www.dasgefrorenemeer.de

Nummer 2 - Territorium

 

inhalt     aktuell  

zurück
"Das junge Mädchen wird definiert durch ein Verhältnis von Bewegung und Ruhe, Schnelligkeit und Langsamkeit, durch eine Kombination von Atomen, durch das Aussenden von Partikeln. Es wandert unaufhörlich auf einem organlosen Körper herum. Es ist eine abstrakte Linie oder Fluchtlinie."

Kiesweg
Frederik Hartig

Ich laufe die Prager Straße entlang zum Bahnhof. Am Bahnhof werde ich dann die Türken, die ihren Obstladen dort haben, fragen, ob ich sie mal interviewen darf. Ich will nämlich eine Reportage für unsere Schülerzeitung über die ausländischen Obstverkäufer in Dresden machen. Aber ich habe noch über eine Stunde Zeit, und das Wetter ist auch schön. Jetzt sitz ich am Springbrunnen, der Stein ist ganz warm von der Sonne, und ich esse ein Eis. Da setzt sich dieser komische Mann neben mich. Seine Haare sind ganz durcheinander, und er guckt mich nicht so richtig an, sondern irgendwie durch mich hindurch. Obwohl es warm ist, hat er einen langen Mantel an. Ich glaube aber, der hat kurze Hosen drunter, denn man kann, wo der Mantel zu Ende ist, ein Stück von seinen Beinen sehen. Er schaut durch mich hindurch und lächelt ein bisschen und fragt mich, ob er mir mal was Interessantes zeigen darf. Ich hab sowieso eine Stunde Zeit, und irgendwie ist der Mann ja auch freundlich, und da sag ich klar, er könne mir ruhig was Interessantes zeigen, aber was? Er lächelt geheimnisvoll und meint, das werde ich schon sehen, na ja, ich müsse aber noch ein Stück mitkommen. Gut, geh ich halt mit ihm noch ein Stück spazieren. Wir gehen am Karstadt Sport vorbei von der Prager weg und kommen zu diesem kleinen Park mit den Bäumen und den Beeten. Er steigt über die kniehohe Begrenzung, dann läuft er den Kiesweg entlang und ich ihm hinterher. Er setzt sich auf die Wiese und schlägt die Beine übereinander, so dass man seine nackten Waden sehen kann, ich setze mich daneben. Der Mann fragt mich, wie ich heiße, mein Name ist Maria. Er fragt mich, was ich so mache, was ich mal werden will und so. Ich will Bankkauffrau werden, wie meine Mutti auch, aber erst muss ich noch meine zehnte Klasse machen. Vielleicht geh ich aber auch zur Zeitung, das Schreiben für die Schülerzeitung macht mir viel Spaß. Er schaut wieder durch mich hindurch, seltsam, wie er das macht, ich habe keine Ahnung, warum. Komm Maria, wir müssen weiter, sagt er. Er steht auf und ich stehe auch auf, er nimmt mich an die Hand. Das find ich irgendwie doof, an die Hand genommen zu werden, so klein bin ich ja auch nicht mehr. Ich hoffe, dass ich bloß keinen Bekannten treffe, das wäre mir echt peinlich, aber es ist ja eh keine Menschenseele hier im Park. Wir verlassen den Park und gehen über die Straße, es fährt kein Auto hier entlang, seltsam, wo es doch kurz vor vier ist, außerdem haben wir heute Freitag. Die Straße ist gar nicht weit weg von der Prager, aber ich hab die noch nie gesehen, eigentlich bin ich oft hier, echt komisch. Dann stehen wir vor einem alten Haus. Der Mann deutet auf die Türe und sagt, geh voran, die Tür ist offen. Ich mache die Tür auf, geh rein, er kommt hinterher und macht die Tür zu. Jetzt sind wir in einen großem Zimmer, es hängt ein Glasleuchter mit Kerzen tief herunter, und es stehen zwei abgewetzte Sessel da. Er sagt, ich soll mich hinsetzen, er setzt sich in den Sessel mir gegenüber. Langsam kann er mir echt mal zeigen, was er mir versprochen hat. Ich hoffe bloß, der veralbert mich nicht, und ich bin den ganzen Weg umsonst mitgegangen. Was ist los, was wollten Sie mir zeigen, frage ich. Er meint, ach ja, das habe er nicht vergessen, das kommt sofort. Er steht auf, ich soll auch aufstehen, und er öffnet eine Tür und sagt, ich kann mir irgendwas in diesem Zimmer aussuchen, was mir gefällt, er hätte dann allerdings auch noch eine bescheidene Bitte. Was er denn wolle, frage ich ihn, und er meint, ich solle mir zuerst was aussuchen. In dem Zimmer sind ganz viele Klamotten, T-Shirts und Hosen, Schuhe, es sieht fast aus wie im Karstadt, alles Zeug für Mädels in meinem Alter. Wo der das bloß her hat, und wozu der das braucht, hat der vielleicht eine Tochter, die so alt ist wie ich, aber selbst für eine Person allein wäre das alles ganz schön viel. Ich zeige auf ein Sweatshirt, das mir gefällt, das habe ich schon mal im Karstadt gesehen, aber das war mir zu teuer, meine Mutter gibt mir nicht so viel Taschengeld. Der Mann schlurft in das Zimmer, gibt mir das Sweatshirt, ich ziehe es an, und wir setzen uns wieder hin. Dann drückt er mir ein Glas Kirschsaft in die Hand und meint, ich solle ihm jetzt seinen Wunsch erfüllen. Wie der so komisch tut, irgendwie hat der auch einen Knall. O.k., was wünschen Sie sich, ich möchte dich anschauen, sagt er. Was, frage ich, einfach nur so anschauen, und er wiederholt meine Worte und sagt, ja, einfach nur so anschauen. Seltsam, so hübsch bin ich ja nun wirklich nicht, dass sich jemand drum reißen würde, mich anzuschauen. Na gut, dann schauen Sie mich halt an, wenn Sie wollen, aber nicht so lange, ich muss in einer halben Stunde am Bahnhof sein. Er lächelt und schaut durch mich durch. Keine Angst, du wirst rechtzeitig da sein. Er guckt wieder so komisch, dann schüttelt er den Kopf, nein, nicht so, sagt er. Wie denn dann, frage ich. Er fasst mich am Kinn an, ganz sanft, und zieht mein Gesicht zu sich. Jetzt sind wir uns so nahe, dass ich seinen Atem spüren kann. Zum ersten Mal schaut er mich richtig an, er schaut mir direkt in die Augen, und jetzt sehe ich, dass er strahlend blaue Augen hat. Mein Gesicht spiegelt sich in seinen Pupillen. Ich denke, eigentlich bin ich gar nicht hässlich, warum hab ich dann bloß noch keinen Freund, fast alle Mädchen in meiner Klasse haben einen. Während ich ihm in die Augen schaue, wird mir schwindlig, ich habe das Gefühl, ich würde in seinem Augenblau ersaufen.
Ich muss eingeschlafen sein. Wie ich aufwache, lieg ich auf der Wiese im Park. Ich denke, hab ich einen Unsinn geträumt, aber dann merke ich, dass ich das Sweatshirt anhabe, was dieser komische Mann mir gegeben hat. Also war das kein Traum. Oh Gott, wie lange hab ich geschlafen, ich muss doch zum Bahnhof. Ich schau auf die Uhr, es ist erst dreiviertel fünf, ich hab also noch eine Viertelstunde Zeit, das reicht bis zum Bahnhof. Ich gehe den Kiesweg entlang, die Steine knirschen, und dann flieg ich über die Abgrenzung, die hab ich nicht gesehen, aber es ist nichts passiert. Mein Fuß tut mir etwas weh, und auf die Ellenbogen bin ich auch geflogen, aber wegen dem langärmlichen Sweatshirt, hab ich mir die nicht blutig geschlagen. Dann geh ich die Prager entlang, mein Fuß tut schon fast nicht mehr weh, und plötzlich steht der Simon aus meiner Klasse neben mir. Der gefällt mir, aber ich glaube, der findet mich blöd, der quatscht eigentlich nur mit den anderen Mädchen. Und, hast du gut geschlafen, fragt er mich. Ich habe gesehen, wie du auf der Wiese im Park gelegen hast, und du hast im Schlaf gelächelt, das sah irgendwie süß aus. Dass der Simon so was sagt, seltsamer Tag heute, erst dieser komische Mann, oder hab ich vielleicht doch geträumt, und ich habe mir das Shirt selber gekauft. Ich bin manchmal so durcheinander. Wohin gehst du, fragt mich Simon weiter. Ich hab nicht darauf geantwortet, ob ich gut geschlafen habe, dumm von mir, aber ich bin noch etwas wirr im Kopf. Ich muss zum Bahnhof, ich will die Türken fragen, ob ich sie mal interviewen darf. Ich schreibe nämlich für die Schülerzeitung. Ich weiß, antwortet Simon. Woher weiß er das, denke ich, der ist doch nicht bei der Zeitung. Kann ich mitkommen, fragt er, ich würde dir auch beim Schreiben helfen, wenn du willst. Ich glaube, ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. Natürlich darfst du mir helfen, ob der mich vielleicht doch ganz o.k. findet. Und dann gehen wir zum Bahnhof, die Sonne scheint schön warm, und dort frage ich, nein, fragen wir die Türken, ob wir sie mal interviewen dürfen, und dann hilft mir der Simon beim Schreiben. Vielleicht kann der mich doch ganz gut leiden, Mensch, das ist ein echt schöner Tag heute.

Dresden, Februar 2002

Frederik Hartig: fh329355@rcs.urz.tu-dresden.de

 

© 2002   das gefrorene meer - la mer gelée