"Hätte ich nicht durch die Verbannung dort, verbunden mit der Abweisung hier, an der Grenze erdrückt werden
können?"
|
Geschichte von Guillaume (1/2)
Mathieu Roux, Übersetzung: Audrey Parmentier
|

|
Am Flughafen
Guillaume war betrunken,
als er zum ersten Mal die dichte und feuchte Wärme der "Grossen Insel"
erlebte. Es geschah an einem ersten September, und Guillaume hatte auf
dem nie enden wollenden Flug Paris-Antananarivo via München viel
getrunken, mehr als recht ist, Aperitifs, Biere, Bloody Marys, Whiskys.
Sein schwankender Gang auf dem weiß geglühten Teer beunruhigte und
nervte Marc, den Entwicklungshelfer, der ihn am Flughafen abholen
sollte, beträchtlich. Im Auto sank Guillaume in Schlaf, was Marc zum
Teil erleichterte: er sollte ihn zur Botschaft fahren, um seine
Ausweise ordnen zu lassen, und um ihn der Einwanderungsbehörde
vorzustellen. Vor der Gepäckbahn, die gut eine halbe Stunde lang stumm
geblieben war, hatte Marc versucht, ein paar übliche Höflichkeiten
auszusprechen, mit einer übertriebenen Vertrautheit begleitet, die er
jedoch bei seinen Landsleuten gehasst hatte, als er vor einem Jahr
angekommen war.
Als es unmöglich geworden war, den schrecklichen Zustand
von Guillaume länger zu übersehen, ohne lächerlich zu wirken, begnügte
er sich damit, schweigend und so unauffällig wie möglich dessen schweren
und schwankenden Körper senkrecht zu stützen (er hatte nämlich in der
erschöpften Menge der Fluggäste zwei seiner Schüler von letztem Jahr
wiedererkannt, von ihren Eltern begleitet, die die halbwüchsige
schlechte Laune ihrer Söhne durch grosses Lächeln in seiner Richtung
kompensierten). Er hoffte nur, dass sein störender Landsmann fähig sein
würde, gegen die alkoholische Benommenheit seines Körpers ein paar
Minuten lang anzukämpfen, um seinen Koffer zu erkennen, wenn er aus dem
metallischen Mund austreten würde, der bald auf seiner aus Gummischuppen
bestehenden Zunge einen bunten, bei jeder Erscheinung aus der silbernen
Kehle immer spärlicheren Haufen von Gepäck fahren würde, neben welcher
Marc stehenzubleiben beschlossen hatte. (Senkrechte Fransen aus
schwarzer Plastik, die eine zerfaserte Stimmritze skizzierten, lenkten
durch den dumpfen und gestossenen Ton einer müden Peitsche die
Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich). Er kam von der Toilette
zurück, einen Gepäckkarren vor sich herschiebend,, und er war eher
überrascht als erleichtert, als er den auf einem Koffer schlafenden
Guillaume gegenüber der endlich fahrenden Gepäckbahn entdeckte. Er
deutete diese ärgerliche Bewegung (ja, dass er gerade im Moment
verschwindet, wo seine Anwesenheit unentbehrlich geworden war, und dass
seine an sich schon sehr unangenehme Abwesenheit die Annahme des Gepäcks
überhaupt nicht stört und verzögert, das reichte, um seine Empflichkeit
zu verletzen, obwohl er genau wusste, dass sie in jenem Zusammenhang
unangemessen war) als den letzen Sprung eines Gewissens, was die
plötzliche Einschläferung wirkungsvoll bestätigte. Während er sich nicht
bemühte, die Stösse des Weges, die Guillaumes Schlaf gar nicht störten,
durch ein passendes Fahren zu dämpfen, fühlte er sich nun frustriert,
einer Besichtigung der madagassischen Hauptstadt beraubt, deren
Wirkungen er auf der Hinfahrt ausgefeilt hatte. Widerwillig war er sauer
auf den neulich Angekommenen; jedoch beschloss er mit Vorsicht, ihn
nach Hause zu fahren, damit er eine Stunde oder zwei schlafen könnte.
Bei Marc
Ein rauhes "danke" vor sich hin stammelnd, liess sich
Guillaume auf das grosse Bett fallen. Marc rief die Botschaft an, und
teilte einer Sekretärin mit, dass Guillaume Hertz, der neue Lehrer der
französischen Schule in Diego-Suarez Magenschmerzen habe, und dass er
sich erholen solle, bevor er sich zur Botschaft begäbe. Am Anfang des
Abends, nach drei Stunden tiefen Schlafs, achte Guillaume auf. Es fiel
ihm besonders schwer, sich die gerade beendete Reise aufzuklären. Er
erinnerte sich daran, dass in München eine eifrige Stewardess, die seine
betrunkenen Verführungsversuche nicht gemocht hatte, seinen Anschluss
nach Madagaskar vergeblich verhindern wollte. Er war sich auch sehr
sicher, dass er mit madagassischen Fluggästen, die wie er betrunken
waren, geredet hatte, und vor den Gefahren von TANA warnten sie ihn.
Aber er erinnerte sich nicht an das Wesen dieser Gefahren. Marc sah im
TV5 die französischen Nachrichten und staunte, als er einen lächelnden
Guillaume in der Türöffnung bemerkte. Als ob nichts wäre, schlug er ihm
eine Dusche vor: "Das wird dir bestimmt wohl tun… Du hast doch
Hunger, oder?" "Ja, ja, ich glaube schon…" "Wir gehen danach also
essen… Es ist sowieso zu spät zur Botschaft zu fahren, wir fahren
morgen hin, vor deiner Abfahrt nach Diego." "Ja, alles klar, ich danke
dir." Marcs totalitäres Duzen regte ihn auf (auch wenn er es sofort
aufgriff und dabei fast vergnügt war), jedoch weniger als jene
schmierige Vertrautheit, von der der Satz "das wird dir bestimmt wohl
tun" voller Gefälligkeit und Verachtung grob zeugte. Guillaume wollte
jedoch vor allem, aus einer instinktiven Höflichkeit, die ersten
Eindrücke korrigieren, die eine lächerliche Ankunft hinterlassen hatten;
er konnte die Umstände seiner Ankunft nicht mehr zusammenbringen, was
jenes Unbehagen verstärkte, das die Wärme, die Feuchtigkeit und die
Kopfschmerzen ihrerseits leise reizten. Glücklicherweise hemmte das
kalte Wasser der Dusche die Nervenüberreizung, die er fürchtete, und er
war fast guter Laune, als er zum zweiten Mal in Marcs Auto einstieg.
In Marcs Auto
Guillaume öffnete sein Fenster ganz. Er war enttäuscht, dass
er fast nichts sehen konnte, da die Strassen, um diese Zeit gar nicht
oder nur schlecht beleuchtet, menschenleer waren. Er schimpfte mit sich
selbst, weil er wieder einmal vor der Landung nicht hatte nüchtern
werden können (aber diesmal ohne das früher empfundene Unbehagen, das
für benebeltes Erwachen typisch war); er sollte am folgenden Mittag
nach Diego-Suarez fahren, und würde also keine Zeit haben, Tana zu
besichtigen, weil er nun am Vormittag die administrativen Pflichten zu
erledigen hatte. Trotzdem versuchte er, die Stimmung dieser Stadt in
sich aufzunehmen, indem er seinen Blick allen Hochhäusern aussetzte,
deren Umrisse er im Halbdunkel vermutete. Er empfing dabei alles, was
sich seiner Netzhaut einprägte - ein beleuchtetes Fenster, ein
Verkehrsschild, ein Ladenschild - als Zeichen, dessen Entzifferung er
künstlich beschleunigen wollte. Marc erklärte ihm, dass sie mit einer
Freundin von ihm essen würden, die auf einem der Hügel, die den größten
Teil der madagassischen Hauptstadt bildeten, wohnte: "Sylvie arbeitet
in der 'Alliance française' und sie kennt Diego ganz gut. Sie hat eine
lange Zeit dort gelebt, ihr Freund wohnte dort, ein Lehrer wie du, aber
es ist aus mit ihm." Guillaume wunderte sich über diese unangemessen
vertraulichen Mitteilungen, die er dem "Syndrom der Auswanderer"
(Einsamkeit, Engerwerden der Beziehungen zwischen Landsleuten, Rückfall,
Verlassenwerden) zuschrieb, wovon Bekannte schon gesprochen hatten, und
das er auch von Kolonialberichten her kannte.
ihrer Sylvie stieg hinten ins
Auto ein, obwohl Guillaume darauf bestand, ihr seinen Platz vorn zu
geben. Er sah im Rückspiegel eine sehr elegante ungefähr dreißigjährige
Frau: sie trug ein langes weißes Abendkleid und später würde er die
Gelegenheit haben, einen tiefen Hüftausschnitt zu bewundern, der auch
zärtlich hervortretende Schulterblätter enthüllte. Was er als ein
Lächeln deutete, entstellte rätselhaft das rubinrote Make-up ihrer
vollen Lippen. Lange gebogene Wimpern umschatteten dunkelblaue Augen,
deren im Rückspiegel blinkender Glanz Guillaume widerwillig schaudern
ließ. Am Ausgang eines Tunnels mit fehlenden Markierungen richtete sich
das Hochhaus des Madagaskar Hiltons auf, das am Rand des Anosy Sees
einen unwahrscheinlichen Leuchtturm nachahmte; brutales und
eingebildetes Symbol für den internationalen Einfluss, womit die
Hauptstadt eines Landes prahlen will, auch wenn dieses wirtschaftlich
gesehen eine unwichtige Insel ist.
februarmai2000montpellierpalavaslesflots
|