‹‹‹ Nummer 3 - EXZESS
 
 
Das wahre Leben (Auszug)
Alban Lefranc, Übersetzung: Marina Barré / Alban Lefranc

Jemand geht also in der schwankenden Nacht, bei jemandem kommt die Freude auf die zitternde Luft zwischen den hohen blauen Fassaden, die gelassene Hand setzt ihr Hin und Her fort, vom Mundwinkel bis zum Ende des fallenden Armes.
Jemand meint, das Ganze könnte einem innigen Freund erzählt, nützliche Eindrücke in irgendeiner Kneipe aufgezeichnet werden, diese ganze Geschichte mit Johanna sei belanglos.
Laternen atmen lodernde Tüten ein; in ihrem vorübergehenden Dasein verlorene Vorübergehende gehen nur für uns vorüber, je nach Winkeln und Licht mehr oder weniger zusammengebrochen; Hunde bellen; Fenster erleuchten; Innenräume ertönen in den Etagen: Das Ganze ergibt ein entzückendes Stück.
Der Schritt wird langsamer in der zerknitterten Nacht, der Gang mischt sich ein wenig besser zusammen an den Schaufenstern vorbei, der Atem entrinnt diesem Knittern.
Was für ein Glück, sagt man sich, Aber was für ein Glück, ohne zu bitten zu diesen schlichten Wundern zugelassen zu werden, man ist berührt, man weint ja zwangsläufig, ein bisschen, und auch das geht vorbei.
Jemand geht weiter, irgendwie, irgendwo, Spiel der Freude am Gehen. Mensch, was hat man für Zeit vermasselt mit Johanna?
Es wird gezeigt: eine kräftige Frau mit eckigem grimmigem Gesicht (aber woher diese Sicherheit, es wäre eine Frau) in einem Kittel, auf dem rote Blümchen sprießen (aus der Ferne kann man es nicht erkennen), die sehr konzentriert eine Obstkiste zum Wagen trägt; eine in dunkle Schalen eingehüllte rothaarige Frau, in deren Fleisch man sehr gerne hineingreifen würde; auf Fahrräder gestiegene Kinder; aufsprühendes Pflaster, wie die Gischt einer Gewalt, die da unten ausgeübt wird; Bäume mit wunden Stämmen; stumme Steine; ein schwachsinniges, gähnendes Rohr an der Wand; ein gelbes Hemd, das in der Kälte auf einem Wäscheständer am Rand eines Fensters tropft; sehr rote und bestimmt auch sehr glückliche Kinder, die etwas Ringartiges bilden, und sie schreien; würdevolle, etwas erschreckende Hunde mit langem Haar, und immer schwarz, mit Augen, die vor Treue zur Erde klaffen; die zum Bürgersteig hin offene Darbietung von Zechern hinter einem Glasfenster, alle sehr jung und beiderlei Geschlechts, der Aufmerksamkeit des Kenners einfach geschenkt, und sie bewegen sich tatsächlich im Halbdunkel der Kneipe, und die Lippen auch; ein alter Mann mit schwarzer Mütze; Paare, tausende Paare, abertausende Paare, die die Straßen erstürmen, eine Sintflut von Paaren, eine Verschwörung von Paaren, die das Glück vortäuschen, die Arschlöcher; die Erinnerung an einen blauen in der Mitte des Tages entfachten Himmel über den Häusern.
Und sehr schnell hat man sich verlaufen, wie es sich gehört, die Nacht ertränkt halt alles, in diesem unserem Zustand. Es ist Zeit, ja es ist Zeit, sich Johanna aus dem Kopf zu schlagen, mit der Trauerarbeit zu beginnen, aber von welchem Möchte-gern-Analytiker hat man sich diesen Ausdruck abgehört. Straßenschilder sind nicht mehr zu finden, irgendwann hat man wohl das Viertel verlassen, aus Versehen. Eines schönen Augenblickes stand der Bahnhof in der Ecke, aber nichts mehr ist zu erkennen. Trauerarbeit! Trauerarbeit! Und plötzlich die Entscheidung, bald zum Ich zurückzukommen. Wenn ich nur dran denke. Diese welke Fassade, die mit allen ihren Steinen in Tränen ausbrechen möchte, die nicht mehr weiter kann, die aber noch sehr mutig gerade steht.
Sich selbst ausgeliefert, rührt man in dunklen Geschichten, im Verrat, in mörderischen Gelüsten, im dummerweise verschobenen Wildsein, man bewandert mit dem inneren Auge stumme Landschaften, fröstelnde Strände im gesalzenen Morgengrauen, wimmelnde Büsche, die ganz leise im sommerlichen Licht schmoren, Bücherregale im Landhaus, das Brummen eines alten Computers, und dann nichts mehr, man hat es langsam satt.
Man meint, man sei vor allem ausgegangen, um sich selbst den Rücken zu kehren, aus diesem eitlen Herumblättern in dem albernen Bilderbuch, aus dieser armseligen Geschichte. Man betrachtet. Nichts. Man betrachtet genauer. Jemand nähert sich. An einer Wand taumelt ein feierlicher Umriss heran.
Niemand sonst, man traut sich nicht, ihn anzusprechen, man ist doch feige und zur Korrektur ist es wohl zu spät. Man sucht nach verkehrsreicheren Straßen. Man rennt der Form hinterher, es ist einer vom Bund in Uniform, man fragt ihn nach dem Bahnhof, er weist auf Strassen, Kreuzungen, Umwege, auf Unterführungen? auf Leitern? Man bedankt sich. Warum überhaupt zum Bahnhof? Der Gang wird lebhafter. Man kommt zum Bahnhof, der hinter diesen mit Plakaten für einen Diavortrag über Tibet voll gekleisterten Absperrungen lag. In zwei Monaten bleibt von ihrem Gesicht nichts mehr übrig, in zwei Jahren nichts von ihrem Vornamen: Johanna? Donatella? Vera?
Man betritt den Bahnhof: Die Lichtflut lässt Panik ausbrechen, hinter einem Aquarium betrachtet man die wenigen mager belegten Brötchen , aus ausreichenden Ferne aber, dass man Fragen ausweichen kann. Man geht wieder hinaus. Das belebte Zentrum ist jetzt ganz in der Nähe. Man muss an einem Friedhof vorbei, man ahnt, dass sich dort dunkle Blätter aneinander reiben.
Eine Kneipe als Zuflucht, sofort, ich suche Zuflucht in dieser tobenden Kneipe hier direkt um die Ecke, ich steige die Treppe hinauf, ich drücke die Tür auf, ich mache die Augen zu, auf gut Glück, aber dort ist Rot, ein Rot, wie soll ich sagen, das weniger rot, ja weniger rot als sonst nachts ist, wenn ich laufe nachts, nachts, um das Rot hinter meinen Augen wegzuwischen, aber dieses weniger rote Rot, unverwechselbar mit dem Schwarz, mit dem Schwarz, das man normalerweise hinter den Augen hat, wenn man sie zumacht, wenn man wie hier drin die kubanische Musik der glücklichen Studenten hört, das Glück der aufeinandertreffenden Stimmen, der über den Tischen zueinander geneigten Köpfe, mit Schwarz hinter den Augen, wenn sie gewillt sind, und sie sind's, ich stehe, muss ich sagen, noch ziemlich aufrecht, beinah souverän, obgleich ich auf einige Menschenhüllen stoße, die vor der Theke herumspelunken, man muss ja zugeben, dass die Beleuchtung vom El Perro Borracho immerhin sehr hell ist, Diese beschissene wundrote Beleuchtung verbessert das Ganze nicht so richtig, sage ich mir beim unbehinderten Erreichen eines Barhockers genau hinter der Säule, wo ein Torero ganz knapp einem sehr schwarzen Stier auf einem Plakat ausweicht, ich richte den Kopf auf nach einer erneuten Überprüfung des Roten hinter meinen Augen, immer da, ich versinke in der Bewunderung der Bieretiketten, die traditionell dunkler sind, für die vorgesehene Ordnung bürgen, für das Schwarz hinter den Augen, beruhigender als jegliche kümmerliche Fibelbilder von Mistgabeln und Rosten auf Tequilla, Whisky, Gins und dergleichen, ich bestelle ein Bier, aber ohne Nachdruck, ohne darauf zu bestehen, ich weiß sowieso, dass ich hier nie etwas bekomme, allerdings schmeißen sie mich nicht raus, das ist von Vorteil, und meine wesentlichen Bemühungen gelten den anderen Kunden, die ich unter Darstellung der größtmöglichen Normalität von der Richtigkeit meiner Anwesenheit an diesem Ort zu überzeugen suche, und wenn ich die Hand hebe, wenn ich das Bier bestelle, mit dem ich zum Schwarz hinter den Augen der normalen Leute zurückgelangen könnte, gebe ich acht, dass sie vage bleibt, diese Hand, dass sie eine vergessliche Hand bleibt, die unzeitmäßige Schatten streicht, ich gebe acht, man könnte aus der Ferne meinen, ich hätte nichts bestellt, ich würde mit einem Schmetterling oder einer stechenden Erinnerung aus der frühen Kindheit spielen, und während meine vergessliche Hand sich rührt, verspreche ich mir, ein Mittel zu finden, mich in Christians Wohnung einzuschleichen, seine Adresse herauszufinden, definitiv zu überprüfen, ob Christian existiert, ob er tatsächlich existiert, in meinem Munde ist der Name, Christian, lediglich eine Konvention, eine Herausforderung, vor den Flaschen hinter der Theke, denke ich mir so: Den mache ich fertig den Christian, diesen Wichser, aber jetzt gerade bin ich mir nicht mehr so sicher, ihn überhaupt schon gesehen zu haben. Was Johanna-Christiana-Vera betrifft, da gibt es Tage, in Wahrheit, auf meiner Bank neben dem Fluß, an denen ich zweifle, etwas Ähnliches jemals genossen zu haben.
Sobald ich diesem Mädel, das mir den Rücken zeigt, etwas von ihrem Bier geschnorrt habe, sobald das Schwarz über meinen geschlossenen Augen seinen Anspruch zurückerobert hat, sobald die Kneipe zu hat, werde ich noch über das Ganze nachdenken, versprochen. Ich werde so lange warten, wie es nötig ist, ich habe es nicht eilig, ich werde mich zusammenreißen, so lange, bis ich irgendeiner angeschwipsten Deutschen etwas von meinem herrlichen Leiden anvertraut habe. Ich lasse mich nicht unterbuttern. Nie wieder wie in Paris. No way. Nicht mit mir. Nein.

Der vollständige Text ist in französischer Fassung als Band bei Hache erschienen: http://www.dtext.com/hache

Dresden, März 2001

Alban Lefranc: über den Autor
Marina Barré: marinabarre@gmx.de

 

   
"Das ist die Gesundheit, die zwischen zweimaligem hohem Fieber vorübergeht.
Das ist das Fieber eines zweimaligen Aufruhrs guter Gesundheit."
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