No 7 - Mon Corps II / Mein Körper II
Gerinnung
Marcus Heinicke
Ich sah in mich hinein. Er sah dabei zu. Sie drehte sich um, und ging. Das Blut der drei gerann, wie soll man sagen, zu einem eigenen, selbstständigen Körper.
In mir, in den Winden meines Innenlebens, dachte mein Körper nicht, was ich die ganze Zeit denken wollte. Großer Epilog zur Eigentlichkeit. Verlorene Gedanken, so, als ob ein Lied vergeht und ein nächstes gespielt wird, mit anderer Melodie, anderer Geschichte - in einem anderen Äther. Verwischt die Spuren, die geschrieben wurden, um Vergängliches zu sein, nicht Stetes, Dauerndes. Die lange Dauer ist vorbei - die großen Erzählungen vorüber. Dafür war der Blick in meinen inneren Wendekreis zu verschlungen, zu verkrebst. Man kennt die Gebäude, die tatsächlich ganz eigene Körper bilden, wie der Dünndarm um tausend Kurven sich winden. Irgendwann, irgendwo ein grün-weißes Schild - Notausgang. Es rennt, und alles verliert sich. Draußen regnet es, der Schlamm liegt weit über dem Trottoir, alles gerinnt erst, wenn die Sonne es gut mit uns meint. Es begann wirklich alles an einem Regentag, den Rest wird diese kleine wahre Geschichte zeigen. Wir wissen, alles was uns umgibt ist wie eine Innerei wahrhaftig real. So sei es. Und wir könnten beginnen…

Der Anfang war, und das Ende war ihm ähnlich. Wie das Lesen, als wenn das Auge nur die Buchstaben lese, ohne, dass die Ohren zum Herzen hin geöffnet werden.
Und alles begann in einem Spiegelsaal, es sollte auch da enden. An einem Nachmittag, es hätte irgendeiner sein dürfen, regnete es - deswegen war die Zeit sinnvoll zu durchqueren, um in einem geschlossenen Raum, vielleicht einem Museum, die Laune zu vertreiben. Cura, zufällig, entdeckte, wie sich die Idee ihm anbot. Ohne großes Umsehen befand er sich im Museum, ohne die durch den Regen trüb gewordenen Autos zu betrachten, und selbst den Regen nicht wahrzunehmen. Seine Tropfen nicht als Teil und nicht als Ganzes in sich aufzunehmen. Beschäftigt mit anderen Bildern, die ihn hinderten, ein stetes Innenleben zu führen.
Für wenig Geld, mit belangloser Lust, ein wenig getrieben und doch von Interesse, kaufte Cura sich das Billet, um die Welt der Filme zu betreten. Und so kam ihm, beim Eintreten in den Spiegelsaal, die Idee, ein Bild. Zuerst von selbst, natürlich, und dann der Gedanke an Versailles, obwohl doch dieser Saal in B. sich befand. Klein, und vergrößert durch die Magie des Sehens, durch die Vervielfachung seiner selbst bei Betrachten seines Äußeren. Als würden tausend fremde Augen dich obduzieren, und es doch deine eigenen sind. Starrten ihn an. Ein kleiner Raum, mit einer Spiegelhaut getarnt. Und das war der Anfang der Geschichte. Die Welt ist ein Spiegelsaal, und du bist Narziss. Welch verblüffende Tiefe Cura umgab, wie das Gold des Rheins, einer der Filme des Fritz', die Monstren der Architektur.
Kaum B. verlassend, oder war es Versailles?, schwebte Marlene ein, mit all ihren nicht bunten, aber durchaus dramatischen Kleidern. Geschaffen, wie für sie - und trotzdem auch nur ein Mensch - ein Spiegel im Spiegelsaal der Welt. Die schöne, tiefgründige, unschuldige Marlene. Und Cura, vom letzten Regen noch immer durchnässt, sah, wie sich der Film bewegte, in seinen Bewegungen durch die Jahre der Geschichte, wie er laufen lernte, und dachte - dass alles laufen lernt, um letztlich zu straucheln. Wie Leni mit ihren machtvollen Ausstattungen. Ohne Prunk an ihr zu sehen, wie waren Lenis Bilder geschickt, wie bewusst sie sie gedreht hatte, geschickt wie sie angeordnet wurden. Hier in diesem Museum. Und zwischendurch fragte sich Cura mutterseelenallein, laufen die Geschichten hin zu einem Ende, die des Films, die anderen und die meinigen…?
Der Film, der deutsche, war erwachsen, gesetzter, auch vornehmer, oder eloquenter geworden - auch, oder gerade weil geteilt, weil die Geschichte in den Geschichten spielte. Aber der Spiegelsaal faszinierte den jungen Cura, sah er sich doch gerne selbst, wie die meisten, ohne es zuzugeben. Doch auch ohne diesen Zusatz vergaßen es wiederum viele, früh, vor dem Spiegel. Wenn er sich rasierte, den Blick am Stoppel Haar, und vielleicht noch im spiegelnden Auge - meist doch aber unsichtbar für sich selbst, wie der Wolf in der dunklen Steppe. Was Frauen machten, wusste er nicht, wahrscheinlich aus Gewohnheit das Schminken. Wohin die Geschichte führt? Draußen regnete es lange nicht mehr, obwohl im Museum keine Fenster zu sehen waren.
Der Himmel über B. war schon lange entvölkert, die neue Zeit war bis jetzt gut ausgekommen ohne Engel. Ohne die Pathetik, mit vielen glatten Fassaden. Die Siegessäule von Wim, das war, war einmal. Entvölkerung spürten Filme. Die Melancholie, Abschied zu nehmen, eine Metaphysik ohne Engel.
Und wieder begegnete Cura einem Spiegel. Einem laufenden, spielenden Film. Er, der Sehende fragte sich: Was ist dies, das Wahre und Reale? Wie als ob das Stück Film direkt von der Spule in unser Gehirn weitergespult wird. Was waren die Bilder? Filmrollen, oder die Maschine, das Licht, vielleicht die Leinwand. War es unser Auge, die sie suggerierten, hypnotisch aufnahmen. Die Bilder in unserem Kopf drehen sich weiter, wie die fortgesetzte Gehirnspule, einem Lebensfilm gleich. Und wieder drängte sich eine Schicht eines neuen Spiegelbildes in die tiefen Zellen von Curas Nerven ein, und wanderte weiter in die Ungründe seines Seelenapparates.
Er vergaß sich, und das Museum wurde immer mehr zur filmischen Nebensache. Natürlich regnete es draußen. Bestimmt. Es war ihm doch als Bild in seinem Apparat gegenwärtig. Es sah in ihm Bilder, wie er im Mutterschoß lag, und vorher ankam im Leib im Gebärwasser. Er erinnerte sich. Es war der richtige Tag dafür.
Der Film lernte endlich wieder laufen. Weil der Rainer und Götz, Volker und viele mehr unbedingt die Wirklichkeit, ihre Bilder in unseren Augen spiegeln sehen wollten. Und wenn Cura dem Brillenträger gegenüber in die Augen sah, bemerkte er zuerst die Bilder auf seinen Brillengläsern, die sich spiegelten, als wären es seine eigenen, inneren. Und wo führt dies alles hin? Man weiß nicht alles vorher im Leben. Die lange Dauer ist hinweg - entzwei die großen Erzählungen. Und im Nachhinein erinnert man sich nicht an so vieles. Ach, Museen sind nicht immer Musen, auch wenn sie so viele Bilder in unser mattes Hirn projizieren. Die vielen Bilder schmerzten Cura, es ergab dies keinen Sinn mehr, der Regen, der Film, das Museum. Es war schön, für sich. Bei ihm war es fehl am Platz. Und wahrscheinlich wurde es langsam Sonne, und der Regen rann in den Straßen nach unten durch die Kanäle. Er drehte sich ein letztes Mal um, wanderte noch einmal durch Versailles, B. und 100 Jahre Film. In ihm spielte es Melodien. Keiner war bei ihm, als er das Haus verließ. Und das Lachen spiegelte sich trotzdem an seinem Mundwinkel. Und die Sorgen waren entschwunden.
Sein Körper gerann langsam den letzten Jahren entgegen. Später, nach dem Sterben, erinnerte er sich gerne an die Geschichten des Films, die ihm während des Besuches im Museum erfüllten.

Ich sah ihn sterben, und wusste, es sei nicht vergebens. Alle verworrenen Geschichten des Nachts haben wenigstens einen Sinn. Sie haben auch ein Ende und einen Anfang, so wie das Leben aber keines hat von beiden. Denn auch der Film gerinnt nicht zum bloßen Körper als Spule im Projektor. Er gerinnt zum Blut in meinem Gehirn und wird dort zu Bildern gleichmäßiger Zeitlosigkeit. Nicht alles im Leben hat scheinbar einen Sinn. Und wozu gibt es den Film? Um sich ein Stück der wortlosen Hülle des hüllenlosen Seins anzunähern. In diesem Sinn freue ich mich über Anfang und Ende einer jeden Erzählung und warte auf neue Bilder aus den Räumen der Bilderflut, zeitlos. Die große Dauer ist entblößt - es werden noch einst viele kleine Erzählungen zu Körpern, Leben gerinnen.
Marcus Heinicke: über den Autor