No 6 - Mon Corps / Mein Körper
 
Der Körper in Pynchons Roman "V."
Frederik Hartig
Vortrag, gehalten am 21.09.04 zur Lesungs-Ausstellungs-Vortrags-Film-Reihe "Mein Körper" in der Blitzgalerie.

Benny Profane, Schlemihl und menschliches Jojo von der ersten Zeile an, verbringt sein Leben damit, Amerikas Ostküste entlang zu pilgern und hier und da einen Gelegenheitsjob anzunehmen. Schließlich kommt er nach New York und arbeitet dort als Alligatorenjäger in der Kanalisation, später als Nachtwächter im "Anthropobiologischen Institut". Im vorletzten Kapitel des Buches - und bis dahin ist wirklich eine Menge geschehen - wird er gefragt, was er aus dem Ganzen gelernt habe: Profane musste nicht lange nachdenken. "Nein", sagte er, "ich kann ganz schlicht und einfach sagen: ich habe nicht die geringste Kleinigkeit gelernt." (488) Das Ignorieren von Irritationen sorgt für Stabilität und Konstanz, allerdings um den Preis eines Lebens in Passivität: Man handelt nicht, sondern es geschieht.
Ganz anders Herbert Stencil: Dieser bekommt von seinem Vater, der als Spion für das englische foreign office arbeitete, nach dessen Tod Aufzeichnungen, in denen immer wieder von einer oder einem rätselhaften V. die Rede ist. Herbert Stencil macht es sich zur Aufgabe, herauszubekommen, wer (oder was) dieses V. ist. Dabei entwickelt er eine starke Sensibilität für alle Namen, die mit dem Buchstaben V beginnen, und davon gibt es in diesem Buch reichlich. Zum Beispiel: die Hauptstadt von Malta La Valetta, Venezuela, die Venus von Botticelli, die afrikanische Stadt Vheissu, die Vergeltungswaffe Nr. 2, eine Kanalratte namens Veronica, die Kneipe V-Note. Besondere Aufmerksamkeit jedoch genießt eine Frau: Victoria Wren, alias Vera Meroving, alias Veronica Manganese, alias der böse Priester. Die Vehemenz aber, mit der Stencil die einzelnen V.'s zu einem großen Ganzen, zu einer großen, alles umfassenden Verschwörung zu verknüpfen sucht, nimmt deutlich die Züge von Paranoia an.
Zwei Formen im Umgang mit Komplexität: Profane erkennt die Welt als chaotisch an, er macht seine Unfähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen zur Tugend, er kokettiert mit ihr: Ich bin ein Schlemihl! Stencil hingegen versucht Komplexität zu reduzieren, indem er nach dem Muster V. gehört zu V. Zusammenhänge aufstellt und das Chaos ordnet. Da der Roman V. das Schema eines Verschwörungs- und Spionageromans aufnimmt, wird ein Leser mit gewöhnlicher Lesesozialisation denselben Weg gehen, den Herbert Stencil geht. Aber: Gibt es Ordnung hinter dem Chaos, eine Ordnung, die genuin vorhanden ist, ein Plot, der zu rekonstruieren wäre? Es gilt: Welt ist Totalität, der Text selbst ist in der Welt, er erzeugt eine eigene Welt, die zwar auch total ist, aber im Gegensatz zu der uns umgebenden Welt, der Welt aller Sinne, einen Ausschnitt darstellt. Dieser Ausschnitt wird von einer Person gewählt, die man Autor nennt, und man nimmt an, der Ausschnitt ist sinnvoll, und nach Gesichtspunkten ausgewählt, die man als Strukturen begreifen kann. Der Leser wird Stencils Recherche mitverfolgen, zumal er verleitet wird zu glauben, er könne Dinge sehen, die Stencil verborgen bleiben, die ihm, dem Leser als Supervisor aber die Möglichkeit geben, den großen Zusammenhang zu erkennen. Das wäre ein klassisches Schema. Glücklicherweise kann ein fiktionaler Text nicht lügen, es gibt nichts mehr hinter dem Erzähler, nichts was wirklicher wäre als die erzählte Welt. (Gut, es kann Inkonsistenzen in der erzählten Welt geben, Inkonsistenzen, die uns etwas über den Erzähler erzählen. Aber zu mehr als zur Erzählwelt und zur erzählten Welt haben wir niemals einen Zugang.) Doch ein Text kann verschweigen, er kann verschweigen, wer erzählt. Wir wissen, wie Herbert Stencil Informationen verarbeitet: Stencil hörte aufmerksam zu. Die Geschichte selbst und die Fragen danach nahmen nicht mehr als dreißig Minuten in Anspruch. Doch am folgenden Mittwochnachmittag in Eigenvalues Büro, als er die Geschichte wiedererzählte, hatte sie sich beträchtlich verändert: hatte sich, wie Eigenvalue es nannte, stencilisiert. (241) Im darauf folgenden Kapitel lesen wir eine Episode, die 1922 in Deutsch-Südwest-Afrika situiert ist. Aber wer erzählt sie? Es gibt eine Person, von der Stencil diese Episode kennt, Stencil erzählt die Episode dem Psychozahnarzt Eigenvalue, stencilisiert wie wir wissen. Aber welche Fassung lesen wir? Das Geschehene? Den ersten Bericht, oder Stencils Fassung? Ein Doppelpunkt hätte genügt, aber dieses Geschenk macht uns der Erzähler nicht. Nicht umsonst ist die Rolle des Erzählers in Pynchons Romanen ein bevorzugtes Forschungsthema für Literaturwissenschaftler, die sich mit dem Pynchon-Universum beschäftigen. Gleiches gilt übrigens auch für das Thema Paranoia.
Im Kapitel 11 ist die Erzählperspektive relativ eindeutig: Herbert Stencil liest das Tagebuch des maltesischen Schriftstellers Fausto Mijstral und wir lesen es mit ihm. (Oder wurde es bereits stencilisiert?) Mijstral beichtet eine Unterlassungssünde, er hatte bei der Ermordung des bösen Priesters tatenlos zugesehen. Einige Kinder, darunter die Tochter Mijstrals finden den bösen Priester, durch einen Bombenangriff verschüttet, noch lebend unter einem Balken eingeklemmt, und nehmen ihm seine Kleidung und Wertsachen ab. Als sie einen Saphir aus seinem Bauchnabel mit Hilfe eines Bajonetts entfernen, verwunden sie ihn tödlich. Indem die Kinder den bösen Priester demontieren, legen sie seine verschiedenen Identitäten frei. Unter dem schwarzen Hut (das Zeichen für seine böse Priesterschaft) finden die Kinder langes Haar, der Priester ist eine Frau. In dem Haar befindet sich ein Elfenbeinkamm (das Erkennungszeichen von Victoria Wren und Veronica Manganese), aber das Haar ist eine Perücke (der Verweis auf die Weiblichkeit ist also eine Fälschung). Hier an dieser Stelle werden verschiedene weibliche V.`s zusammengeführt. Jedes Detail, das die Kinder am Körper des Priesters freilegen, rekurriert auf eine Identität von V. und der damit verbundenen Episode: So führt das Glasauge mit der Iris in Form einer Uhr zu Vera Merowing, in das neunte Kapitel, nach Deutsch-Südwest-Afrika im Jahre 1922; ein künstlicher Fuß weist voraus in den Epilog usw. Dem Körper wird seine Geschichte eingeprägt und diese Geschichte zieht ihre Linien durch den Text. Aus welcher Sicht die einzelnen Kapitel auch erzählt werden: Indem hier die über den Text verstreuten Details zusammenfinden, wird die Existenz der Kapitel sinnvoll. Dies ist möglich, weil der Körper als Zeichen gelesen werden kann.
Und das kann er auch außerhalb der Textebene: Wenn sich Esther Harvitz in Kapitel 4 eine neue Nase verpassen lässt, dann liegt der Grund nicht darin, dass ihr persönlich Stupsnasen eher zusagen. Stupsnasen sind das Erkennungszeichen der weißen angelsächsischen protestantischen Bevölkerung Nordamerikas, wie sie in Filmen und Heiratsgesuchen dargestellt wird. Hakennasen hingegen verweisen auf jüdische Herkunft. Sollte man die Zeichen der Gruppe, zu der man sich hingezogen fühlt, nicht von Natur aus tragen, wird eben chirurgisch nachgeholfen, das Zeichen ist wichtiger als sein Bezugsobjekt. Die Herrschaft über den eigenen Körper zeigt sich in der Herrschaft über dessen Zeichen und, fast schon ad absurdum geführt, an der Auswechselbarkeit seiner Teile: Ich hätte so gern einen Fuß: aus Bernstein und Gold, sagt Veronika Manganese. Wie ermüdend, immer dieselben Füße haben zu müssen: man kann nur die Schuhe wechseln. Aber wenn ein Mädchen einen ganzen Schrank voll der verschiedensten Füße haben könnte, mit immer wieder anderer Farbe, Größe und Form... (524) Hakennase und lange blonde Haare sind verständliche Zeichen, sie können gelesen werden - und das ist schließlich der Sinn eines Zeichens. Was aber kommuniziert ein künstlicher Fuß, was ein Glasauge? Welche Referenzen liefert der gesellschaftlich festgelegte Code? Haben wir die Kategorie Schmuck und Schädelkunde nicht längst verlassen? Wer bitte trägt ein Glasauge mit Iris in Form einer Uhr? (Warum eigentlich eine Uhr, warum kein Kompass?) Geht es hier überhaupt noch um Zeichen, oder geht es vielmehr um deren totale Verfügbarkeit?
Der Wunsch Veronikas erfüllt sich in ihrer Identität als böser Priester: Die Kinder ziehen dem Priester mit dem Schuh auch den Fuß aus. Hoch in die Luft flog einer der Pumps und ein Fuß - ein künstlicher Fuß -, beides war als eine Einheit am Bein befestigt gewesen. (369) Fausto Mijstral überlegt, wieweit die Demontage des Priesters führen könnte: Bestimmt konnte man auch ihre Arme und Brüste abnehmen, sicher musste man nur die Haut ihrer Beine abschälen, um ein kompliziertes Gewirr silberner Mechanismen zu finden. Wahrscheinlich enthielt auch der Rumpf selbst andere Wunderwerke: Eingeweide aus bunter Seide, lustige Luftballons als Lungen, ein Rokoko-Herz. (370) Mijstral sieht in dem bösen Priester nicht mehr den geschmückten oder mit Prothesen ausgestatteten Menschen, er interpretiert die Zeichen nach dem bereits angedeutetem Muster: Sie haben keine Bedeutung für sich allein, sondern zusammen kommunizieren sie Künstlichkeit und Fremdheit, grotesk gesteigert zur Ästhetik einer Comicfigur mit Lufballon-Lunge und Rokoko-Herz. Auf der Textebene ist der Körper des bösen Priesters Zeichen, er hält den Text zusammen. Doch wenn wir von einer rein strukturierenden Funktion abrücken, sehen wir, es geht nicht mehr um Kommunikation mittels Zeichen: Indem sämtliche Zeichen freigelegt werden, werden gleichzeitig die einzelnen Zeichen voneinander getrennt, der Körper wird auseinander genommen, der böse Priester stirbt.
Wovon spricht der vermeintlich männliche böse Priester, während er seinen künstlichen Körper unter der Soutane verbirgt? Er sagt, dass der Sinn des Lebens eines Mannes in seiner Schönheit und Seelenlosigkeit einem Kristall gleichen müsse. (366) Seelenlos wie ein Kristall. Nur Gott kann eine Seele schenken. Was der Mensch hingegen schafft, hat keine Seele. Veronika Manganese tut das, was sie als böser Priester predigt. Sie setzt in ihren Körper tote, unbeseelte Materie ein, sie tauscht ihren Körper gegen tote unbeseelte Materie. Die Kluft zwischen Körper und Geist reißt weiter auf, aber der Körper ist nicht mehr der unwichtige, auf der Erde zurückbleibende Teil, während die Seele im besten Fall gen Himmel fährt. Vielmehr heißt es jetzt: Macht euch euren Körper untertan. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs hat die plastische Chirurgie vor allem restaurierende und reproduzierende Funktion: Der Mensch korrigiert, was der Mensch zerstört hat. Mit Veronika Manganese, dem bösen Priester, und auch Esther Harvitz wird die plastische Chirurgie zu einer schöpferischen Kunst: Der Mensch korrigiert, was Gott vermasselt hat. Damit wird der Mensch sein eigenes Geschöpf, ein seelenloses Geschöpf wohlgemerkt.
Doch die vermeintliche Kontrolle über den eigenen Körper ist durchaus gefährdet: Fergus Mixolydian, eine Randfigur, macht es im zweiten Kapitel vor: Ein anderer Zeitvertreib Fergus' war das Fernsehen. Er hatte einen raffinierten Schlaf-Schalter konstruiert, der von zwei Elektroden, die unter der Haut seines Unterarms angebracht waren, gesteuert wurde. Fiel seine Aufnahmefähigkeit unter einen bestimmten Wert, wurde der Hautwiderstand so hoch, dass der Schlafschalter reagierte. Damit war - kommentiert der Erzähler lapidar - Fergus ein Zusatzgerät des Fernsehapparats geworden. (56) Das Fernsehgerät erhält mit Fergus einen weiteren Sensor, es kann die Aufmerksamkeit seines Publikums messen und entsprechend reagieren. Es kann aber auch die Aufmerksamkeit seines Publikums durch die Mattscheibe steuern. Man sieht, worauf es hinausläuft: Die Grenze zwischen Mensch und Maschine ist nicht mehr genau zu bestimmen, die Abhängigkeit zwischen beiden lässt sich nicht mehr als einfache Hierarchie beschreiben, beide bilden gemeinsam ein System.
Kommen wir zum Schluss noch einmal zurück zu Thomas Pynchon, dem Autor des Romans "V.". Dieser tut es nämlich dem soeben erwähnten Fergus Mixolydian gleich, indem er sich mit seinem eigenen Romanwerk verkabelt und mit diesem ein System bildet. Das funktioniert folgendermaßen: Wir wissen nichts über die Vita des Herrn Pynchon, es heißt, er solle in Kalifornien leben. Der Literaturwissenschaftler Matthew Winston weist in seinem Aufsatz "The Quest for Pynchon" (1975) Pynchons Stammbaum bis ins elfte Jahrhundert nach. Über dessen Biographie hingegen vermag der Verfasser nichts Wesentliches beizutragen. Gewiss ist, dass es einen Thomas Pynchon gibt, dem man eine Handvoll Erzählungen und mehrere Romane zuschreibt. Die Bilder, die von Thomas Pynchon bekannt sind, wurden vor mehr als 40 Jahren aufgenommen, oder sie zeigen eine verschwommene Gestalt aus weiter Ferne. Im Klappentext seines letzten Romans "Mason & Dixon" wird der Autor folgendermaßen vorgestellt: Thomas Pynchon ist der Autor von "V.", "Die Versteigerung von No. 49", "Die Enden der Parabel" (1974 mit dem National Book Award ausgezeichnet), "Spätzünder" und "Vineland". In der deutschen Ausgabe von "Die Enden der Parabel" führt ein Hinweis auf weitere Informationen über das Werk des Autors schlicht und ergreifend auf vier leere Seiten. Thomas Pynchon definiert sich nicht durch eine profunde Biographie, durch Tausende von Interviews und eine Kolumne in der New York Times, sondern allein durch sein Werk. Pynchon schafft das Werk und das Werk erschafft Pynchon. Wir allerdings sehen nur das Werk. Klar, es mag einen Thomas Pynchon aus Fleisch und Blut geben, der an einem Tisch in einer kalifornischen Universitätsbibliothek sitzt und an seinem nächsten Roman arbeitet. Aber wer kann das schon wissen. Für uns ist Pynchons Körper allein das Corpus seiner Texte.

Zitiert wurde aus: Thomas Pynchon, V. (dt: Dietrich Stössel u. Wulf Teichmann), Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002 (= 9. Aufl.).
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