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Nummer 2 - Territorium

 

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"Liebe den Geschmack des Whiskys auf meinen Lippen wie ich den Glanz der Verrücktheit in deinen Augen liebe …"

Ein Besuch
Text und Übersetzung: Alban Lefranc

Ich habe sie heute morgen wiedergesehen. In einem bestimmten Augenblick, nach um zehn, sagen wir mal zwischen zehn und zwölf, hat sie wirklich an meiner Tür geklingelt. Tatsächlich geklingelt. Vorher - das unzählbare Läuten vor diesem Augenblick - sie war es nicht ganz.
Ich habe gewusst, komischerweise habe ich sofort verstanden. Ohne es mir zu überlegen. Als sie das letzte Mal geklingelt hat, habe ich gewusst, dass es das Richtige war. Dass sie wirklich da war, hinter der Tür. Und ich auch, ich bin wirklich zur Tür gegangen, um ihr aufzumachen. Ohne nur so zu tun, wie bei allen früheren Malen. Am letzten Mal zwischen zehn und zwölf - und das richtige also - habe ich meinen kleinen Sessel neben dem Fenster verlassen. Dieser kurze Impuls in den Schenkeln und am Ende der Füße: ich dachte, ich würde das nie wieder empfinden. Diese Begeisterung. Diesen Appetit auf Leben. Und dass ich mich von meinem kleinen bevorzugten Flecken an der Wand neben der Lampe, herausreißen könnte.

Ich bin trotzdem am Badezimmer vorbeigegangen. Das war bekannt billig-beschissen-heruntergeleiert. Aber es war in Anfang. Mindestens. Das Treffen würde mindestens so einen Anfang haben. Ich glaube, alle Anfänge sind unwahrscheinlich. Ich glaube, alle Anfänge sind wie vier Sätze früher. Dann besser den, der einfach ist. Um sich nachher besser daran zu erinnern, um wiederzufinden, um den unendlichen Stoff rühren zu können. Die Hand in den Haaren frisiert man sich, schaut man sich an, bemerkt man ein bisschen Schweiß in den Handflächen.
Dazu gibt es noch die Augen. Das ist der Vorteil dieses Anfangs, auch wenn er bekannt usw. ist. Wegen der Augen, wo ich zweimal bin. Von einer Seite, wo ich sie fühle, und von der anderen, wo ich sichtbar bin. Mit diesem Anfang, wenn sie wirklich kommt, prüfe ich es. Dass ich es kann, trotz der Bewährungsprobe der zwei Seiten (derjenigen, durch die ich fühle, und der anderen, wo ich sichtbar bin), dass ich weitermachen kann. Noch. Als ob. Obwohl eigentlich.

Sie hatte sich seit ihrem letzten Besuch hier gar nicht geändert. Sie hatte die gleichen durch mich durch schauenden ruhigen Augen, die nie zuckten. Sie trug ein leichtes kariertes Kleid. Ich konnte hinter ihr die Treppe erblicken, meine kalte und klaffende Freundin. Wie viele Nachmittage hatte ich verbracht, ihre Tiefe zu erforschen, das Hin und Her zu erspähen, bevor ich den Flecken an der Wand neben der Lampe kennerlernte. Dem spritzig grünen auf fünfzig Zentimeter Höhe an den Wänden entlang laufenden Rand zu folgen, diesem hartnäckigen Rand, der mit Stolz schrecklich war, der den Augen sagte, die ihn noch ansahen: "Außer das Haus bricht zusammen werde ich immer da sein, auch nach Ihnen." Christine war auch wirklich da. Ihr Lächeln war auch wirklich. Kein Ausweg: ich war dran; ich konnte nichts machen.

Dessen bin ich mir sicher, mindestens dessen: ich habe kein Wort gesagt. Ich habe mich beiseite gestellt, um sie rein zu lassen. Und das war's. Ohne meine Stimme zu hören, außer in mir selbst. Die Tür, die ich aufdrückte, um sie rein zu lassen, klammerte sich an mich, an meine Nieren.
Sie im Raum. Sie bleibt neben dem Schreibtisch stehen, dreht sich um, ihre Augen sehr nahe an meinen, jede Distanz verleugnend wartet sie auf mich; ich komme auf sie zu. Ich lächle.

Plötzlich gibt es viel Licht, der Raum im Zimmer vergrößert sich. Der Tag kommt mit Fluten durch das Fenster herein. Es ist auch die Stille, die sich um uns herum erweitert. Uns umhüllt, sich erweitert. Ohne sie zu sehen, fühle ich die harte Anwesenheit der weißen Wände, blinde Handflächen die nichts verkleinern, sondern uns in der Vergrößerung des Ortes bestätigen, noch einmal zusammen zwischen denselben Wänden. Die Arme entlang dem Körper, schwer, stehe ich ihr gegenüber. Das Zimmer ist lang, das Zimmer wackelt in der Hitze. In mir fühle ich nur wenig Willen, ich bin aus mir selbst ausgezogen, Spielzeug gegensätzlicher Kräfte, trotz alledem noch stehend. Sie ist für mich da, sie ist für mich gekommen. Ich weiß sie hier, mehr als ich sie sehe. Schweiß breitet sich hinten an meinem Rücken aus.

Ich lächle ihr zu ich schaue sie an, aber falsch. Wie vor kurzem bei diesen Malen als ob, bei diesen Malen vor dem letzten als ich nicht wirklich zur Tür ging, um ihr aufzumachen, als ich weder meinen Sessel, noch meinen Flecken an der Wand neben der Lampe verließ. Und jetzt, dass es das letzte Mal, und auch das Richtige ist, und sie im Zimmer, das geht nicht. Das reicht nicht. Das kann nicht reichen. Ihrem Lächeln gegenüber, das das Zimmer völlig ausfüllt, muss ich den Kopf abwenden. Die einzige wahre Sache, die ich machen kann, ist, den Kopf abzuwenden. Von der Falschheit meines Lächelns erschrocken, komme ich zum Wahren zurück, indem ich mich von ihr abwende.

Ich strenge mich an, an ein anderes Lächeln zu denken, ich konzentriere mich, unbeweglich und schwer und ihr gegenüber, ein für mich mögliches und für sie wahres Lächeln, ein Lächeln für uns beide im gleichen Augenblick.

Im Zimmer, solange meine Konzentration andauerte, bewegte sie sich normal. Vielleicht hatte sie mich auch vergessen, ich und meinen wer weiß wohin abgewandten Kopf. Ich beobachte sie ein bisschen. Vielleicht nicht. Ich fühlte sie - da ich sie im Zimmer so gut kannte. Ich mag vielleicht gesagt haben, dass es nicht das erste Mal war, dass sie kam, gleich als ich mich daran erinnert hatte. Ich fühlte, wie sie zum Fenster ging, sich die Hände im Badezimmer wusch, ein geöffnetes Buch auf dem Schreibtisch durchblätterte. Das mehrmals. Letzte Woche hatte ich darauf bestanden: dass sie in der Kommode meine Wäsche anschaut, langsam. Socken, Unterhosen, das hat sie diesmal nicht vergessen. Und den Rest. Sie findet immer die Details, dank derer sie weder ganz die selbe, noch eine andere ist. Dank derer sie mich liebt und mich versteht. Mich verstehen und ausmachen: sie, und das Zimmer, und jedes Mal wenn sie kommt.

Dieses neue Spiel mit der vergoldeten Klinke des Badezimmers zum Beispiel. Herrliche Erfindung.
Sie geht mit großen Schritten auf die Tür zu, sie ist sehr aufrecht, sehr hart in den Schultern, mit geschlossenem Gesicht, sie kommuniziert nicht mehr; in diesem Augenblick fallen mir ihre undurchsichtigen Züge auf.
Sie ergreift die Klinke, von der sie weiß, dass sie schlecht fixiert ist, brutal. Ihre absichtlich zu schnelle Hand reißt die Klinke heraus. Sie weiß, man muss sie halten, wenn man nicht vor der geschlossenen Tür stehen will. Heute macht sie das Ganze kaputt, als ob sie zum ersten mal die Schwäche des Mechanismus entdecken würde.
Der heruntergeschluckte Fluch darüber: es war ihr Meisterwerk heute für dieses Mal zwischen zehn und zwölf, als sie wirklich da war. Machtlose Wut vor der geschlossenen Tür. Einen Schraubenzieher! Sie öffnet Schubladen, wirft Bücherstapel um, bewegt sich, schüttelt sich. Mit den zornigsten Falten der Lippen spielt sie die verlorene Zeit, sie spielt die verpasste U-Bahn, Paul hat die Kneipe verlassen wenn sie außer Atem ankommt, und dieser Vortrag in Germanistik, den sie seit Wochen vorbereitet, sie stößt sich an den wenigen Möbeln im Zimmer, sie spielt alle zusammen empfundenen Verspätungen, und alle noch einmal einzeln, eine Verspätung nach der anderen entstellt ihr Gesicht, die Nervosität zerbröckelt ihre Geste, ein schrecklich enthaltener Schrei läuft über ihre Schenkel. Ich schaue sie an, unbeweglich und schwer, ich habe mein Lächeln beiseite gestellt.
Die Ironie betritt endlich die Bühne. Auf ihren Gesichtszügen der Weg in die überhängende Ironie. Ihr Gesicht sagt: Aber was für eine Dummheit ist diese ganze Bewegung. Das ist ein Witz.-, Sich in so einen Zustand zu bringen. Das gibt es nicht. Ihr Gesicht lacht. Ihr Gesicht triumphiert. Warum hier nicht alles kaputt machen sagen ihre Augen. Die Klinke wieder sorgfältig angeschraubt. Der ständige Blick auf die Uhr.
Sie wiederholt das Ganze mehrmals: Brutalität, ausgerissene Klinke, Wut, Suche nach dem Schraubenzieher, Ironie, wiederangeschraubte Klinke. Damit ich meinerseits auch. Wie im Leben draußen. Wenn sie nicht mehr da ist. Mit Varianten. Bis sie zurückkommt.


Bonn, 1999

In einer früheren Fassung erschien dieser Text im April 2001 unter dem Pseudonym Georges Malone in Nummer 8 von Ragtime (http://www.ifrance.com/ragtime/numero8.htm)

Alban Lefranc: alban.lefranc@voila.fr

 

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