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Nummer 2 - Territorium

 

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"Eine andere Art zu reisen und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, eher gehend und kommend als aufbrechend und ankommend."

Durch die Wand
Pierre Drouot, Übersetzung: Marina Barré / Anne Stoll

Was ist aus dir geworden? Das eher ruhige Meer streicht um das Boot. Bei einem Blick nach Südwesten, an der Küste entlang, kann man sehen, wie es immer steifer wird, beinah fest unter den Schlägen der Sonne wird. Ein weißes Meer, wie eingeschmolzen in eine gleichgültige Stille. Die Strände, Schleppe der arganischen Hügel, rücken in immer weitere Ferne. Ich suche so gut wie möglich Zuflucht im Schatten der Netze. Guten Tag Monsieur, legen Sie ab? Ja. Zwei Tage zwei Nächte. Wollen Sie in der Nähe der Insel fischen? Der alte Mann ließ mich an Bord. Ich werde beim Auswerfen der Netze mithelfen. Ich weiß schon, wie das geht, sagte ich. Na ja, schließlich habe ich schon einige ausgeworfen, abends, mitten in die Angelhaken, die ich der Ostsee geopfert hatte. Morgens stand ich auf. Ich denke, er ist nicht auf mich reingefallen. Einer seiner Arbeiter hat sich gestern beim Köpfen eines Thunfisches geschnitten. Tja, der wird nicht so schnell wieder da sein. Seine Frau war gekommen, um seine letzte Auszahlung zu holen. Sie ging fort auf dem Betondamm. Das Kind, das sie mehr hinter sich herzog, als es an der Hand zu halten, weinte nicht. Um sie herum weit und breit kein Schatten.

Was ist aus dir geworden? Der Tag fängt schon an, zur Neige zu gehen. Der alte Mann hat mir einen Platz ganz vorne zugewiesen. Sie waren zu dritt auf dem kleinen Schipper. Die anderen Fischer, jünger, füllten den Laderaum mit Eisstücken. Keine einzige Wolke. Der Mond wird bestimmt schön sein heute nacht, sagte er mir leise. Er wohnt dem Meer gegenüber. Jede Nacht, zu Land wie zu Wasser, macht er sich einen Tee und geht hinaus auf seine Terrasse oder auf das Deck um zu beobachten, wie der Mond im Ozean ertrinkt. So viel sanfter als ein Sonnenuntergang. Sparsamkeit an Gewalt und Farben. Heiterer Tod, blasse Resignation einer schlafenden Welt. Diese Nacht? Ungefähr ein Uhr. Guten Tag. Die beiden Männer richteten sich nicht auf, noch drehten sie sich um. Sie fuhren damit fort, das Eis aufzuladen. Sie wußten bereits, wie ich aussehe. Sie hatten mich schon sprechen gehört, gehört, wie der Alte mich Monsieur genannt hatte. Das Boot gleitet leicht dahin, und die Hitze lädt mich allmählich zum Schlummern ein.

Was ist aus dir geworden? In der Tat scheint sich alles nach meinem Einschlafen zu sehnen: die schwere Hand der Sonne, die regelmäßige Pendelbewegung des Boots, das Knarren des Rumpfes, das mich an die Holzwiege im Speicher erinnert, in die ich meine Schwester in den Schlaf einwog, während Großvater die Apfelschnapsflasche aufmachte - die letzte, Monsieur Jean, dieses Mal ist es die letzte, flüsterte wie immer der alte Christian, und glitt mit seinen besorgten Blicken über das menschenleere Land hin, das seinen Hof umging, bevor er sie ihm heimlich in den Mantel einsteckte. An den Bojen und Netzen, auf welchen mein Rücken liegt, haftet der Geruch von nicht so milden Meeren; er verleiht meinem Wohlbefinden das Bewußtsein seiner selbst. Das Boot war nicht ganz neu, sein Name war Armor. Die weiße Farbe an der zum Wind geöffneten Kajüte verschwand allmählich und überließ es dem Meer tiefe Falten in nacktes Holz einzuritzen. An einigen Stellen hatte jemand versucht Muscheln auf das Holz zu kleben, wie bei diesen groben Übertöpfen, die man an den Straßen entlang der Küste kaufen konnte. Das Gerippe einer Seespinne, das auf dem Deck lag, wartete artig darauf, dass jemand sie an die Stützen der Koje anbringt, und erlaubte sich höchstens hie und da das Hin- und Herschaukeln des Boots zu begleiten. Sie erinnerte im grellen Mittagslicht an die kleinen orangenen Fähnchen, die in den mit schwarzem Plastik überdeckten zusammengebastelten Bojen steckten. Es war Zeit, abzulegen.

Was ist aus dir geworden? Der Motor schnaubte und brach diese sich immer wiederholende Stille des regelmäßigen Anhäufens der Eisschaufeln. Einer der Matrosen, noch sehr jung, ließ das Seil los, am dem der Bug verankert war, und warf es an meine Füße. Ich hörte ein Seil gleiten und den Sprung des Jungen, der das Boot leicht aus dem Gleichgewicht brachte. Wir legten ab. Ich legte mich halb hin, lehnte mich dabei an die Bojen und Netze, die am Bug des Boots angehäuft waren. Der Alte hatte in der Steuerungskabine Platz genommen. Von meinem Standpunkt aus konnte ich mit halb geschlossenen Augen beobachten, wie die seinen sich nach dem Horizont richteten. Sein ganzer Körper schien sich nach seinem Blick auszurichten, als wäre er dessen Verlängerung bzw. dessen Wurzel. Die Haut seines Gesichts, genau so gefaltet wie das Holz seines Schiffes, war wie hineingezogen in seine Augenhöhlen durch die Überanstrengung der Augen. Habe ich gesehen, wie er geblinzelt hat? Ich höre, wie sich die beiden anderen hinten unterhalten. Ich glaube, dass sie nochmals irgendeinen Knoten von den Netzen überprüfen. Ich stelle mir vor, wie sie die Schnuren in ihre offenen Hände hineingleiten lassen, den Kopf und den Körper der Aufgabe zugeneigt, wie sie mechanisch eine Alge herausreißen, einen Knoten ausbessern und ohne einen Blick zum Anderen plaudern, ohne dass es peinlich wird, wie diejenigen, die ihre Bewegungen und ihren Redefluß aufeinander ausgerichtet haben, synchron, ohne dass man weiß, wer dem anderen die Bewegungen, die Gesten beigebracht hat.

Was ist aus dir geworden? Ich habe meinen Rucksack auf meine Stirn gelegt, um mein Gesicht zu schützen. Die Netze ritzen nach und nach ihre wohldurchdachten Unebenheiten auf meinem Schädel ein. Der Gedanke, dass die Spur dieser Knoten, dieses mehrmals ausgebesserten Geflechts erhalten bleiben wird, belustigt mich. Ich wäre ungern ein Fisch, gefangen und gedrückt in einem dieser Netze. Drei oder vier Möwen besetzen abwechselnd mein vom Schatten des Rucksacks amputiertes Gesichtsfeld. Sie flattern nicht, lassen sich von der milden Luft tragen. Ihre winzigen Beine, schnurgerade Verlängerung des Körpers, und das Mißverhältnis beider zueinander, das mir plötzlich auffällt. Sie sprechen nicht. Nur der Kopf bewegt sich stoßweise. Manchmal scheint die eine mich starr anzusehen, und ich sehe, wie sie sich auf mich stürzt um meinen Blick mit der ganzen Weite ihrer Flügel zu umfassen. Sie hält sich an mir fest, streicht ihren kleinen Kopf gegen meinen. Ich höre, wie sie seufzt, wenn sie mich gegen sich drückt, so als wollte sie mich nicht mehr weggehen lassen, als hätte sie mich endlich gefunden, als wollte sie nicht mehr wegfliegen, nicht mehr weggehen, nur noch bei mir bleiben, und meinen Blick verschließen vor allem, was nicht sie ist, mich bei ihr zu behalten, an ihrem zarten und weißen Busen. Ich spüre auch, wie ihr die Tränen über die Lippen fließen.

Was ist aus dir geworden? Der Alte hatte mir schon vorher gesagt, dass er nicht an der Insel anlegen würde - zu gefährlich , aber wir würden wohl am nächsten Tag einem Schiff von der Insel über den Weg laufen. Ich würde den Steuermann davon überzeugen, er solle mich an Bord und ans Land lassen. Meinen Gefährten auf der Armor ist das Meer heimisch, aber sie hatten wohl nie einen Fuß auf irgendeinen der Felsen der Insel gesetzt. Ebenso wenig wie auf irgendein Stück Land, das nicht das Ihre war. Ich sollte mich unwohl fühlen, ihre neidischen Blicke nicht ertragen können. Aber sie beneiden mich nicht, sie wissen um diesen Unterschied, der uns voneinander trennt. Ja klar, sie wollen auch weg, aber bei mir ist es nicht dasselbe, ich bin ein Geist. Ich gehe durch die Wände hindurch. Es gibt nichts, was mich aufhält, es gibt nichts, was auf mir lastet. Mich gibt es nicht. Alles läßt ihnen ihr Leben spüren. Die Anstrengungen, die Grenzen, die Polizei, die Geister. Aber wie ist es bei mir? Ich habe manchmal das Gefühl, als würde ich mich in ein Vakuum begeben, in ein widerstandsloses Element. Ich renne weit offene Türen ein. Die Tage stellen sich in die Reihe, immer voller Bewegung. Landschaften, immer andere Orte, untereinander durch den flaumigen Faden meiner sinnlichen Empfindungen verbunden, der ihnen immer fremd bleibt. Ich lebe in einer Welt, die sich vor mir, ohne mich aufrollt, mit derselben Präsenz, mit demselben Fleisch, die diese niedrigen leichten Wolken haben, die man liegend dahin wehen sieht, und die beim Fliegen aufgehen, sich verwandeln, Figuren und Landschaften umreißen, die sich auflösen und dahin schweben. Ähnlich diesen abstrakten Möwen aufgezogen auf einen unveränderlichen Himmel.

Was ist aus dir geworden? Die Sonne auf meinen Armen. Dasselbe Knarren, dasselbe Wassergeplätscher. Dieselben Netze eingeritzt auf meinem Schädel, meinem Nacken, meinen Schultern. Mein ewiger Leinensack, der auf meiner Stirn wiegt. Mein Leinenhemd, das mir von einem mehrsprachigen Bauern in einem Land von Bergen und Dürre geschenkt wurde. Derselbe Geruch von konzentriertem Jod. Ich soll etwas geschlafen haben. Der Alte hat seinen Platz einem seiner Mitarbeiter überlassen. Er ist sehr jung - ist er überhaupt sechzehn? Es soll derjenige sein, der das Boot losgemacht hat. Er hat es noch nicht gelernt, den Horizont anzustarren ohne die Stirn zu runzeln und mit den Augen zu blinzeln. Pardon Monsieur. Der andere Arbeiter bittet mich um Entschuldigung. Als hätte ich etwas zu verzeihen. Ich, der durch die Wände hindurch geht, ohne sie zu zerstören. Entschuldigung, warum denn mein Bruder? Diese meine Beharrlichkeit, die anderen meinen Bruder zu nennen, die Kinder meine Tochter, meinen Jungen, gegen jedwede Wahrscheinlichkeit, wie eine Reflexbewegung des schlechten Gewissens. Das Netz ich wollte das Netz überprüfen an das Sie sich angelehnt haben, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie störe, ich bringe Ihnen ein Kissen statt dessen, wollen Sie? Der Mann ist älter als der kleine Fahrer - so alt wie ich vielleicht. Nicht die einzige Spur von einem Akzent. Nein nein bitte, machen Sie ruhig, ich werde mich sowieso in den Schatten legen, langsam brenne ich an, es gibt keinen Wind, und ich bin wie ein Hähnchen am Spieß. Das dialektale Wortspiel bringt ihn zum Lachen, wahrscheinlich weniger aufgrund seiner Qualität, als eher weil er überrascht ist, dass ein Geist seine Sprache spricht. Der Nachmittag war jetzt schon vorangeschritten, die Sonne warf einen einladenden Schatten auf der linken Seite der Koje - erwarten Sie nicht von mir, dass ich Backbord und Steuerbord auseinander halte - die einen Raum von der Laufstange trennte, der genau genug Platz frei ließ, damit ich mich dort hinsetzte. Es wird dort OK sein, sind Sie sicher? Seine Augen begleiteten mich mit einem lächelnden Wohlwollen und einer komischen Neugier zugleich, von der ich nicht weiß, wo sie herkommt - von meinem leichten Gepäck, von meinem billigen Wortspiel? Der Mann hebt ein Netz vom Boden auf, wirft wieder einen überprüfenden Blick auf mich, lächelt mir sanft zu und verschwindet hinter der Koje.

Was ist aus dir geworden? Der Mann und der Alte setzen ihre Unterhaltung fort im hinteren Teil des Boots, begleitet vom ununterbrochenem Lärm des Motors und vom arhythmischen Krachen des Rumpfs. Alle Dinge nehmen ihren unbekümmerten Lauf wieder ein. Der Schatten tut mir gut und die Koje ist eine ausgezeichnete Lehne. Meine Arme ruhen sich von der Sonne aus, ruhen auf meinen Knien, die ich bis an den Oberkörper gezogen habe. Meine Füße sind eingeklemmt, die Fersen eingewurzelt auf dem Deck, die Sohlen hoch geklettert am Geländer: Ich freue mich auch, jetzt einen neuen Standpunkt zu haben. Jetzt spielt der Horizont, er verschwindet und taucht wieder auf, folgt dabei dem Lauf des Boots. Auch die Möwen sind nur sporadisch meinem Blick zugänglich, und es ist eine neue Freude, ihr stilles Schweben wieder zu entdecken, wenn der Horizont zur Neige geht. Mein Leinenrucksack ist mir ein günstiges Kissen, und die Spuren des Netzes verwischen allmählich wieder.

Was ist aus dir geworden? Ich schließe die Augen, ergriffen vom frischen Schaukeln des Ortes. Ich schlafe erneut ein. Hinten haben die beiden aufgehört, sich zu unterhalten. Dabei sieht es aber nicht so aus, als würde das Bootfahren eine besondere Konzentration erfordern. Kein einziges anderes Geräusch. Nur das ruhige Hin und Her des Geräuschpegels, das dem Lauf der Armor folgt. Ich denke wieder an die Wiege der Kindheit. Ohne dass es mich überrascht, spüre ich, wie jemand seine Hand auf meine Schulter legt. Vielleicht ist sie für mich in dem Moment die meiner Mutter. Aber mein Kleiner, siehst du nicht, dass sie schläft? Zu manchen Zeitpunkten gleitet alles an uns vorbei, was wir sonst als einen Angriff oder ein unheimliches Ereignis wahrnehmen würden, als würde unsere Existenz uns für ihre unvorhersehbarsten Veränderungen unabkömmlich machen. Ich empfange diese Hand wie den Kuß einer Frau kurz vor dem Erwachen, wie in einer entstehenden Musik der natürliche Ausdruck unserer Träume erklingen kann. Ich öffne langsam die Augen zum Gesicht des Manns mit den Netzen. Seine Hand auf meiner linken Schulter. Mein Körper ist etwas kühler geworden im sanften Schatten. Monsieur. Dasselbe wohlwollende und aufmerksame Lächeln. Ja. Du bist Marc.

Was ist aus dir geworden? Eine Zeit lang denke ich Mein Reisepaß. Diese Reflexe - der Verdacht. Vielleicht habe ich wieder geschlafen? Ich habe jedoch keine Angst, ich lächle immer noch. Ich stelle mir nur diesen Verlust vor, den Verlust meiner fantomatischen Macht. Meiner Unbeständigkeit. Komischerweise kommt mir mein seliger Zustand nicht abhanden. Ich muß sogar etwas dumm aussehen. Dieser Mann hat definitiv nichts erschreckendes. Er ist voller Freundschaft, und trotz dieses Gedankens, den ich nicht los werde - er hat die Gelegenheit meiner ruhig- glücklichen Lethargie genutzt, um mir meinen Paß zu klauen - schenke ich ihm weiterhin Vertrauen. Sein Gesicht beruhigt mich, eines dieser Gesichter, denen man nur einmal begegnen braucht, um etwas Bekanntes in ihnen zu entdecken. Ein Studienkamerad wirkte ähnlich auf mich. Er hatte vielleicht einen regeren Blick. Aber dieses Lächeln. Badr.

Was ist aus dir geworden? Ich spüre meinen Reisepaß in der hinteren Tasche der Jeans, die ich gestern gekauft habe, um meine alte Hose zu ersetzen; den Altkleidersammler, dem ich sie gegeben habe, hat sie überglücklich gemacht. Ich fühle, wie mein Grenzenbegleiter sich noch mehr an meine linke Hinterbacke schmiegt, gedrückt von meinem Gewicht auf dem Deckboden. Ich muß daran denken, ihn in die andere Tasche zu stecken damit er nicht seine Spur hinterläßt, wie bei diesen Kühen, denen man die Identität auf dem Hintern druckt. Marc. Badr? Jetzt lacht er regelrecht. Bestimmt wegen meines überraschten Gesichts. Badr? Jetzt schlafe ich gar nicht mehr. Dieses Lachen. Vor mir, einige Zentimeter entfernt, steht der glückliche Fischer, der Netze ausbessert, und er heißt Badr, wie der Studienkamerad, der neben mir in Jura saß. Wie derjenige, der mich mit Lydia bekannt gemacht hatte. Badr. Er lacht noch mehr. Ich habe mich immer noch nicht bewegt, immer noch halb liegend, eingeklemmt zwischen der Koje und dem Geländer. Seine Hand verankert mich am Boden, greift nach mir ab und an, um mich aus meinem Erstaunen zu reißen. Ich träume nicht.

Was ist aus dir geworden? Sein Lachen tritt wieder zurück vor dem amüsierten Lächeln. Er läßt meine Schulter los, setzt sich in die Sonne, mir gegenüber, lehnt sich an das Geländer. Ich betrachte ihn, suche nach seinen Gesichtszügen auf seinem gealterten Kopf. Ich bin immer noch etwas abgestumpft von der Sonne, von dem Schlaf, von was noch? Ich bemerke, dass ich nichts anderes gesagt habe als Badr. Was soll ich sagen? Ich merke erleichtert, dass er sprechen will. Er beugt sich, um sich mir zu nähern. Er reibt seine Hände. Seine Fingernägel sind schwarz. Wegen der Algen nehme ich an.

Was ist aus dir geworden? Ich weiß es nicht, aber wie ist es bei dir? Du bist also hier geblieben. Aber warum? Sieht er, wie meine blöden Augen ihn anschauen, wie sie seine Fischerhände, seine Lumpen, sein durch tote Zähne durchlöchertes Lächeln anstarren? In seinen Augen lese ich einen resignierten Sanftmut. Ja. Und ich, warum bin ich hier, warum frage ich mich das nicht? Warum bringt ihn meine Dummheit nicht zur Verzweiflung? Keine Verbitterung in seiner Stimme. Es ist schön, dich wieder zu sehen. Ja. Ich erinnere mich an seine ernste Miene im ersten Semester. Wir haben ihn ein bißchen ausgelacht. Ich erinnere mich an seinen Gang, an unsere jugendlichen Läufe in den gepflasterten Gassen. Ich komme zurück zu diesen Nächten, in denen wir im Park schliefen, nachdem die letzte Kneipe zugemacht hatte. Wir mußten unter den eisernen Vorhang kriechen, der zur gesetzlich vorgeschriebenen Zeit runtergelassen wurde. Manchmal liefen wir die ganze Nacht, spielten dabei, um uns in irgend einem Busch oder einer Bahnunterführung gegenseitig zu erschrecken. Und ich sehe ihn auf diesem leidenden Boot. Und dann? Dann bin ich zurückgekommen und habe geheiratet. Er befreit seinen Ring von den kleinen schwarzen Fäden. Die Frau, die dazu bestimmt war, vielleicht wußtest du nicht, dass ich verlobt war? Er lächelt weiter, seine Augen in meinen. Ich habe angefangen zu arbeiten. Er wirft einen Blick auf das alte Schiff. Der Alte ist ein Cousin meines Vaters. Ich erinnere mich an einen kleinen Mann, der ihn eines Abends nach den Vorlesungen abgeholt hatte; sie hatten sich umarmt und waren zusammen die Straße runtergelaufen. Wann hat mir mein Vater zum letzten Mal die Hand gegeben? Ich lächelte ihm zu mit einem leichten Seufzen. Der Alte suchte nach jemandem, um seinen Sohn zu ersetzen, der in den Norden gegangen war. Und dein Abschluß? Ich war damit einverstanden, mit ihm zusammen zu arbeiten, es ist schön, ich habe Glück gehabt.

Was ist aus dir geworden? Hast du Kinder? Eine Tochter und einen Jungen, nein ich bin mir nicht sicher, dass sie in die Schule gehen, sie wohnen bei ihrer Mutter in der Stadt, sie arbeitet in der Konservenfabrik weißt du? Ja genau, ein langes Gebäude, niedrig und weiß, entlang der kleinen Straße an der Küste, auf beiden Seiten, ein guter Job. Aber es ist sehr weit weg. Es ist weit weg, ich sehe sie nicht oft, aber der Alte ist nett, er gibt mir etwa drei Tage im Monat frei und dann kann ich sie besuchen, sie wachsen schnell auf. Ich bin ergriffen von Badrs Präsenz. Er sitzt da, versunken im Licht des sinkenden Nachmittags, taucht immer wieder unter die Horizontlinie in die See nach dem Laufrythmus der Armor. Das Holz kracht weiter, der Motor krächzt, das Wasser. Was witzig ist, weißt du. Jetzt starrt er seine rechte Hand an, die mit dem Ehering spielt. Die Sardinen, die wir morgen fischen werden, die gehen dann mit Lkws voller Eis, von dem Eis, das wir in den Laderaum reingeschaufelt haben, direkt zum Laufband in der Fabrik und die Miriem wird ihnen den Kopf abhacken und sie von den Eingeweiden befreien und sie in Konserven packen und bringt sie abends vielleicht zu den Kindern. Das Meer scheint heiß zu sein, ich kann nicht umhin, die Augen zu Schlitzen zu schließen, sobald es in mein Blickfeld gerät. Wenn ich zurückkomme nach fünf Tagen zu See, bringen mich diese Lkws immer zur Ruhe, die Fahrer kennen mich, sie wissen und sie winken mir oft zu beim Abfahren und ich gehe ruhig zu Bett, das Rollen des Schiffs verläßt mich nicht mehr und wiegt mich in den Schlaf.

Was ist aus dir geworden? Du schweigst. Du starrst die Netze hinten an, die Bojen, die Möwen. Ich stelle mir vor, dass der Junge am Steuer sich wundert, dich mit einem Geist reden zu sehen. Dann kann man sich genau so gut dem Wind anvertrauen. Ich erinnere mich auch an den Tag, an dem du gegangen bist. Wir hatten ein schönes und dummes Fest organisiert, um den Abschluß zu feiern. Wir hatten getrunken, geschrien, ziemlich viel Blödsinn erzählt. Wir hatten durchgemacht. Am Morgen mußtest du weg. Wir fuhren dich in der Ente von Lydia. Ich saß am Steuer. Nicht so ganz fit. Wir fuhren den Wellen von Leuten aus den Vororten entgegen. Dann der Flughafen, ganz hell erleuchtet und ganz leer. Hallen, geschlossene Geschäfte, Flure. Ein Café hatte auf. Hostessen und Bodenpersonal. Kaffee. Die Nacht war wieder eingebrochen. Durch die Fenster hindurch die Flugpiste mit ihren Lichtern, die wir schlecht von dem Spiegelbild des Cafés und seiner Beleuchtung unterscheiden konnten. Der Kontrolltower in der Ferne und seine unerschütterliche Uhr waren mit einem Nimbus von grellen Planeten, von unheimlichen Konstellationen umgeben. Der Tag wollte aufkommen. Du verließt uns. Während unserer müden und zähen Heimfahrt sagten wir nicht viel. Das Licht wuchs, verschleiert mit großen Wolken. Ich spürte meine rauhe Zunge und den Geschmack des Kaffees. Wir bedauerten nur, dich nicht besser empfangen zu haben. Du kanntest unsere Familien nicht. Fürs nächste Mal. Du versprachst wieder zu kommen.

Was ist aus dir geworden? Ich fasse es nicht. Das bist du Badr, mit deinem alt gewordenen Gesicht, das sich auf diesem unwahrscheinlichen Himmel abzeichnet, auf diesem himmlischen Himmel muß ich sagen, das bist du, mitten in diesem Gewirr von Wasser, Öl. Holz, Stille, unter dem gierigen Blick der stummen Möwen, in dieser kurzen Reise, die bereits so vielen anderen folgt, du bist derjenige, der mich zurück zum Leben bringt, zu meinem geheimnislosen Beruf, zu meiner Familie, zu Lydia. Was aus mir wird, Badr? Aber gar nichts, witzig, dass du mir diese Frage stellst, seit einiger Zeit will ich eben nichts anderes als werden. Ist er von meinem verlorenen Blick erschrocken? Von meinem plötzlichen Wortschwall? Von meinem starren Lächeln? Ich kann nichts anderes als eine fremde Sänfte in seinen Augen entdecken. Aber was wird aus mir? Was werde ich Badr? Keine Ahnung, das habe ich mich nie gefragt, nichts denke ich, witzig, ich will mich in nichts verändern. Er verzeiht mir meine plötzliche Aufwallung, meine nervöse Begeisterung, mein fieberhaftes Lachen, ich merke es. Ich werde zu einem Geist, einer Rauchwand, auf der ein Schauspiel von entfalteten Landschaften, von Figuren und Gesichtern sich ununterbrochen abspielt. Aber Badrs Gesicht vermischt sich nicht mit meinen anderen Gesichtern, sein Körper, den ich zu schnell aufgegriffen habe, meine ich, hat eine andere Konsistenz. Er ist mir nicht fremd. Badr.

Was ist aus dir geworden? Urplötzlich ist er weggegangen, das habe ich nicht kommen sehen. Ich war da, habe geredet, gedacht. Er hörte mir brav zu. Ich war in meinen Träumen, meine Augen fest verankert in den seinen. Das Boot schwankte weiter. Und sein Lachen, auf eine so mächtige, rasche Weise, dass ich die Möwen ausweichen sah, dass ich spürte, wie der junge -Steuermann hinter mir auffuhr, sein Lachen schlitzte sein von der senkenden Sonne in Flammen gesetztes Gesicht auf. Sein ganzer Körper unter meiner Hand war gewaltig erschüttert, gekrümmt wegen dieses berstenden Lachens, sobald seine Augen ihm meine überraschte Miene offenbarten. Er sieht mich erneut an, und ich verfolge ihn mit den Augen, während er sich zu Boden wirft auf die Seite, während er bis zum Netz rollt und seinen Bauch hält. Dieses Lachen. Ich erinnere mich an diesen Abend vor dem Theater. Ihr hattet die Karten schon gekauft, ich hatte Bescheid gesagt, dass ich später kommen würde. Eine Ansammlung von Leuten oben auf den Treppen. Das spitze Lachen von Lydia, ganz rot im Gesicht, wegen der Kälte, der Peinlichkeit und der Freude, und Badr auf dem Boden, der sich krumm lacht. Die Gesichter der aufgeputzten Leute vor eurer krummen Bewegungen. Meins muß einen ähnlichen Ausdruck gezeigt haben wie dasjenige der Spießer, die sich vor dem Leben erschrecken. Badr. Und ich lache. Wie lange schon habe ich nicht mehr gelacht? Na ja, ich habe gelächelt, natürlich. Ich habe nichts anderes gemacht als das, lächeln, so viele Lächeln wie begegnete Leute, dieses kalte blasierte Lächeln habe ich verteilt wie man Almosen gibt, oder auch Wechselgeld. Badr. Wir fallen einander in die Arme. Beim Rollen sehe ich manchmal die Beine, die hängenden Arme den Körper und die perplexen Blicke des Jungen und des Alten. Und unser Lachen verschwindet im sanften Abend.

Was ist aus dir geworden? Ich gehe jetzt Badr, laß es dir gut gehen. Adieu. Letztes Klopfen auf die Schultern. Ich werde über das Geländer klettern und in das kleine Rettungsboot springen. Schon am frühen Morgen werden wir das Land gesehen haben, diese winzige Insel ganz nah, die Badr immer unzugänglich bleiben wird. Adieu. Die Armor wird sich entfernen mit ihrem Möwenzug, ihrem Motorgeräusch und Holzkrachen. Kein einziges Mal war Badr bitter gewesen sein, kein einziges Mal hat er mir Fragen gestellt, kein einziges mal Lydia erwähnt. Wir werden einen schönen Abend mit dem Kind und dem Cousin seines Vaters verbracht haben.

Straßburg, November 2002

Pierre Drouot: lizierre@wanadoo.fr
Marina Barré: marinabarre@gmx.de
Anne Stoll: awstoll@uni-bonn.de

 

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