www.dasgefrorenemeer.de

Nummer 2 - Territorium

 

inhalt     aktuell  

zurück weiter
"Meine Territorien sind außer Reichweite, und zwar nicht, weil sie imaginär sind, sondern im Gegenteil, weil ich dabei bin, sie zu umreißen. Schluß mit den großen oder kleinen Kriegen."

Geschichte von Guillaume (2/2)
Mathieu Roux
Übersetzung: Daniella Wittig / Angelika Gross und für den letzten Abschnitt, Audrey Parmentier

Im Restaurant (das Abendessen ist ein hübscher Auftakt für die Liebe)

Das Restaurant war ein am See gelegenes Etablissement, nicht weit entfernt vom Hotel Hilton. Während sich zwei beschwipste junge Männer mit unvollständigen Smokings mühsam aus einem verbeulten Taxi herausquälten, stellte Guillaume, von den unfreiwilligen Reflexen eines eigentlich von jedem Einsatz befreiten Polizisten geleitet, ohne weiteres Nachdenken sofort fest, dass beinahe alle auf dem Parkplatz abgestellten Autos Diplomatennummernschilder trugen. Ein indischer Portier mit Turban, der auf der strohgeflochtenen Schwelle des Restaurants stand, kam Marc und Sylvie mit vertraulicher Ehrerbietung entgegen, begrüßte Guillaume höchst feierlich und führte sie an einen sichtlich reservierten Tisch auf der Terrasse im Freien, die auf kurzen Pfählen in das schwarze Wasser des stillen Sees hineinfasst. Ein deutscher Diplomat näherte sich ihrem Tisch und kniete, ohne sich um die beiden Männer zu kümmern, mit ehrfurchtvoller Gefügigkeit vor Sylvie nieder und küsste ihre ihm dargebotene behandschuhte Hand, ehe sie sie ihm rasch wieder entzog, was für den Mann eine stillschweigende Aufforderung zum unvermeidlichen Rückzug bedeutete. Sie hatte immer noch nichts gesagt und Guillaume schmachtete nach dem Klang ihrer Stimme. Dennoch wollte er einer Enthüllung, deren unmittelbares Bevorstehen, je mehr Zeit verging, von der Heiterkeit des Ortes natürlich in den Hintergrund gedrängt wurde, nicht überstürzt zuvorkommen und wartete lieber ab, bis sich mit dem Alkohol, der zunächst als ein Cocktail aus frischen und köstlichen Früchten auf Kosten des Hauses serviert wurde, eine für ihn ungewöhnlich starke Schüchternheit überwinden ließ, die ihn zur Annahme führte, dass diese Frau ihn fasziniere. Die Art und Weise, eine Mischung aus Selbstsicherheit und Geistesabwesenheit, wie sie den Lippen des Diplomaten ihren Handrücken darbot - ohne ihn auch nur einmal anzusehen, sondern einen Punkt des Sees fixierend, den Guillaume nicht zu lokalisieren versuchte, so sicher war er sich, dass er nicht existierte und dass sie ihren Blick nur so intensiv konzentriert habe, um den rätselhaften Fluss ihrer Gedanken noch undurchdringlicher zu machen - ließ ihm immer noch keine Ruhe und er konnte nicht davon ablassen, seine Augen wie hypnotisiert auf diesen Handschuh gerichtet zu halten, der wie eine endlich entschlüsselte Pergamentrolle unter der Eindringlichkeit seines angestrengten Blicks sein Geheimnis unweigerlich preisgeben würde. Marc hatte er völlig vergessen, der ihn aber wieder an seine Anwesenheit erinnerte, indem er ihm über die Köpfe hinweg laut eine Frage zur getroffenen Wahl stellte, eine Frage, deren gekünstelter Enthusiasmus nur schlecht eine innere Unruhe überspielte, die Guillaume lieber ignorierte. "Wenn du Fisch magst, musst du unbedingt welchen nehmen: der Küchenchef ist ein französischer Koch, der die subtile Wissenschaft unserer Gastronomie mit der Begeisterung für eine sorgfältig ausgewählte hiesige Kost hervorragend in Einklang zu bringen versteht." Marc lächelte Guillaume an und setzte dann eine etwas verlegene Miene auf, die mit dem belehrenden Ton kontrastierte, in dem er die Verdienste des Küchenchefs gepriesen hatte. "Ich empfehle Ihnen das Buckelrindfleisch. Aber Sie sind ja kein kleiner Junge mehr." Ihre Stimme glich einem dünnen und unzuverlässigen Seil, das zu zerreißen drohte und das sie zwischen zwei Gipfeln aufspannte, über dem Abgrund, eine im Innersten ferne Stimme, der er voll beklommenem Wohlwollen lauschte, losgelöst vom Sinn und von den Worten, die sie wie von selbst übertrug. Die Überraschung setzte die sich verzögernde Reaktion, die die Gebanntheit vorbereitet hatte, noch länger aus. Ein kläglich verständnisinniges "ja", das Guillaume als höfliche Vorrede zu einer Ausführung, deren Wortlaut er noch nicht kannte, hervorzubringen gedachte, wurde zu seiner größten Erleichterung durch die Ankunft des Kellners und dessen logische, demonstrativ zur Schau gestellte Verfügbarkeit abgebremst. Aber jetzt schien es Guillaume so, als ob er Sylvies Neugierde geweckt hätte, und die Aussicht auf ein "Sich- Kennenlernen" hatte aufgehört die Rolle des schrecklichen Täuschungsmanövers zu spielen, das sich Marc für ihn als eigenartigen und romanhaften Willkommensgruß ausgedacht hatte. Tatsächlich entging Marc etwas, und seine Nervosität hinderte ihn daran, vernünftig und nüchtern die - noch bestehende - Möglichkeit abzuwägen, dem Verlauf des Abends eine neue Wendung zu geben, zumindest eine Richtung, die er im Umriß mitbestimmt hätte. Er entschied sich für ein zurückhaltendes Geständnis, für den Erfahrungsaustausch, ein etwas auswegloser Versuch, dem Neuankömmling gegenüber den bereits gesicherten Einfluss zu festigen, der nun durch das langsam anwachsende Verlangen, das von jetzt an Guillaume mit Sylvie verband und ihn ausschloss, brüchig geworden schien.


Marc hat etwas zu erzählen

"Weißt du, Madagaskar ist keine gewöhnliche Insel. Ich bin für Weihnachten nach Lyon zurückgefahren. Alles erschien mir grau, ohne Glanz ... mir war so, als ob dauernd Nacht wäre. Ich war erleichtert hierher zurückzukehren, dieses Licht wieder anzutreffen, und sogar diese feuchte Hitze, in der ich mich doch anfangs so unwohl fühlte ... Und die Kälte, verdammt nochmal, ich hatte die Kälte vergessen ... die warme Kleidung, den Schal, die Handschuhe, die Mütze, die Angst vor Erkältungen." Er schaute Guillaume in die Augen, runzelte seine Augenbrauen, öffnete leicht den Mund, besann sich anders, entspannte seine verkrampften Gesichtsmuskeln, löste die Spannung im Nacken, ließ sich in seinen Korbsessel rutschen, seinen Blick ins Leere gleiten und sagte: "Am Anfang ist es schwierig hier zu leben, sich wie man sagt "anzupassen", ich kenne einige, die es nicht ausgehalten haben ... Es ist auch schwierig von vornherein Bescheid zu wissen. Ich, ich hätte niemals gedacht, gern hier zu leben. Ich hatte sogar ein bisschen Angst, jaaa, jaaa ..." Zum ersten Mal an diesem Abend nervte Marc Guillaume. Dieser Typ spricht nur von sich. Der erste Typ den ich hier treffe, in einem Land und auf einem Kontinent wohin ich niemals zuvor meinen Fuß gesetzt habe, ist ein ängstlicher Franzose, der nur von sich spricht. Eine unterschwellig wirksame Macht allerdings gebot Nuancierung, untersagte überstürztes Urteilen: Marc war die erste Stufe beim Abtasten dieser neuen Umgebung, und als solche gehörte er zu dieser Erfahrung, verschwamm mit ihr; er bremste nichts, hielt von nichts ab, er war das neue Leben. Und dann gab es da noch sie. "Judith und Marie sind heute Abend im Acapulco, kommt ihr mit?" "Ach, keine Ahnung, du weißt ja, Guillaume muss müde sein ... er hatte eine anstrengende Anreise. Und..." "Ich würde sehr gern hingehen. Ich fühle mich eher fit. Mach dir keine Sorgen um mich." Er sagte die letzten Worte in einem Ton geheuchelter Arglosigkeit, dessen plötzlicher Enthusiasmus die rachsüchtige Zweideutigkeit von Marcs Beschreibung seines ersten Erscheinens auf der Insel vergessen lassen sollte. Außerdem hatte Guillaume erraten, dass Marc nach Hause gehen wollte und seine soebige Ankunft einen einfachen Vorwand abgab, Sylvies Einladung auszuschlagen. Er konnte es sich nicht verkneifen, für die Wirkung seiner geistreichen Bemerkung mit schuldbewusster Belustigung in Marcs zunächst überraschter und dann bitter resignierter Miene eine Bestätigung zu suchen.


Tana by nigh.

Das Acapulco war ein Jazzklub, in dem reiche europäische, amerikanische und südafrikanische Gäste mit den Vertretern der madagassischen Oberschicht, Bürgerlichen aus der Geschäftswelt und der Regierung nahestehenden Leuten, zusammenkamen. Hier mischten sich die Altersgruppen, Rassen, Geschlechter und Körper, aber diese Mischung, diese beim Feiern, Hüfteschwingen und im ungezwungenen Gebaren miteinander kommunizierende Vielfalt, dieses Gemenge sichtbar unterschiedlicher Menschen, gewann ihre künstliche Einheit auf der Basis eines erbärmlichen gemeinsamen Nenners: dem Geld. Geld und das mit ihm von Natur aus zusammenhängende soziale Überlegenheitsgefühl, das in den Ländern extrem ausgeprägt ist, in denen sich die wirtschaftliche und kulturelle Kolonisierung in den niemals ausgerotteten Strukturen jener historischen und von den Umständen hervorgebrachten entfaltete, die einzugrenzen symbolträchtige Daten den Anspruch hatten, war der große Veranstalter des Abends, das exklusive Sesam-öffne-Dich eines abgeschotteten Ortes.
Eine Band von der Insel Réunion spielte Standardstücke aus dem Repertoire des mit afrojamaikanischen Klängen gewürzten Jazz. Es gab Zigarren rauchende Männer in Anzügen, großzügig gefüllte Whiskygläser am Tresen einer schwach von roten Neonlampen beleuchteten Bar und Begleitdamen mit angriffslustigen, auf einsame Herren gerichteten Brüsten. Marc schüttelte an der Bar schlaffe Hände. Sylvie stellte Guillaume ihren beiden Freundinnen vor, zwei kaputten, betrunken schlaffen Leibern, die auf den Knien von zwei arroganten Südafrikanern saßen, die ihn ignorierten. Sie lachten glucksend und rollten dabei ihre müden, glänzenden Augen in Richtung Guillaume, der die halbvolle Whiskyflasche ins Auge fasste die auf dem niedrigen Tisch stand. Ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens, übertragen durch die träge Beleuchtung der gedämpften Lampen und durch das feindselige Kommen und Gehen beschwipster Gäste, deren eleganter Kleidungsstil die grundlegende Trivialität der Handlungen und Gedanken nicht mehr zu maskieren vermochte, machte sich in ihm breit.

Guillaume wollte trinken

Guillaume wollte trinken, sich betrinken und das schnell, nicht um sich künstlich an der elektrischen und dekadenten, von benebelten Mauern herabsickernden Stimmung zu beteiligen, sondern um nicht mehr die schmerzliche Erkenntnis des Ewiggleichen erleiden zu müssen, nicht um sich der Wirklichkeit zu entziehen, sondern um sie mit größerer Überschwenglichkeit zu erleben, um ihr ein Interesse zu verleihen, das wahrzunehmen, auszulesen die Nüchternheit unfähig war, denn egal ob betrunken oder nüchtern, er wäre stets der ewige Zeuge, der endgültige Voyeur, nur die Rührseligkeit und der Grad an Dichterischem, den er in das ausgespähte Schauspiel hineinverlegen und an dem er niemals teilnehmen würde, würden sich ändern.

Er fragte Sylvie, was sie trinken wolle - ihre Stimme, die sich im Restaurant wagemutig auf gefährliche Abwege eingelassen hatte und die Ellipse ihrer Lippen adelte, versank jetzt zu einem Hintergrundsgeräusch ("Wie du … ja, das ist gut, egal, um diese Zeit trinke ich bloß, um zu trinken, ich finde Betrunkensein ganz toll, ein Whisky ist gut, ja, ja …") - und stellte sich an die Bar. Als er mit zwei Gläsern in der Hand zurückkam, wurde der unangenehme Eindruck, dass sich die drei Frauen über ihn unterhielten - den er, während er sie von der Bar aus beobachtete, verspürt hatte - durch ein plötzliches Aufrichten der Haltung und die von liebenswürdigem Lächeln kaum veränderten Mienen bestätigt. Guillaume hatte vor allem das Gesicht von Sylvie beobachtet, das sich in Gesellschaft ihrer beiden Freundinnen stark belebt hatte. Auf eine rätselhafte und schrecklich sinnliche Strenge war eine vertrauliche Fröhlichkeit, eine kindliche Aufregung gefolgt. Die drei Mädchen hatten das rückschrittliche Bild einer Schulhofverschwörung abgegeben. Er fühlte sich um ein Geheimnis gebracht, das er noch nicht gelüftet hatte und das sich von nun an, vermengt mit dem bitteren Beigeschmack enttäuschter Fantasien, vor ihm zurückzog. "Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie gesehen … Arbeitest du bei der Alliance française?" Es war die Größere der beiden, die sich kundtat. "Nein, ja doch, ich bin neu, ich bin heute angekommen, aber ich bin Lehrer, ich werde in Diego-Suarez unterrichten, ich … Entschuldige, Marc ruft mich …". Tatsächlich, Marc machte ihm von der Bar aus, wo er in Gesellschaft eines um die dreißig Jahre alten Franzosen war, eindringliche Zeichen.

Es gibt Retter, die man nie retten wird

Er hätte es länger ignorieren können, aber er hielt es nicht durch, denn er sehnte sich danach, diese Unterhaltung so schnell wie möglich zu beenden. "Ah Guillaume, komm her, los, komm näher, diese Mädchen sind heißhungrig und du wirst uns noch eifersüchtig machen … Ich möchte dir Christian vorstellen, jemand aus dem Süden, von Montpellier. Christian arbeitet seit fünf Jahren im Kulturzentrum, ein alter Hase also!" "Hallo Guillaume, willkommen in Madagaskar. Woher kommst du?" "Ich stamme aus Ostfrankreich. Die Mosel, Forbach …" "Ah ja … ich bin aus Montpellier, ich meine aus der Gegend. Grabbels, ein Dorf, kennst du die Ecke?" "Nein." Dieser liebenswürdige Mittelmeerländer mit nervösen Zuckungen hatte mit Guillaume über das Mutterland sprechen wollen, genauer gesagt, über den Süden, diesen mythischen Süden, der immer wieder dann in nostalgischen und rührseligen Aufwallungen hochkam, wenn er sich dem Alkohol hingab. Die einfache Nennung seines Heimatdorfs setzte sein ganzes Sein unter Strom, und jedes Mal wenn er das bevorzugte Talisman-Wort "Grabbels" äußerte, wunderte er sich, dass das bei seinem neuen Gesprächspartner keinen Gefühlssturm auslöste. Die schroffe Verweigerung Guillaumes war die demütigendste Beleidigung, die Christian erfahren musste, seitdem er hier war und das obgleich er sich jedes Jahr bei Neuankünften von "Emigranten" einer liturgischen Feier seiner fernen Heimat widmete, oft von der eingeschüchterten Gutwilligkeit seiner versprengten Gesprächspartner ermutigt. "Marc hat mir gesagt, du würdest morgen nach Diego fahren." "Das stimmt, ich reise morgen mit dem Flugzeug um halb eins nach Diego-Suarez." "Bist du zum ersten Mal in Afrika?" "Ja." "Du wirst sehen, der Anfang ist schwierig, ein richtiger Schock, alles ist anders … Es ist mein letztes Jahr, ich bin nicht unglücklich darüber, wieder zurückzugehen. Man darf nicht zu lange bleiben. Man wird faul. Ich habe Angst, dass es mir schwerfallen wird, mich dort unten wieder zu integrieren. Aber gut, dort bin ich zu Hause, ich werde mich schnell wieder einleben, jedenfalls hoffe ich das." "Kennst du Diego?" "Ja, das heißt, ein bisschen. Es gibt einen wunderbaren Strand mit einem Restaurant, das von Leuten aus Toulon geführt wird, sag ihnen, du kommst von mir, wenn du hingehst, Michel und Fred werden dir einen Pastis spendieren. Wirklich, du wirst dich dort wohl fühlen. Am Wochenende ist einiges los, du wirst dich nicht langweilen." "Ach so …" "Also, wir werden uns sicher in Tana wiedersehen, oder vielleicht sogar hier, hier bin ich ein bisschen zuhause, in Ordnung?" "Ja, in Ordnung." Guillaume verstand nicht sofort, dass dieses "in Ordnung" die Beendigung ihres Gesprächs bedeutete und blieb noch ein paar lange Sekunden wie angewurzelt vor seinen beiden neuen Freunden stehen, die einander lauthals zuprosteten, bevor er wegging.

Ein Sturz ist nie lächerlich

Die beiden Freundinnen Sylvies hatten noch immer ihre Hinterbacken auf dem Schoß der beiden Männer, doch diesmal saßen sie ihnen zugewendet. Einige Küsse wurden ausgetauscht, unvorhersehbar, von Worten begleitet, die er nicht verstehen konnte und von Gelächter, das ihre Mienen zu Grimassen verzog. Eine von ihnen, von einem plötzlichen Lachanfall geschüttelt, verwickelte ihre Freundin in einen seitlichen Sturz, der von den ausgestreckten Armen der beiden Männer und der weichen Beschaffenheit der rotsamtenen Sessel aufgehalten wurde. Der Lachanfall ergriff den Mahlstrom der Leiber, der sich langsam wieder aufrichtete, und die beiden Frauen übertrieben die Mühen ihrer Bewegungen und ihre Glieder rieben sich an denen der beiden Männer als sie ihre Plätze miteinander tauschten, und Sylvie, sie allein tanzte mitten auf der Tanzfläche, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, allein, und Sylvie schüttelte ihre Haare, von einer Spange befreit, an deren Farbe und Form sich Guillaume nicht mehr erinnern konnte. Eine Musikanlage hatte die Musiker ersetzt, die sorgfältig ihre Instrumente aufräumten und dabei, ohne sich scheinbar davon beeindrucken zu lassen, den unkontrollierten Bewegungen betrunkener Tänzer auswichen, die mit labilen Schnörkelbewegungen die Bühne streiften.
Die Müdigkeit betäubte ihn; er konnte es kaum erwarten, zu gehen. Er sagt es Marc, der sich fast darüber empörte. "Oh, du musst so schnell wie möglich den afrikanischen Lebensrhythmus annehmen. Ein madagassisches Sprichwort sagt, dass wer es nicht eilig hat, am sichersten ans Ziel kommt. Wer es eilig hat, setzt sich hier dem Schlimmsten aus, jedenfalls ernsthaften Enttäuschungen. Und woher jetzt diese plötzliche Hast? Vorher warst du doch noch voller Energie … Also gut, ich bring dich nach Hause. Vielleicht willst du dich noch von Sylvie verabschieden, nicht?, nicht?" Guillaume beglückwünschte sich innerlich dazu, Marcs plumpen Racheakt ignorieren zu können. Morgen fahre ich, ich reise wirklich ab. Von einem Wesen abhängig zu sein, das ich nicht kenne, das ich gut genug kenne, um es nicht weiter kennenlernen zu wollen, dieser Lage, der ein großer Teil meiner jüngsten Handlungen wirksam zuvorkommen wollte, dieser letzten Endes amüsanten, auf dem pathetischen Höhepunkt, den sie bei mittelmäßigen Wesen hervorruft, einsichtsreichen Lage, wird morgen ein Ende gesetzt. "Nein, lass uns gleich fahren, wenn du willst."

Das Leben löst sich im Schlaf nicht auf.

Guillaume schlief nicht sofort ein, trotz der wahrhaftigen Müdigkeit, die er spürte. Er lächelte bei dem Gedanken, dass sein erster - vergeblicher - Entschluss darin bestand, die Gesichter, die ihm heute Abend begegnet waren, so schnell wie möglich zu vergessen. Das von Sylvie ertrank schon im Anosy See. Einzig ihre behandschuhte Hand symbolisierte noch einen gespenstischen Hilferuf, demgegenüber er sich mit der Genugtuung von einem, der eine harmlose Missetat begeht, blind stellte. Schwerer war es, das Gesicht von Marc loszuwerden, so stark erinnerten ihn die Orte, die ihn in dieser Nacht aufnahmen, an dessen Existenz. Er schloss die Augen. Einzelne, ihm fremde Gesichter tauchten plötzlich auf. Flüchtige, bei den nächtlichen Fahrten in Marcs Auto quasi zufällig aufgeschnappte Bilder von Kindern, Frauen, und Männern tauchten vor seinen geschlossenen Augen auf.
Guillaume schlief.


févriermai2000montpellierpalavaslesflots

Mathieu Roux: matroux@yahoo.fr
Daniella Wittig: dadidre@hotmail.com
Angelika Gross: agross@noos.fr
Audrey Parmentier: audrey_parmentier@yahoo.com

 

© 2002   das gefrorene meer - la mer gelée