No 7 - Mon Corps II / Mein Körper II
Marias Verwandlung
Frederik Hartig
Meine Arme schmerzen, der Sand frisst sich unter meine Nägel. Ich drehe mich nach rechts, bekomme den Sandsack gereicht, drehe mich nach links und gebe ihn an meinen Nachbarn weiter. Meine Gedanken sind dumpf geworden. Alle Wahrnehmung ist in meine Arme geflossen, in meine Hände, dorthin wo der Schmerz summt. Wir stehen vor einer Fabrik, es ist früher Morgen. Die Nacht hindurch gab es nur diese Drehen, links und rechts, ein Rausch der Arbeit, nur statt Wein, haben wir Sand in den Schläuchen. Unsere Kette pulsiert in einem Rhythmus der zu dem meinigen geworden ist. Aber was gehört denn zu mir, ich bin weit von mir entfernt, bin froh, dass mein Hirn in meine Arme geflossen ist. Morgenlicht gießt sich über den Fabrikhof, die Strahler werden nicht mehr gebraucht, Vögel zwitschern, fern von mir, fern, irgendwo.
Der Fluss steigt, er wirft sich nicht hin und her, wie ein Fieberkranker, so wie es der reißende Bach tut, sondern er steigt langsam und schaut uns an. Am Tag glitzert er in der Sonne, und streckt lächelnd seine Arme aus. Bis hierher und nicht weiter, die Säcke werden um die Fabrikhalle herum geschichtet. Ich gebe den Sack weiter, das Gewicht verlässt meine Hand, ich drehe mich nach rechts und bekomme ein neues Gewicht in meine Hand. Der Fluss wird hierher kommen, morgen vielleicht, spätestens übermorgen, ein Ende der Flut ist nicht in Sicht. Wir kämpfen gegen den Fluss, vielleicht hätten wir Opfergaben hineinwerfen sollen. Jetzt müssen wir kämpfen. Er wälzt sich aus dem Bett und grinst und weiß, dass er Sieger bleiben wird. Die Säcke sind alle, die Kette fällt auseinander. Wir sollen gehen, genug getan für heute Nacht. Es gibt noch viel zu tun, legt euch hin, schlaft euch aus. Ihr braucht Ruhe. ICH WILL KEINE RUHE! Die Ruhe ist gegen mich, ich möchte nicht, dass meine Gedanken meine Arme verlassen und zu mir zurückkommen, ich möchte den Sand unter meinen Nägeln spüren. Ich will das schmerzende Summen hören, das mich von mir fernhält. Keiner spricht, und wir gehen auseinander. Das Wasser ist noch nicht da, aber es wird kommen. Ganz sicher, es wird kommen, langsam steigt es. Ich möchte weiter arbeiten, vor allem: nicht schlafen und nicht träumen. Das Summen soll in meinen Armen bleiben, es soll in meinem Kopf bleiben.

Am Fluss ist es dunkel, das Wasser frisst sich in die Stadt hinein. Der alte Industriehafen wird nicht mehr bewirtschaftet. Seit Jahren wurden hier keine Schiffe mehr beladen, nur ein paar abgewrackte Boote, die hier ihre letzte Ruhestätte gefunden habe, liegen vor Anker. Das hintere Schutzblech an Marias Fahrrad klappert. Die Lampe wirft ein trübes Licht auf den Boden, das über den Weg tanzt. Der Dynamo summt. Das Wasser plätschert leise, es steigt, aber es hat den Weg nicht erreicht, den Maria fährt. Dunkle Gebäude neben ihr, sie wird in ein paar Minuten bei Tanja sein, ein Stoß reißt sie vom Fahrrad und schleudert sie auf den Boden. Ihr linkes Bein liegt unter dem Rad, sie versucht sich zu befreien, da wird das Rad von ihr weggerissen. Es ist dunkel, sie sieht eine schwarze Gestalt, die ihr Fahrrad zur Seite schleudert, es scheppert laut als das Fahrrad aufschlägt, und das Scheppern, Metall auf Metall, ein Kratzen zwischen Blech und Stein, verwischt im Plätschern des Wassers. Dann spürt sie Arme, die sie zu Boden pressen, die ihre Oberarme an den Boden nageln, die Gestalt ist über ihr und vermischt sich mit der Schwärze der Nacht. Ihr linker Arm wird freigegeben aber im gleichen Augenblick spürt sie eine Hand im Gesicht, ihr Mund wird zugepresst. Das Gewicht der Gestalt, die auf ihr liegt, hält sie gefangen. Maria versucht zu begreifen, ihr Fahrrad ist weg, sie war eben auf dem Weg zu Tanja, jetzt liegt sie hier, hier, zwischen schwarzen Gebäuden, man sollte abends nicht hier entlang fahren, man weiß nicht was da passieren kann, es wird nichts passieren es ist der schnellste Weg zu Tanja, sie ist ihn oft gefahren, nie ist etwas passiert, jetzt liegt sie hier und eine schwarze Gestalt drückt sie zu Boden, presst ihr den Mund zu.

Ich werde nicht schlafen, ich werde laufen, immer weiter, meine Füße haben noch genug Kraft, und wenn sie schmerzen geht es mir gut. Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Abends war ich zu den Arbeitern gegangen und hatte mich gemeldet. Jeder Freiwillige wird gebraucht, haben sie gesagt. Ich habe mich in die Kette gestellt und Sandsäcke empfangen, geschleppt und weitergegeben. Ich möchte hier bleiben, will kein Vorher. Welche Farbe hatte ihr Haar, ich habe es nicht gesehen, nur ihren Geruch habe ich gespürt. Ich muss schneller gehen, ich muss meine Füße spüren, mein Hirn soll in meinen Händen sein, wo ist dieses Summen, vorhin hatte doch der Schmerz noch gesummt, wo ist das Summen? Ich grabe meine Hand in meinen Oberarm, so habe ich sie gehalten, ich möchte, dass man mich so hält, jemand soll mich so halten. Wie alt mochte sie gewesen sein, ich habe nicht einmal ihre Stimme gehört, warum hat sie nichts gesagt, warum hat sie nichts gesagt? Endlich, ein Schmerz in meinem Oberarm, die Haut springt auf und ich fühle Blut über meinen Arm rinnen, mein Blut, die Haut platzt, es ist doch nur rohe Haut, niemals hätte ihre Haut nachgeben dürfen, die Haut eines jungen Mädchens, so eine Haut darf doch nicht kaputt gehen. Wenn ich mich auf den Boden werfe, wenn ich mir vorstelle, wie ich mich auflöse, wie ich mich mit dem Gestein vermische, mit der Nacht, mit der Straße, mit dem Wasser? Schlamm ist in meinem Mund, ich rieche feuchte Erde, mein Gesicht ist mit Schlamm bedeckt, ich lege meinen Kopf auf den Boden. Ich habe ihre Brust gespürt an meiner Wange, war ihre Brust nackt, oder bedeckt, es war sehr heiß, wie war ihr Name, wo ist sie jetzt? ICH BRAUCHE RUHE. Es gibt keine Ruhe, Ruhe gebiert Unruhe, gebiert Gedanken, gebiert Erinnerungen, was ist gewesen, wo war ich, es ist Morgen, es ist morgen, gibt es das Gestern noch, hat es jemals existiert? Nur in meinem Kopf, das Mädchen ist fort, wo ist es jetzt, vielleicht haben wir uns niemals getroffen. Was für ein Geräusch, als sie ins Wasser fiel, ich habe Fetzen ihrer Bluse auf dem Weg gefunden und ihr gegeben, sie soll nicht frieren, sie ist noch so jung. Was hat ihre junge Haut neben meiner alten Haut zu suchen, was mein raues Gesicht an ihrem glatten Bauch. Ich wäre mit ihr ins Wasser gegangen, aber was hätte ich bei ihr gewollt. Wo wird das Mädchen jetzt sein?

Maria schüttelt sich, Maria strampelt mit aller Kraft, sie möchte rufen, aber die Schwärze liegt in ihrem Gesicht und macht sie stumm. Das Plätschern des Wassers wird zu einem gewaltigen Rauschen in ihrem Kopf, es schwillt an und tobt in ihrem Kopf. Sie kämpft gegen die Schwärze über sich, die Schwärze die sie nicht kennt und die sie bedroht, die Schwärze die plötzlich aus der Nacht kam und sie vom Fahrrad geworfen hat, die jetzt über ihr liegt. Es ist alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Versuch langsamer zu atmen. Versuch deine Beine ruhig zu halten. Solange du strampelst wirst du nicht ruhiger werden. Du musst ruhiger werden, dann kannst du weiter fahren. Dir ist nichts passiert und dein Fahrrad ist nicht kaputt. Niemand will dich verletzen. Du musst nur ruhig sein, dann passiert dir nichts. Keine Angst, ganz ruhig, ganz ruhig. Versuch langsamer zu atmen, Maria, dann wirst du ruhig. Sie hatte die Absperrung übersehen, beim Stürzen hatte sie zwei Poller mit sich gerissen, einer lag auf ihrem Gesicht. Der Poller ist ganz leicht, sie stößt ihn mit dem Arm zur Seite. Nichts Schwarzes mehr über ihr, nur der Himmel, die Nacht. Ihre Hände zittern, Maria, du hattest Angst, aber wir haben dich beschützt. Dir konnte nichts geschehen. Du weißt nicht, dass wir bei dir sind, aber wir beschützen dich. Maria richtet sich auf, ihre Knie tragen nur mit Mühe ihr Gewicht. Sie stellt das Fahrrad wieder auf und hält sich daran fest. Noch einmal atmet sie tief durch, dann steigt sie auf und fährt langsam an. Das Hinterrad schleift und das Schutzblech klappert wie vorher. Bei Tanja kann sie sich ausruhen. Sie wird heute nicht mehr zurückfahren, sie wird zu Hause anrufen, dass sie bei Tanja schläft. Ihre Bluse ist zerrissen, Tanja wird ihr eine geben.

Ich presse meine Zähne aufeinander, der Sand knirscht in meinem Mund und in meiner Faust. Ich schlage den Kopf auf den Boden, er soll wieder summen, ich möchte Schmerzen spüren, keine Gedanken. Es summt nicht, es schneidet und beißt, es lenkt die Aufmerksamkeit nach außen, auf meine Stirn, die Gedanken hämmern zu den Schlägen meines Kopfes, in Fetzen, Stücke die aufeinander liegen, ein Stück Bluse, Sand, welche Farbe hatte ihr Haar, ein Biss in meine Schulter, könnte der Schmerz doch bei mir bleiben, solange es summt sind meine Sinne nicht bei mir, es gibt keinen Sinn, nicht hier, nicht in mir, nicht irgendwo. Ich beginne wieder zu laufen. Dort sind die weiten Arme des Flusses, hier schüttet sich der reißende Bach in den Fluss. Der Bach ist der Bruder des Flusses, er ist jung und kräftig, er greift nicht langsam nach der Welt. Er nimmt sie sich an einem Tag.
Ich höre das Summen der Pumpen, sie versuchen die Keller zu beschützen vor dem Wasser, aber es wird kommen, sie bauen Türme aus Sandsäcken, sie werden überflutet werden. Das Wasser wird Sieger bleiben. Weiter, die Vögel zwitschern, alles schwimmt. Der Weg am Fluss, gestern war er noch da, jetzt ist er überspült, das Wasser hat den Sand fort getragen, das Blut und den Schweiß, die Angst lag auf dem Weg und jetzt ist sie fort, das Wasser hat sie mitgenommen. Ich habe mich in der Kette festgehalten, Drehung, rechts, links, jetzt bin ich wieder allein mit mir, ich laufe, ich stolpere. Vor mir liegt der Bach, er giert nach der Welt und reißt Stücke aus ihr heraus, die er verschlingt. Wozu die Sandsäcke, sie sind keine Opfergaben, sie sind nutzlos, aber er wird sie mit sich nehmen. Der Weg ist überspült, es ist nichts mehr da von gestern Abend. Wo ist das Mädchen jetzt? Nur noch mein Kopf hält alles zusammen, das Mädchen, den Weg, das Fahrrad, das Plätschern, die Bluse, das Blut, es existiert nicht mehr, es kann nicht wiederholt werden. Den Weg gibt es nicht mehr, warum gibt mein Kopf ihn nicht frei, lässt ihn gehen. Ich höre den Bach. Hier steht ein Haus und der Bach peitscht an die Wand. Der Bach frisst an ihr herum, er nimmt ihr den Halt, kratzt sie kaputt. Ich setze mich nieder, mit dem Rücken zur Wand und schaue in den Himmel, in den Morgen. Es ist hell geworden. Der Bach sprudelt laut, als würde er kochen. Kein Vogel zu hören, kein Summen, kalte Luft weht vom Wasser zu mir. Die Erde ist feucht und die Mauer ist matt. Der Bach nimmt uns mit, mich mit meinen Gedanken, das Haus, die Steine. Steine auf meinen Armen, ich spüre meine Arme, kaltes Wasser an meinen Beinen, meinem Rücken, das Tosen fließt in meinen Kopf hinein, höhlt ihn aus und sprengt ihn auf, meine Erinnerung, meine Gedanken spritzen in den Morgen, weichen von mir, sie liegen breit verstreut und werden mitgerissen, niemand wird sie zusammenlesen können. Das Blut aus meinem Kopf, mein Blut, fremdes Blut, das Blut des Mädchens. Der Bach will alle Wände, er nimmt das Haus, es gehört ihm. Wir haben auf dich gewartet. Wer hat auf mich gewartet, niemand hat auf mich gewartet. Wir wussten, dass du kommen würdest. Was macht ihr hier? Wir passen auf, dass du nicht zerfällst. Ich will nicht, dass ihr meinen Kopf zusammenhaltet. Weißt du, wie sich eine Hand anfühlt. Eine Hand, die sich auf deine Stirn und auf deine Augen legt? Ich will die Hand nicht, ich will das Summen. Wir werden dir Ruhe geben. Ich will keine Ruhe, Ruhe gebiert Unruhe. Wir werden dir wahre Ruhe geben. Es gibt keine Ruhe für mich, es gibt nur den Weg, das Mädchen, das Blut, die zerrissene Bluse. Der Weg ist überspült. Aber er war da und in meinem Kopf existiert er weiter. Wir wissen, was in deinem Kopf geschieht. Aber du kannst beruhigt sein. Wir haben es ungeschehen gemacht. Wir haben es ungeschehen gemacht, während es geschah. Wir haben das Mädchen gehen lassen. Aber das Blut unter meinen Nägeln? Es war nie da. Der Biss in meine Schulter? Er wurde nie gebissen. Und der Weg? Der Fluss hat ihn überspült, und wäscht ihn rein. Wie hieß das Mädchen? Wir werden dir den Namen nicht geben. Und auch das Mädchen werden wir dir nehmen.

Ich sitze am Bach, er frisst sich in die Straße, ich schaue ihn an und er brüllt zurück. Wir sind keine Feinde. Du hast mich gewaschen, kaltes Wasser. Meine Hände sind sauber. Mein Gesicht ist ohne Schmerzen. Zwischen Daumen und Zeigefinger halte ich ein Sandkorn. Ich schließe die Augen und rolle das Sandkorn zwischen den Fingern hin und her. Ich spüre es sehr deutlich, dieses Korn. Das ist alles. Jetzt: Das Korn zwischen den Fingern. Der sanfte Druck der Finger. Das Korn.
Frederik Hartig: über den Autor