter gibt mir nicht so viel Taschengeld. Der Mann schlurft
in das Zimmer, gibt mir das Sweatshirt, ich ziehe es an, und wir setzen
uns wieder hin. Dann drückt er mir ein Glas Kirschsaft in die Hand und
meint, ich solle ihm jetzt seinen Wunsch erfüllen. Wie der so komisch
tut, irgendwie hat der auch einen Knall. O.k.,
was wünschen Sie sich,
ich möchte dich anschauen, sagt er. Was, frage ich, einfach nur so anschauen,
und er wiederholt meine Worte und sagt, ja, einfach nur so anschauen.
Seltsam, so hübsch bin ich ja nun wirklich nicht, dass sich jemand drum
reißen würde, mich anzuschauen. Na gut, dann schauen Sie mich halt an,
wenn Sie wollen, aber nicht so lange, ich muss in einer halben Stunde
am Bahnhof sein. Er lächelt und schaut durch mich durch. Keine Angst,
du wirst rechtzeitig da sein. Er guckt wieder so komisch, dann schüttelt
er den Kopf, nein, nicht so, sagt er. Wie denn dann, frage ich. Er fasst
mich am Kinn an, ganz sanft, und zieht mein Gesicht zu sich. Jetzt sind
wir uns so nahe, dass ich seinen Atem spüren kann. Zum ersten Mal schaut
er mich richtig an, er schaut mir direkt in die Augen, und jetzt sehe
ich, dass er strahlend blaue Augen hat. Mein Gesicht spiegelt sich in
seinen Pupillen. Ich denke, eigentlich bin ich gar nicht hässlich, warum
hab ich dann bloß noch keinen Freund, fast alle Mädchen in meiner Klasse
haben einen. Während ich ihm in die Augen schaue, wird mir schwindlig,
ich habe das Gefühl, ich würde in seinem Augenblau ersaufen. Dresden, Februar 2002 Frederik Hartig: fh329355@rcs.urz.tu-dresden.de |
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