No 6 - Mon Corps / Mein Körper
 
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Rüdiger Saß, Zeichnungen: Michael Blümel
I.


Zuerst werde ich steinschwer, dann wandele ich mich zu Erz und Eisen, ich, Bläschen Stompax. Mein Innerstes kehrt sich um und kehrt - nach außen gekehrt - nie wieder zurück. Mein Ich dreht sich vor seinem Spiegel. Es blickt auf einen begnadeten Schlafwanderer, in das Gesicht eines Schlangenmenschen, auf die Kopffront eines Schlänglers. Text wächst. Alle meine Körperzellen zittern. Geräusche bewegen sie, sie schütteln sie und rütteln sie. Mein Ich eine Insel der Ruhe im Ozean des Lärms. Vor mir der Fluß, er wird der Pausierende genannt, darauf Meeresriesen dampfen, husten und trompeten. Über mir Stahlvögel, die auf meinem Dach zu landen versuchen. Und hinter mir - in Sichtwurfweite - das Einfallstor zur Metropole, durch das sich Blechkastenspieler zwängeln und drängeln: stinkend, stänkernd, ruckelnd und zuckelnd.
Ich sitze im Entzug. Mein Körper baut Betäubungsstoffe ab. Er strampelt Gifte von sich. Das nervöst mich. Es lärmt. Nicht, daß mir das etwas ausmacht. Nein, es macht mich rasend. Ich rase. Auf dem Rasen. Ich rase auf und über den Rasen irgendeines Parks in irgendeiner Stadtlandschaft. Nein, nicht irgendeine. Es ist Humbug, mein Humbug. Es humbugt, oder genauer: es humbugvormittagt.
Die Luft ist voll: Ein Rasenmäher rötert, Autos lärmen nah und fern, dort schaufelt jemand, da fallen Kiesel auf Zementplatten. Ein schnüffelnder Hund, Kinderstimmen und - immer noch - die unendliche Vielfalt des Vogelgezwitschers.
Blusen und Bettlaken wiegen sich - von Wäscheleinen herab - in lauen Winden. Sie dünsten Wintermief ins Hellblau des Himmels, auf dem sich Kondensstreifen von Lindberghs Enkeln abzeichnen. Tausendundzwei Insekten tanzen neben Baumstämmen. Sie formen geometrische Figuren, wenn sie einander berühren.
Und diese lästigen, forschenden, in Ohrnähe bedrohlich brummenden Wespen. Verdammt sollen sie sein diese Häscher meiner Unruhe!
Ich habe nichts zu sagen, außer daß ich altere. Dabei dehne ich mich nicht aus. Ich dünne mit dem Alter aus. Nicht dünnen, dummen. Mein Geist tut weh! Mein Geist gefriert, erstarrt und stirbt. Zeit, Zeiten und Zeitalter rennen. Sie verlaufen sich vor meinen Augen. Ich fühle meine Zeit im Kommen. Der Unterschied zwischen gefühlter und tatsächlicher Zeit, daß heißt Lebenszeit sei an einem Breispiel aus der Arbeitswelt erläutert. Ein Arbeitsvertragssklave, der acht Stunden pro Tag nichts bis wenig zu tun hat - ein Mensch im "Überhang" wie ihn Krämereiwissensschaffner nennen - dieser Tunichts fühlt diese acht Stunden wie Harz oder Honig verfließen, wie in Zeitlupe, wie aufblähenden Teig, obwohl acht Stunden unter Normalgeschwindigkeit acht Stunden sind. Ein anderer hingegen, ein Adrenalinzombie, ein von Termintermiten Getretener, der Fahrer eines Wagens der Chefklasse, ein Chefklassewagenhinterbänkler, dem die Arbeit aus dem Hintern spritzt, er spürt acht Stunden wie Sanduhrsand durch die Finger rinnen. Kaum hebt dieser Hauruckmensch seinen Schwielenschädel aus den Akten, hat das Jahr sein Ziel erreicht. Ein Jahr wie ein Tag, wie acht Stunden! Ein Tag wie der andere. Nur die Kulissen vor den Chefklassewagenfenstern wechseln. Alles andere ist Laufradplackerei, Tretmühleneintönigkeit. Natürlich sind sowohl Laufrad als auch Tretmühle aus purem Gold, aus Ansehen und Macht. Und Routine. Aber das macht nichts - im Endeffekt, letzten Endes.
Diese Betrachtung abschließend sei gemerkt, daß der Tunichts mehr vom Leben hat als ein Vielwirk. Ersterer, mag er sich langweilen, soviel er muß und will, mag er sich in sich versenken, mag er im Gram versinken, er lebt länger als der zweite, denn er spürt jede Sekunde doppelt und dreifach, und der spürt sie am eigenen Leib, wie Harz oder Honig. Ziehe daraus seinen Schluß, wer will.
Vielleicht sollte ich das Schreiben für später aufheben, mich auf Traumschwingen setzen und abheben, Regen zuhören - eins ist sicher: es wird auch in hundert Jahren regnen! - vielleicht sollte ich mit meiner Tochter, mit Stutzel spielen, den Fernseher aufheben, mich nach Hause gähnen und umziehen. Vielleicht sollte ich lernen, nicht trinken noch rauchen, Feiern Feiernden überlassen und ein Stück weit über Mittag verschnarchen.
Ein Blick aus dem Fenster verrät: Das Volk geht aus, geht weg, sich zu amüsieren. An Ostern häuft es sich, sich aneinander zu reiben, zu wärmen. Das dünkt mir, während ich mich zu dergleichen Tun unfähig befühle und feststelle, daß ich die Wörter in den Büchern heut nicht fassen kann. Sie entglitschen schwitzenden Hirnfingern, und Hirnchen schreit und schmerzt.
Selbstgeschaffenes Alleinsein artet nicht in Alleinsamkeit aus wie ein Fürsichsein, in das man geworfen wird oder gestolpert ist. Verschlägt es mich aufs Land, in die Abgeschiedenheit, dann wuchtet die Erfahrung meines Ich wie auf einem Amboß. Das ist anders, wenn ich einen Weiler beleben will, wenn ich weiß, wohin ich gehe, worauf ich mich einlasse.
Schreckensgäste tummeln sich vor meiner Tür, Kuhbuben, Kürbisköpfe. Sie schwallern, und sie stinken. Wann gehen sie aus?
Der Horizont brennt. Elektronen werden auf die Reise geschickt, um Kopfschmerzlicht gegen das Dunkel kämpfen zu lassen. Raubtieraugen werfen Lichtkegel auf Asphalt. Schattengestalten verunsichern die Dämmerung. Umrisse tauchen aus Winkelwelten auf und schwinden wieder.
Der Horizont verglüht. Allunendlichkeit drückt den Himmel nieder, sie verhängt ihn mit den Nebeln der Nacht. Ein Riesenschritt für die Menschheit dröhnt durch die Stille, er blinkt, bis er optimale Flughöhlen erreicht hat. Weiße Wohnkübelaugen glotzen recht winklig ins Nichts. Federvieh zischt über Wohnwürfels Dreispitz, und die Silhouette des Zivilisationsträgers tastet an den Grenzen seiner Vegetationsschachtel entlang, auf der Suche nach dem Lichtschalter.
Die Woche endet. Sie verendet wie Schlachtvieh, wie ein überfahrener Igel, ein Hase, ein Reh. Und, geh auch ich aus? Nein, ich bin drin, weiter, tiefer als je zuvor. Ich bleibe mein Gefangener. Doch spür' ich mich nicht mehr. Habe das Gespür fürs Nichtstun verloren, fühle keine Zeit zum Leben mehr. Hasse Lebemänner und bin so dumm, Dumme zu hassen. Unvernunft nagt an meinem Verstand. Knabbern in den Gehörgängen, Hirnreißen. Lautstärkeleien von Primaten, Alltagsschallen und Schellen von Bildungslücklern, Kopfzerbrechern.
Aufatmen am Wegesrand der Zeit. Meine Nachtnachbarn feiern außer Haus, Vielfeiernde, Jünger der Aufregung, der Elektrizität. Meine Nachbarn, Schwersthörige, reißen an den Reglern ihrer Fernsehgeräte und Musikmaschinen. Sie stolzen, wie laut Dumpfsinn schreien kann. Aber, mit Verlaub, worin zweckt der Schall?
Motorenstillstand abends um halb acht. Zwanzig Sekunden Stille, bevor der nächste Verbrennungsmotorenfetischist, der nächste Bewegungsdrängler über meinen Kopf rollt, fliegt und schifft. Lärmbengel zeichnet steifes, kaltes Schweigen aus, Geistschweigen.
Ein anderer Nachbar bläst sich einen ab. Er tut es hinter vorgehaltener Hand. Immer tut er's, nie tut er's gut. Um spielen zu können, um sein Instrument zu beherrschen, gehört Übung. Aber Lernen ist ihm lästige Arbeit, und Arbeit schenkt ihm Ausschlag. Und so bläst er sich die nächsten Jahrzehnte genauso einen ab wie die letzten, ob anderer Leute Ohren abfallen oder lauschen. Er bläst. Und wenn er's tut, dann ist er.
Mein Nachbar, ein Irrtum; mein Nachbar eine Nacktbar? Nein, ein Versehen. Er lebt im Wahn, Musik zu lieben. Er, der Würstler und Schweineschlächter, er bildet sich ein, und sagt es - wie peinlich! - er sei Künstler. Sei's drum. Er tut's. Ist das schon Grund genug, aufgeschnappte Melodien zu verpfeifen, ohne Taktgefühl, ohne Struktur? Darf man das? Mein Nachbar ein Falschpfeifer. Die Einbahnstraße seines Blasspiels! Talentiertes Untalent wie siehe oben. Einfallsreiche Einfallslosigkeit. Jahrzehntelanger Stillstand. Der Würstler pfeift aus dem letzten Loch. Der Würstler trötet Endlosschleifen, Wiederholungsstreifen.
Eigentlich möchte ich spazierengehen, so mir nichts, mir immer noch nichts meiner Wege dünkeln, hinaus in die Frühlingswirklichkeit vor meinem Fenster. Ich will, ich will, ich will! Ich treibe zur Tür hinaus. Aber nein, meine Füße so schwer wie die Bibel, meine Muskeln verkatert wie nach neunnächtlichem Rauschüberfall, mein Magen - ein Unratzwischenlager - verstopft wie ein Klo und meine Hirnmasse schweigsam wie ein indischer Asket.

II.


Einmal im Jahr fahr ich mit dem Zug, einmal...und dann bleibt er auf unansehliche Zeit stehen, von einer Bombendrohung beeindruckt. Kaum scheint die Sonne, drehen alle durch. Verdammt! Die Schlaffner und Schlappwänste hinter mir schmatzen, seit der Zug stillsteht. Hungerdämonen tauchen auf, wenn nichts und niemand muckst. Sie schleichen sich mit der Stille, mit dem Schweigen ein. Mich ekeln Menschen, von denen ich nichts spüre als malmende Kiefer, Vipernschmalz zwischen den Zähnen zerschmatztend. Bitte, Zug, fahr weiter! Ich halt das nicht mehr aus. Und kommen wir im Bombenhagel um, dann wenigstens pünktlich, zur rechten Zeit.
Dämonen meiner Jugend sitzen mir im Nacken. Angstasseln, Vergangenheitsfurien und Gleichmachergespenster trampeln auf meiner Leber herum, sie ballasten meine Seele, sobald ich der drei letztverrieselten Tage gedenke, zweiundsiebzig Stunden im Tiefdarm der Provinz. Es ist seltsam - nicht, wenn man aufs Land fährt, irgendwohin, um sich zu erholen - es ist seltsam, jene Erdhäuflein heimzusuchen, wo man Mama gesagt, oder über die man die Schultüte geschliffen hat. Hirndellen, die ich längst geglättet glaubte, tun sich wieder auf, Hirnmesser zur geistigen Selbstbeschneidung, Scharfschneiden, die ich längst herausgezogen hoffte, schmerzen wie in alten Zeiten. Wenn man das Glück oder Unglück hat, in ein seit der Steinzeit unverändertes Elternhaus heimzukehren, zu einer Wiege, darin Angstkranke leben, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß die Seele zwischen Außenweltangst - dem Zittern vor eingebildeten Meinungen der Nachbarn - und ewiger Versagensfurcht einklemmt. Ich schrumpfe mit der Kleinstadt, ich laufe zu einem Zwerg ein, zu einem Kobold mit einem Sack schwerer Schuldgefühle auf den Schultern. Ich bin ein Zeitzonenreisender. Fünfzehn, zwanzig Jahre zurückgeworfen in provinzielle Enge, in Kleinstadtbeklemmungen. Vater versprüht den Kleinheitsvirus. Vater ist Gefangener. Er leidet an lebenslänglicher Verunsicherung. Hinter jedem Fenster feindliche Augen, hinter jeder Bauchbürgerfassade lauern Mißgunst, Neid und Todesurteile.
Wohin ich gehe, schlägt die Zeitaxt zu. Gräben furchen Gesichter ewig Daheimbleibender. Ruderer auf der Galeere der Gescheiterten, seit damals, als ich meinen Schatten von Straßen und Häusern löste. An allen Wegen haften Erinnerungen. Ich spüre Ablehnung. Wie damals. Die Sitzengebliebenen verkaufen noch immer kleine Brötchen, oder sie klauben Kot, kehren Schutt und Schatten von Fußwegen und Fahrbahnen.
Mutter Sonne ist mir aufgegangen. Zeit, Sinn zu stiften. Es gilt, Einzelnes zusammenzufügen, den Blick zu weiten, ihn über Himmel, Erde und Hölle schweifen zu lassen.
Vor Jahren rollte mich mein Fahrrad einen Hang hinab. Vor uns räkelte, entfaltete und streckte sich eine Frühlingslandschaft. Ich konnte sie nicht sehen. Ich weilte in ebensolcher Paradiespracht in mir. Gefangen und versunken. In einem wachen Moment standen Riesenlettern vor mir auf: Träumer!
Eine in sanften Wellen hingestreckte Landschaft, flach für Bergbewohner, Hügelketten in sonnengebleichten Grüntönen, mit Weizenfeldern, die noch reifen, mit Raps, gerade verblüht und zäunende Knicks.
Blattwerkschatten flattern auf dem Papier, auf dem Feldweg, sie tanzen zu Melodien lauer Lüftchen.
Das Konzert der Bienen, Wespen, Hummeln und einer Vielzahl der sie fressenden Vögel, sie alle singen und spielen die Schöpfungssymphonie.
Eine tausendjährige Eiche, welche Wanderer und Zeiten vorüberziehen sah, sie scheint zu warten und wartet dennoch nicht. Ich sage zu ihr: "Du hast es gut. Du weißt zu leben, Du strahlst Ruhe und Verständnis aus." Die Eiche rauscht: "Was bleibt mir anderes übrig? Wie gern würde ich einmal fliegen."

III.


Stadtluft macht frei. Stadtluft befreit von Provinzneurosen. Wer nicht gern in Hundehaufen tritt, geht gesenkten Hauptes durch die Straßen. Die Zahl derer, die ihre Alleinsamkeit mit Kötern behandeln, ist Legion. Ein Kläffer Grund genug, die Wohnzelle zu verlassen.
Daß man das Haus nur noch verläßt, um im Konsumtempel zu beten, liegt daran, daß es andere Gründe - zum Breispiel einen Hund - nicht mehr gibt. Mag es Angst oder Phantasielosigkeit sein, die Warenform, der Konsum schafft Befriedigung und in gewisser Weise Sinn. Anschlußstellen im Wind.
Eine Terrasse wartet auf Gäste, auf den Frühling. Ein einziges armseliges Brasilienfähnchen, ein vergessener Gruß lugt aus einem Blumenkasten hervor.
Menschen zeugen Kinder wie Autos oder Kriege. Sie wissen nicht, warum sie etwas machen. Dabei denken sie nur an sich, an Geld, Macht und Ansehen, kurz: an Wohlfahrt und Wohlleben. Diese Wohlfahrt streckt sich bis zur Hausgrundstücksgrenze. Die Familie, die dahintersteckt, fällt vielen Eigentümern lästig. Dieser Gedankensamen keimt allmorgendlich auf, wenn Mißmutgesichter Kutschen mit Verbrennungsmotoren besteigen, wenn sie fossilierte Kleinstlebewesen in eine Unschuldsumwelt jagen, damit der Krach das Kettengerassel ihrer Sklavenkarrieren übertönt und übertüncht, auf daß Abgase, Ruß und Staub ihre Kümmernis, ihre kranken, gekränkten Seelen beneble und berausche, auf daß sie Geschwüre in ihre Körper pflanzen.
Aus Angst vor Einsamkeit binden sich viele Menschen, sie klammern und fesseln sich aneinander. Das Liebesglück, die Leidenschaft so fern! Der Pulsschlag entscheidet, Herzklappenklappern. Gefühle wie gelesen, wie nicht selbst erlebt, Gefühle wie vor langer, langer Zeit. Sie ist weg, ich rieche sie nicht mehr. Aber hat die Musik nicht jene Welt wieder auferstehen lassen, jene Geisterwelt, da unsere Gesichter nicht gar so gar aussahen? Brote tanzen, wenn Wehmut mollig im Magen musiziert.
Mit dem Gedankenexpreß dahindampfen. Festhalten oder loslassen. Anhalten oder weiterfahren. Bilderrauschen, -verrauschen. Auch arme Menschen können reich sein: an Zeit und Kindern, an Gefühlen, Gedanken, an Gesundheit. Mutter Sonne ist mir aufgewacht. Zeit zur Sinnstiftung, Zeit, die Ärmel aufzukrempeln und auf Sinnbaustellen herumzuwerkeln.
Es aprilt, und es sommert, zumindest frühlingt es. April ist, wenn es regnet, die Sonne dazu scheint und sich Regenbögen biegen. Häßlichkeit ziert die Welt. Sudelbuben, Ekstasezucker sowie Sturnaturen verschandeln den Parkrasen wie Autos die Straßen. Ein Mann, eine Frau, ihr Geliebter, dessen Vater, der Patriarch, und ein Wachhund. Geilheitsergriffene und Krötentänzer beleidigen meine Augen, meine Ohren, Dunstmacher und Dünstler, Spiegelfechter beleidigen mich und meine Sinne. Doch nicht meckern! Ich darf dabei sein. Wieder einen Frühling erleben. Stubentemperatur an frischer Luft, Radfahrer auf Fußgängerwegen, startende und landende Düsenschmetterlinge, Mutter Sonnes Kosungen. Will mich glückbesetzt schätzen, daß ich nicht zu Staub zerfalle. Noch nicht. Hallo Mütterchen Sonne, danke, daß Du mir auch heute scheinst! Wieviele Frühlingserwachen werde ich noch miterleben? Wie oft dürfen sich meine Lungenflügel noch mit Blütendüften vollaufen lassen? Mehr als Glück, Augenblicksgesellschaften erleben zu dürfen, die Inszenierung des Alltags. Was im Film, auf der Theaterbühne soviele Mühen und gezwungenerzwungene Leichtigkeit kostet, das spielt sich vor meiner Nase mit aller Selbstverständlichkeit und zum Selbstkostenpreis ab. Das Leben spielt seine Rolle, und ich darf sein Chronist sein.
Es lenzt. Duftblüten blühen, allerlei Grünes schießt aus dem Boden, Baby schläft, Brummerbrummsummen, Vögleinsingeln. Wölkchen und Schäfchen ziehen dahin. Gerüche und Geräusche flattern, rauschen und berauschen. Insekten und Primaten bevölkern allerlei Grünflächen. Langläufer nehmen nicht ab, so lang und lange sie auch laufen, und sei es über Murmansk zum Nordpol und zurück. Sie spucken die Stöpsel nicht aus, mit denen sie die Löcher ihrer Sehnsucht stopfen. Sie sollten öfter aufs Klo gehen. Das schafft mehr weg als die Sinne Ruhesuchender zu verunfreuen. Aber sachte, ich, und immer lächeln!
Während Amokläufer auf dem Schießplatz ihren großen Auftritt proben, schwärmen Arbeitsbienen aus der Gärtnerei, Maulwürfe aus der Baumschule. Sie überfallen den Park. Die Bienen pflanzen Farbtupfer, Sinnenbetörer, sie zupfeln Unkraut, und sie säen Rasen für Faulenzer, für Schlafferer und Schlapper, Erholungsseen für Hintern und Auge. Wildwucherungen bekämpfen sie mit Messern, mit Scheren und mit Sensen, Messer, die von Motoren gefletscht werden. Sie brummen und brüllen, sie toben, und sie tosen. Die Maulwürfe legen Wege an, sie fällen Bäume, heben Gräben aus. Ein Arbeitsstier, ein Pfannenkopf mit Glühaugen und Schlauchschnabel, arbeitet sich vor einer Zischbuche in den Boden. Schon steht er bis zur Hüfte in der Erde. Mich dünkt, der Schlauchschnäbler hebe sein Grab aus.
Kackt mein Kind, schneidert sie unterschiedlichste Grimassen. Mein Kind ist Kommunist. Es ist noch nicht durchkapitalisiert. Werbe- und Lebensstilstrategen haben noch nicht Besitz von ihm ergriffen. Noch nicht.
Vor mir ein Ziertempel, eine Rotunde, Modell "Wiederaufbau". In der Mitte weder Steingott noch Bronzeführer, kein Altar, nur eine kreisrunde Sitzbank. Der Baumeister hatte seine Lektion gelernt. Die Teutonen sind nach zwei Weltbrandstiftungen dazu übergegangen, die Menschen zu feiern, und nicht Kaiser, Könige noch Tribunen. Doch schon winken neue, junge Lichtgestalten, lugen Bahnbrecher über den Horizont. Genforscher versprechen herrliche Zeiten. Bald schon würden Bäume zu Weihnachten blühen, bald würden Gurken, würden Tomaten und Pilze aus dem Atomkraftwerk, von der Sondermülldeponie unsere Teller zieren. Genversuchsergebnisse als Diener und Aufwärter, die Parkbänklern Eis und Kaltgetränke reichen? Wir dürfen auf eine schöne, auf eine neue Welt warten, darin rüstige Rentner, Zweihundertjährige, wimmeln. Auf Speiseeis gelegte Alterung, langgezogene Sterbekurven. Feiern wir uns selbst! Feiern wir den Menschen aus dem Genbaukasten!
Was wir auch machen, ob Laufen, Radeln, Springen, Spielen, wir tun es nicht bewußt, wir hinterfragen unser Tun vielleicht im Nachhinein, aber nicht während wir dabei sind. Wir tun wie Trinker mit Filmriß, wie Verlorene, wie Deliranten. Trösten wir uns mit einem Satz Meister Rabelais': "Denn die Zeit, die alle Dinge auffrißt und mindert, mehrt dagegen und häuft die Wohltat."
Hirnschläge strecken einen Spazierer zu Boden. Nie hatte er daran gedacht, sein Leben in einer Pfütze zu vollenden, nach sechzig, siebzig Jahren Luxus und Überheblichkeit, nie hätte er gedacht, nach einem Dasein in trockenen Tüchern in einem Parkwegwinkel aus seinem Füllhorn geschubst zu werden. Eine, Frau, eine Blühende, sucht zu helfen, was zu helfen ist. Der Sterbende ruht zwischen Ohrensesselbrüsten, sein Kopf spürt Nähe, Wärme noch einmal, die Aufregung eines Herzens.
Ziehen die Schwalben mit den Wolken? Wohin? Lösen sich beide auf? Regnen sie sich ab, wenn sie meinem Blickfeld entschwindeln? Oder vergißt sie mein Bewußtsein, abgelenkt durch eine Kopfbewegung, Neues sichtend? Der Vorteil unserer Gegenwartsgebundenheit liegt darin, daß der Zeitverlauf nie in Langweilwelten versickert, weil wir so schnell vergessen. Wer erinnert im Sommer den Geschmack von Schneeflocken? Wer kennt im Schneesturm das Gefühl, in der Strandsonne zu braten, außer die Sehnsucht danach? Wie schnell verschüttet die Erinnerung an einen Freund, der nicht mehr hier, sondern woanders auf oder unter der Erde weilt? Meine Antwort auf Wandel und Schrecknüsse lärmt: "So ist das Leben! Es geht weiter, bis es nicht mehr weitergeht."
Meist kaufe ich Scharteken, während meine Tochter schläft. Ich kaufe alte, gelesene und gelb gelegene Bücher, während mein Baby sich nicht rührt. Das älteste Lesewerk zählt hundertdreizehn Jahre, mein Kind acht Monate. Ich weiß, daß ich sterben werde, falls mein Körper hundert Jahre schaffen sollte. Hundert Jahre sind keine Ewigkeit. Das beschäftigt mich seit frühester Jugend. Das ballastet, das traurigt mich nicht, denn ich denke an Stutzel. Sie trägt die Fackel, sie leuchtet in die Zukunft.
Mich trösten altgelesene Bücher und die Widmungen darin: von unbekannter, längst vergangener Hand gezeichnet, und meine Tochter träumt: Es war einmal...Was weiß ich über August Braunnaht? Ich weiß, daß er tot ist, denn sein Nachlaß lagert im Laden des Entrümplers Haarbreit Nacktläufer. Dort, beim Bücherkistenkramen und -wühlen, stieß ich auf Daseinsreste, auf Wirkungssplitter dieses Menschen. Ein Reiseführer läßt auf Italieninteresse, vielleicht Leidenschaft schließen. Darin ein Besitzstempel: "August Braunnaht - Lehrer - Markt Haag in Niederösterreich." Wie kommt ein Reiseführer aus Niederösterreich nach Niedersachsen? War A. Braunnaht, Lehrer, aus beruflichen oder familiären Gründen von der blauen Donau an die graue Elbe gezogen? Auf jeden Fall muß er seinen Wohnsitz gewechselt haben und fern der Heimat verstorben sein, denn seine Hinterlassenschaft umfaßt mehrere Kartons voller Scharteken, denen er seinen Besitzstempel eingedrückt hatte, Billigbände aus der Zeit von 1900 bis 1970. Für dieses Papiermühlenfutter nimmt auch ein Hintertreppenentrümpler wie Haarbreit Nacktläufer keine zweitausend Fahrkilometer in Kauf. Einige hundert Allerweltsbücher der Rest eines Menschen, der vermutlich längst vermodert ist, dessen Grab aufgelassen und der Grabstein auf dem Friedhofskehricht wartet, an einen Steinmetz verschachert zu werden, um - geglättet und geschliffen - einen neuen Namen nebst Lebensdaten zu ertragen.
"August Braunnaht - Lehrer - Markt Haag in Niederösterreich.". Ob er Volksschullehrer war oder Gymnasialprofessor, bleibt im Dunkel. Darüber schweigt sich der Eigentumsvermerk aus. Er muß Gymnasium und Universität besucht haben, sonst hätte er - selbst zur damaligen Zeit, um 1900 - nicht Lehrer werden können. Übrigens, seinen Besitzstempel braucht er jetzt nicht mehr. Vielleicht ist das Exlibris Herrn Bs. letzter Daseinsbeweis. Telephonbücher und Nachschlagewerke schweigen sich über ihn aus. Schwächegefühle steigen zu Kopf, mir schwindelt, wenn ich dran denke, daß mich Stempelfarbe überlebt. Was ist ein Mensch? Sein Leben scheint so flüchtig wie das einer Eintagsfliege. Was wissen wir vom Dasein, Wirken und Wandeln des August Braunnaht mehr, als daß der Abiturient an einer Universität zum Lehrer ausgebildet wurde und als Italieninteressierter an mindestens zwei Orten der Welt gelebt hatte? Erlebnisse, Aussehen, Vorlieben und Gewohnheiten starren wie Katzenaugen aus kraterdunklen Löchern der Vergangenheit, und sie erlöschen mit dem Hinscheiden derer, die ihn kannten. Aber vielleicht hatte er keine Bekannten, oder er war für sie zu Lebzeiten schon gestorben, begraben, vergessen. Es ist anzunehmen, daß er keine Angehörigen besaß, und wenn, dann einen Bruder Nachlässig und eine Schwester Desinteresse, sonst würde Haarbreit Nacktläufer seine Bücher nicht feilbieten. Vielleicht - als letzte Variante - hat August B. die Seinen überlebt und schied als Sippenletzter aus dem Leben, zusammen mit Erinnerungen und Bildern einer fernen, abgelebten, weggelegten Zeit.
Die Blühende mit den Ohrensesselbrüsten, eine Schimmerschnepfe, sesselt sich. Sie sesselt sich neben mich, obgleich der Park mit Bänken reich beschenkt und sesselübersät ist, Gelegenheiten, worauf sich Sonnensalven oder schwarze Witwen räkeln. Sie sucht das Ohr eines Schweigers, die Nähe eines Nickers und Nichtlings. Erschrocken über den Schwelger, den Lebensherbstler, der sich ins Schattenreich hinübergehaucht hat, verstört über die Nähe des Todes, wirft ihre Zunge alle Barrieren des Anstands auf einen Haufen. Ich blicke auf eine Lebenslandschaft, in eine Zeitkonserve gepreßt, auf das Achterbahndasein Dietzi Zubehörs, der Tagelohnschreiberin. Vor meinen Augen entfaltet sich eine einsame Wüstenpalme, eine Suchende, eine Sehnsüchtelnde, eine Anbeterin der Venus. Schimmerschnepfes Zauberwort heißt Dutzi Dackadacka, ein Name, der sie aus dem Kerker ihres Ich, aus ihrem Leidensloch herausreißen soll. Diezi Zubehör malt das Bild ihres Retters in den Parksand: ein Arbeitsstier, ein Pfannenkopf mit Glühaugen und Schlauchschnabel. Meine Augenblicke wandern zur Zischbuche. Vom Maulwurf ist nur noch der Pfannenkopf zu sehen. Die Blühende, die meiner Sehstraße gefolgt ist, hebt sich und ihre Ohrensesselbrüste. Dann macht sie sich, ohne Rückblick, ohne Gruß, davon.
Mein Kind erwacht. Zeit krähender, krakeelender Hungerdämonen, Zeit zum Rückzug durch den Windkanal. Als ich mich zum Gähnen und zum Gehen wende, sehe ich Dutzi Dackadacka, allein, ohne Zubehör. Der Arbeitsstier, die Schaufel über der Schulter, schlendert zur Baumschule zurück. Die Doppelobjektive seiner Pfannenkopfkamera gleißen und glimmen, sie verbrennen, sie verglühen.

Rüdiger Saß: über den Autor
Michael Blümel: über den Künstler