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Die Korallen
Frederik Hartig

Wir sitzen im Keller und warten. Über uns geht ein Mann umher, seine Krücken klopfen auf den Boden. Tock. Tock. Dann kommt er uns holen. Um uns herum ist schwarze Nacht. Dann kommt er uns holen, ich weiß es. - Schmitt, du fantasierst, du hast Fieber. Es gibt keinen Mann mit Krücken. Es sind Signale. Sie klopfen und wir klopfen zurück. Sie haben uns nicht aufgegeben. - Lindner, ich kann dich nicht sehen, ich kann die anderen nicht sehen. Seid ihr noch da? - Wir sind noch da. Komm, ich lege meinen Arm um dich, dann kannst du fühlen, dass ich bei dir bin. - Es ist so dunkel, Lindner, ich habe vergessen wo ich bin. - Es ist alles gut, sie wissen, dass wir hier sind. Sie wissen, dass wir am Leben sind, und sie werden uns wieder ans Licht holen. - Kannst du sie nicht anrufen und sagen, sie sollen etwas zu essen mitbringen? Etwas Frisches, einen Apfel oder eine Orange. - Schmitt, hier unten funktionieren die Handys nicht, es gibt keinen Empfang, kein Netz. - Kein Netz? Wir sind durch das Netz gefallen, das sie uns aufgespannt haben. Einfach so durch die Maschen geglitten. Ich habe Angst, das Wasser steht bis zu meinen Knien und es atmet sich so schwer. Ich friere und ich schwitze. Ich weiß nicht was. Und wenn es ein giftiges Spinnennetz war? - Schmitt, du hast Fieber, bleibe ruhig, sei ruhig. Sie werden uns nach oben holen, ans Licht. Dann kannst du viele Äpfel essen. Denk nicht an diesen Ort, denk an etwas Schönes. Du hast mir doch von deinem Urlaub erzählt, auf Mauritius, erinnerst du dich? Denk an diesen Urlaub. - Da hab ich nicht gefroren. Sonja hatte dieses helle Kleid an, und wenn Wolken waren, sind wir auf die andere Seite der Insel gefahren, da war Sonne. Wir haben Litchi-Schnaps getrunken, wir haben uns die Sterne angesehen. Das Kreuz des Südens. Musik. Dann waren wir schnorcheln, Lindner, weißt du was ein Schnorchel ist? Das ist ein Rohr durch das man atmet, wenn man unter Wasser ist. Dann taucht man unter und hält die Luft ganz lange an. Wenn du auftauchst, musst du pusten, dann spritzt das Wasser aus dem Schnorchel, wie bei einem Wal, und du kannst Luft holen. Wir haben Korallen gesehen, riesige Korallenbänke, das Wasser war warm, ganz warm, es war wie schweben. Überall gab es kleine Fische in bunten Farben. Lindner, bist du noch da? Ich will dir Korallen zeigen, ich habe welche mitgebracht, warte, ich zeig sie dir. - Schmitt, bleib sitzen, hier unten kannst du mir nichts zeigen, es ist zu dunkel. Hörst du es klopfen? Sie sind schon ganz nah. - Und dann kommen sie und holen uns? - Ja, dann kannst du Äpfel essen, so viele du willst. - Aber wohin holen sie uns, werden sie uns wehtun? - Schmitt, hab keine Angst, sie befreien uns, sie bohren sich durch die Steine und machen ein Loch bis zu uns. Es ist bald vorbei. Bleib ruhig, wir haben es bald geschafft. Erzähl mir weiter von Mauritius. - Hab ich dir von Sonja erzählt? Wir sind mit dem Bus gefahren, und der Fahrer hat vergessen uns Bescheid zu sagen, wo wir aussteigen sollen, und da sind wir immer weiter gefahren, immer weiter. Sonja saß neben mir, mit dem hellen Kleid. Es klopft, da stampft einer mit seiner Krücke auf den Boden und sagt mit blasser Stimme: Gleich hole ich euch, gleich hole ich euch. Weiß Sonja, dass ich hier bin, Sonja, wir waren unter Wasser, du und ich, die Korallen haben geleuchtet im Wasser. Alles hat so geflimmert, blau und grün, und dazu die roten Korallen. Sonja, geh nicht weg, du musst mich wärmen, ich kann dein Kleid nicht sehen, sag mir, bin ich blind, habe ich noch Augen? - Ich bin es Lindner. Sonja ist nicht hier, ihr geht es gut. Du wirst bald wieder bei ihr sein. Bestimmt zieht sie wieder ihr helles Kleid an. Sie ist lieb, sie wird dich in den Arm nehmen und festhalten. - Überall Wasser, meine Füße sind nass, meine Knie sind nass, das Wasser steigt bis zu meinen Kopf, und ich kann nicht mehr atmen. Es ist so nass und so warm und so kalt. Das Wasser auf Mauritius war blau und grün. Lindner, sag Sonja, ich will kein dunkles Wasser, aber die Korallen sind gefährlich, sie sind ganz scharf und spitz, keine Bänke, sondern Riffe. Schiffe gehen kaputt, du kannst dich daran schneiden, Sonja, du musst aufpassen, schwimm nicht zu dicht heran. Hörst du die Schiffsschraube? Tock Tock. Sonja, ich habe Hunger und Durst, ich will mich hinlegen, aber hier ist überall so nass. Wenn ich einschlafe, läuft das Wasser über meinen Kopf. - Schmitt, es ist bald vorbei. Nur noch wenige Stunden, dann sind sie bei uns. Du hörst doch, das Klopfen ist lauter geworden. Sie sind schon ganz nah bei uns. Das Wasser steigt schon seit zwei Tagen nicht mehr. Du brauchst keine Angst zu haben. Alles ist gut. Sonja wird nichts passieren. Sie ist eine kluge Frau, sie weiß, dass man sich an Korallen schneiden kann. - Es schüttelt mich, Lindner, halt mich fest, geh nicht weg. Du musst mich festhalten. Wir gehen Korallen suchen, und wir passen auf, dass wir uns nicht schneiden. Wenn ich wieder bei Sonja bin, schenke ich dir eine rote Koralle. Du musst sie unter eine Glasglocke legen, dann kann sie niemandem mehr wehtun. Versprichst du mir, sie unter eine Glasglocke zu tun? - Ja, das mach ich. Versuch weniger zu sprechen. Du atmest zu schnell. Versuch ruhig zu bleiben. - Hörst du das? Tock. Tock. Die Krücke. Kann man auf dem Meeresboden eine Krücke hören? Die Korallen werden die Krücke zerschneiden, und der alte Mann wird auf die Korallen stürzen. Dann geht er kaputt. Und dabei flimmert es blau. Ich muss dem Mann mit den Krücken helfen, ihm darf nichts passieren. Ich kann ja schwimmen, ich habe Taucherflossen. In jede Hand nehme ich eine Krücke, und setze sie auf den Boden, wo keine Korallen sind. Da ist weicher Sand, da gibt es kein Tock Tock. Ich muss ihm helfen, damit das Klopfen aufhört, Ich darf hier nicht sitzen bleiben, Sonja wäre böse, sie hat gesagt, ich soll nicht soviel Lichi-Schnaps trinken, aber es war doch wie schweben. Und der Bus ist immer weiter gefahren, immer weiter und wieder zurück, mit Sonja. Ich werde zu ihr schwimmen, sie ist bestimmt da drüben, Sonja mag es nicht, wenn es so dunkel ist, sie ist da drüben wo es hell ist. - Schmitt, bleib hier, wir können nur warten. Einfach nur warten. Aber sie werden bald da sein. Du darfst dich nicht so viel bewegen. Wir müssen Sauerstoff sparen. Sei ruhig. Siehst du, mein Arm tut mir weh, weil du so viel zappelst. Stell dir vor es wäre Sonjas Arm, dann wärst du ruhig. Wenn wir draußen sind, dann machen wir ein Fest, mit Sonja, wir werden tanzen. Bald sind wir draußen. Aber du darfst nicht so zappeln. Wir haben nur noch wenig Luft, du musst ruhig sein. - Ich nehme dir doch nichts weg, ich nehme euch doch nicht weg. Ich will doch nur ins Helle schwimmen, zu Sonja, ich tu niemandem weh, lass mich los. Lass mich los! Ich schwimme, ich kann schwimmen, hörst du das Platschen, das Wasser ist warm, es ist schön, Sonja, Sonja, am Meeresboden ist es heller, du wartest doch auf mich, unten ist es heller. Schmitt schüttelt sich, er tritt mit beiden Füßen in das Wasser, doch Lindner hat seinen Arm um ihn gelegt, die Hand auf der Schulter und zieht ihn an sich heran. Sei ruhig, bleibe ruhig, Schmitt. Es wird alles gut. Die letzten Stunden gab es nur schwarze Nacht, aber du hörst das Klopfen, es wird lauter, immer lauter, sie kommen näher. Sie bohren einen Tunnel in den Fels, wenn du genau hinhörst, kannst du die Bohrhämmer hören. Noch sind sie leise, aber du hörst das Brummen. Wenn ich meine Hand an den Fels lege und mich konzentriere, spüre ich das Brummen der Hämmer. Sie wissen dass wir hier sind, und sie haben Tag und Nacht gearbeitet, bald werden sie hier sein, bald werden sie hier sein. Schmitt hält still, sein Kopf ist auf die Brust gefallen, Lindner spürt es, als er ihm mit der Hand über den Kopf fährt. Er zieht Schmitt nach hinten, so dass er an der Wand lehnt, er stützt ihn mit seiner Schulter. So kann er seinen Arm entlasten. Schlaf. Schlaf von Schwarz zu Schwarz. Das Brummen wird lauter. Und immer wieder dieses Klopfen. Schwarz und Schwarz. Dann fallen Steine. Lindner schreckt hoch. Schmitt, hörst du das, sie sind da, sie haben uns gefunden! Er streicht ihm liebevoll über die Schulter. Jetzt ist alles gut, sie haben uns. Schmitt kommt langsam zu sich, er stößt unartikulierte Laute aus, als wäre er plötzlich aus einem Traum gerissen. Schmitt, wir sind gerettet, es ist alles gut. Wir müssen nur noch kurz warten, dann kommt ein Versorgungspaket, du wirst deinen Apfel bekommen. Schmitt wippt mit seinem Oberkörper vor und zurück, wie das Pendel einer Uhr, zwei Mal in der Sekunde, vor und zurück. Lindner spricht kurze Sätze, immer wieder: Wir sind gerettet. Sie sind da. Gleich sind wir draußen. Gleich. Schmitt wiederholt: Gleich. Die Versorgungskapsel wird durch das Loch herab gelassen, Flüssigkeit und Mineralien. Kein Licht, Lindner, bitte, kein Licht. - Nein, kein Licht, ich werde kein Licht machen. Der Schacht wird verbreitert, damit die Kapsel hindurch passt, mit der die Eingeschlossenen herausgeholt werden sollen. Zuerst Schmitt, er zwängt sich in die Kapsel, sie ziehen ihn hoch. Die Nacht. Sie reißen mich aus der Nacht heraus, in den Tag, wieder ins Netz zurück, zu den Äpfeln, zu Sonja, Sonne. Es wird sehr hell werden, erst werden meine Augen schmerzen, ich werde sie zukneifen müssen, ganz fest, und dann, langsam, werde ich sie öffnen. Ich werde den Himmel sehen können, die Sonne. Ich werde mich ausruhen, weich, die Luft wird mir schmecken. Es wird schön werden draußen, ich gehe mit Sonja nach Korallen tauchen, auf Mauritius. Ich werde sie beschützen, damit sie sich nicht schneidet an den scharfen Korallen. Alles wird gut, alles wird gut.
Lindner sitzt im Schwarz, er hört das Schleifen der Kapsel gegen den Fels, er hört wie sie Schmitt nach oben ziehen Er denkt an Sonja, Sonja die so schön gelacht hat, die tot ist, Sonja, die diesen Unfall hatte. Schmitt hatte sie lange nicht erwähnt, erst jetzt wieder, er sprach von ihr, so, als ob sie noch am Leben wäre. Lindner hatte sie leben lassen, hier unten. Lindner sitzt im Schwarz und denkt an die tote Sonja. Er denkt an Schmitt und die Korallen, und wünscht, dass der Fels über ihn zusammenstürze.

Dresden, 2004

Frederik Hartig: über den Autor

 

   
das gefrorene meer - la mer gelée