‹‹‹ No 5 - La Banque / Die Bank
 
 
Vom Tod in der Bank
Zürich, ein Portrait im Dunklen
Serge Meitinger, Übersetzung: Katja Roloff, Fotos: Nicolas Jambin

Warum verwandelt sich der junge Angst - denn dies ist sein wahrer, sein echter Name - auserwählter und zugleich verdammter Spross der zürcher "Goldküste" in Zorn und in den Kriegs- und Frühlingsgott Mars - so seine Pseudonyme - mit dem Ziel der symbolischen Verwüstung seines Erbes? Vielleicht weil das Fundament Zürichs, dieser unermessliche Schatz, über den diese scheinheilig stille und friedliche und gütig Stadt, fromm und bigott, mit wachendem Auge ruht, Kriegsbeute ist, hemmungslose Anhäufung dessen, was der Tod anderer und der eigene Tod eingebracht hat. Vielleicht weil man überhaupt nichts anderes als Totes horten kann: Die stolzen Banken, in denen man so sicher ist, wie in einem Bunker, ja, die ganze Stadt sind ganz sicher nichts weiter als gut angelegte und bequeme Gräber.

Fritz Zorns Text erscheint 1977, etwa zur selben Zeit wie Jean Zieglers Streitschrift Eine Schweiz über jeden Verdacht erhaben. Er geht jedoch weiter, stößt tief bis zum in diesem Falle metaphysischen Zentrum der schweizerischen Achtbarkeit vor. Tatsächlich denunziert der provokative und agitatorische Soziologe Veruntreuungen globalen Ausmaßes, die mehr oder weniger in Zusammenhang mit der Ausbeutung der Dritten Welt stehen, und zeigt, welch angenehme Zuflucht und sichere Straflosigkeit sie im Steuer- und Finanzparadies des schweizer Geldschrank finden, wo die Anonymität der Kunden mit dem berühmten Prinzip der Nummernkonten gewahrt bleibt. Zorn hingegen sieht die eigentliche Ursache seiner Krankheit, seiner Auszehrung durch das Leiden, das ihn zernagt und vernichtet (Krebs oder bösartiges Lymphom) in der überaus wichtigen und absoluten Achtung des "comme il faut", das den Umgang in der Welt der vornehmen zürcher Bürgerlichkeit und damit der herausragendsten Vertreter schweizerischer Achtbarkeit und feinen Benimms diktiert. Zorn entwickelt keine Hypothese zu den besonderen Gründen, die diesen kategorischen Imperativ mit der verschleierten und indirekten Beschlagnahmung der Reichtümer weltweit in Verbindung setzt. Doch er zeigt an seinem persönlichen Beispiel die verheerenden und unheilvollen Auswirkungen dieser Verbindung auf. Hierbei versteift er sich nicht auf die Kritik, die er an bestimmten Personen, vor allem an seinen Eltern übt. Er unterlässt direkte Schuldzuweisungen und zeigt, dass letztere selbst nicht mehr sind als Opfer, die ihrerseits Opfer hervorbringen… Er spricht von einer neurotischen Veranlagung, dem Erbe einer seelischen Krankheit aus der die Essenz der bürgerlichen schweizer Persönlichkeit besteht und so auch die der zürcher Persönlichkeit: Die Unfähigkeit, bei welchem Anlass auch immer, dem Übermut und dem Einfallsreichtum des Lebendigen, dem fruchtbaren Chaos der Lebendigkeit zuzustimmen aus der exzessiven Sorge darum "niemanden zu stören"; die Unfähigkeit, irgendetwas Wichtiges mitzuteilen, etwas aus seinem Innersten, oder selbst etwas Ehrliches, weil man fürchtet, das Gegenüber durch solche (Selbst-)Enthüllungen unangenehm zu berühren oder gar zu schockieren. Diese Blockierung jedweder flüssigen und lebendigen Kommunikation, dieses grundlegende Defizit sind vielleicht die metaphysische Kehrseite des schweizer "Bankgeheimnis", vielleicht die Zusammenkunft protestantischer Strenge und durch und durch verschlagener kapitalistischer Diskretion: auf jeden Fall verbreiten sie, sind sie einmal am Werk, ein totengleiches Leben, stellen vielmehr ein Verbot zu leben auf und arbeiten der Zerstörung zu.

"Zu Tode erzogen", wie er sich selbst nennt, und in dieser Hinsicht viel zu gelehrig, erbaut Zorn aus seinem Fall das Symbol einer kollektiven Perversion, an Ort und Stelle verkörpert durch seine eigene Geschichte. Er beschreibt sich mehr oder weniger als einen Autisten, der in der Unmöglichkeit lebt, für andere etwas zu empfinden, weder Gefühle noch Begehren, dem Sexualität vorenthalten ist. Als hätte er für sich und in sich die weitergetragenen Normen und Werte radikalisiert, sie so absolut zugelassen, so wörtlich, dass er sich jede Möglichkeit der Empfindung und der Öffnung verwehrt. Die uneingeschränkte Achtung des gesellschaftlichen Anstands, des Schicklichen bestimmt ohne jegliche selbstständige Reflexion seine kulturellen Vorlieben in der Musik, der Literatur, der Malerei wie auch seine freundschaftlichen und sozialen Beziehung und schließlich seine politische Meinung. Tatsächlich ist das Buch - Mars -, das den Skandal herbeiruft, Frucht einer verspäteten Bewusstwerdung. Sie tritt durch die Krankheit in Erscheinung und wird zu Waffe für eine Schlacht, einen totalen Krieg. Geschmiedet hat sie der Hass auf das, was ihn tötet. Weil der Körper nicht genesen kann, es keinen Ausweg ins Leben gibt, ist das Werk die einzige Konkretisierung des aufgenommenen Kampfes, des durchlebten, angenommenen Leidens und schließlich des durchschimmernden Sieges. Zorn entdeckt also, dass man wesentlich mehr Mut aufbringen muss, um der Wirklichkeit des Realen in ihrer aktiven und problematischen Vielfalt zu begegnen, einer schroffen Wirklichkeit ohne wenn und aber, als wenn man sich in den so genannten "höheren Werten" einrichtet, sie widerstandslos mit der angeborenen Ideologie annimmt. Der friedvolle Idealismus, die sie mit sich bringen, leitet eher, er spürt es und weiß es von diesem Moment an, zur Faulheit an als zur Handlung, indem er eine autistische und todbringende Erschlaffung schnell zum Ideal erhebt.

Während seines inneren Kampfes gegen diese falsche Ruhe und für "Sinn" und "Klarheit", malt er sich aus, ein virtueller Terrorist zu sein, ein helvetischer Palästinenser und "die Schweizerische Kreditanstalt in Zürich in die Luft zu sprengen". Dies ist jedoch nur eine Rachefanatsie:

Auch aus anderen (…) Gründen leuchtet es ein, daß es nicht mein wirkliches Anliegen sein kann, Zürichs schönste Bank in einen Schutthaufen zu verwandeln, denn das, was dieser Ort für mich verkörpert -der Platz, wo der Inbegriff meines todbringenden Erbes geballt gehortet wird-, kann ich nicht mit Dynamit in die Luft sprengen. Die Schweizerische Kreditanstalt ist auch der Inbegriff des Zürcherischen, des Bürgerlichen und des Schweizerischen in seiner schlechtesten Erscheinungsform; aber dieses bösartig Zürcherische, Bürgerliche und Schweizerische befindet sich nicht in einem aus Stein gebauten Haus, das man explodieren lassen kann, sondern diese bösartige Substanz steckt mir in den Knochen, und die Knochen werden nicht mit Dynamit geheilt. ( Mars, S. 197)

Nur mit einer Sorte Dynamit hantiert Zorn und lässt sie bewusst und wissentlich explodieren: die der Worte. Der junge Mann schreibt seit langem, seit seiner Kindheit Theaterstücke für Marionetten, Komödien, komische Opern und Novellen…Doch das alles, ebenso wie die Puzzle und Rebus-Rätsel, die er selbst mit dem Scharfsinn eines Virtuosen erdenkt, dient allein zur Unterhaltung, kommt von einem Geist, der sich für grundlose und vergnügende, unterhaltende Einfälle hergibt - das ist nicht von Bedeutung, selbst in seinen eigenen Augen und jeder, er voran, erwartet, dass er sich anschickt, sich endlich in das hinein zu wagen, was man "das echte Leben" nennt, in eine ernsthafte Laufbahn… Das ist der Eintritt in den Krankheitszustand und in den letzten Kampf, den dieser (heilsame und absolute) Bruch mit der Leblosigkeit einleitet, und der den (amüsierenden) Amateurschriftsteller die wirkliche Macht der Worte, der Waffe, die er schon sicher in Händen hält, entdecken lässt. Mars ist die Frucht dieser Entdeckung, die Bombe, die ins Zentrum des tödlichen Systems gelegt wurde, sein Vermächtnis. Er entdeckt zugleich die Ernsthaftigkeit literarischen Schaffens wie auch seine Fähigkeit zu zerstören und zu erlösen. Doch die Zeit und die Kraft fehlen ihm, um zu einem echten Künstler, einem vollendeten Künstler zu werden. Ihm ist nur die Zeit gegeben, das Lügengerüst seines Lebens zum Einsturz zu bringen, zu zerschmettern und zu zerstören, nicht aber durch einen Zuwachs urzeitlicher Rohheit auf den "bodenlosen Boden" zu gelangen, auf dem erneut aufgebaut und endlich gelebt werden könnte. Er erspäht in der Ferne das Ziel und stirbt mit 32 Jahren bevor er überhaupt anfangen konnte, auf sich zuzugehen.

Ein weiteres Buch, klein, selten, kostbar, versucht in Zürich, im und durch das Sein der Stadt selbst, diesen Zyklus zu vollenden und zu zeigen, was er sein könnte, wenn er sich schließt. Versuch der Zerstörung einer Stadt durch die Malerei von Christian Doumet verbindet die Stadt der Geldschränke mit der Welt Delacroix', wie sie sich vor Ort auf einer Ausstellung im Kunsthaus zeigt (5. Juni - 23. August 1987). Der Text begleitet den Zeitraum der Ausstellung, säumt ihn zugleich mit einer Liebesbeziehung, die vor demselben Hintergrund an Sinn gewinnt. Es handelt sich zunächst um ein empfindliches Paradoxon, das durch die Bewegung des Schreibens nach und nach gebändigt wird:

Es stand hier etwas auf dem Spiel, dessen man sich zunächst kaum bewusst war, was bald jedoch hervorstach: Menschen zu sehen, die mit dem Tode ringen, Schaum auf den Lippen, und das im Finanzzentrum des gemütlichsten Landes der Welt.

Doumet kommt auf brillante Art und Weise immer wieder auf jene Gemälde Delacroix' zurück, die die Lebendigkeit des Körpers und seine souveräne fleischliche Kraft zum Vorschein bringen in eben jenem Moment, in dem er der Grausamkeit und dem Schmerz, dem Leiden und dem Sterben verfällt, in dem das lebendige Fleisch sein wahres Wesen im Schwinden, im Leid und im Todeskampf erkennt. Dies rührt her von einem Verfall bis hin zur Raserei (radikaler noch als Barbarei), bis hin zum blutigen Krampf, bis hin zum "Schaum auf den Lippen" und dieses Bild hat Sprengkraft. Ohne dass man es anfangs erahnen könnte, sprengt Delacroix auf seine Art die Bollwerke, Panzer und Burgen der Bankenstadt, bricht ihre Schätze auf und überlässt sie den Barbaren zur hemmungslosen Plünderung. Doch vor allem sprengt er all ihre Schutzwälle, ihre aalglatten Annehmlichkeiten, um die Stadt, ihre Bewohner und ihre Besucher erneut auf das nackte Ufer des Sees zu schleudern in einen Kampf mit den weitläufigen oder beschleunigten Regungen von Land und Wasser, von Pflanzen- und Tierreich, von Schlamm und Strömungswirbeln ... Unter der modernen Stadt, unter dem monumentalen, augenscheinlich unerschütterlichen Kunsthaus, regen sich wieder Schlick und Schlamm, Strömungen, Algen und Raubtiere, Parasiten und Fleischfresser. Sich der Betrachtung dieser Gemälde hinzugeben bedeutet, mit Dankbarkeit diese Rückkehr zu den wildesten Wurzeln anzunehmen. Es bedeutet, unter den Grundmauern der Stadt und ihrer Urbanität zu graben hinein in jene Zeiten, in denen der Sumpf auf der Seite des Sees herrschte, auf der das Wasser in die Limatt stürzt; in denen die Moränen das Eis der Alpen zurückhielten.

Das Kunstwerk schlägt, wenn es vollendet ist, somit eine Schneise in die Künstlichkeit der heutigen Welt, um ihr unstetes, schwankendes, jedoch grundgebendes Fundament freizulegen. Es ruft eine Nacktheit, eine Rohheit, eine Zerbrechlichkeit in Erinnerung, die sich der nicht umkehrbaren Brutalität der Urhandlungen annähern: die Liebe (das Begehren und seine vielen Unterfangen), der Tod (der leidende, kranke, dahinschwindende Körper), der Kampf (mit sich selbst, mit anderen und dem Fremden)... Dies vor allem wenn die Ausdruckskraft der Romantik diese angeborenen Leidenschaften (wieder) zutage treten lässt ... Dennoch handelt es sich, trotz des Leidens- und des Todesschauspiels, trotz der Zurschaustellung der verwüsteten Ruinen und Trümmer nicht um eine Todesbotschaft: da sich der Taucher schon in die Tiefe gestürzt hat, geht es darum, den Dingen auf den Grund zu gehen und schließlich wieder an die Oberfläche zu gelangen und lebend, lebendiger aufzutauchen ... Man muss den Tod in all seiner "Klarheit" kennen, um dem Leben "Sinn" zu geben und des "Glücks" fähig zu sein (die Begriffe "Glück", "Sinn" und "Klarheit" hat Zorn zu den Schlüsselbegriffen menschlichen Schicksals ernannt). Der junge Angst konnte, selbst unter der doppelten Maske von Zorn und Mars, in seiner Sache den Fuß nicht auf Grund setzen. Das Werk Delacroix' vollendet den Versuch, indem es dem Betrachter ermöglicht, den Fall aller ihn umgebenden Mauern, die Auflösung der Strenge und festgesetzten Formen zu erleben und damit "einige Momente der Nacktheit zu durchqueren, die [ihm] den Eindruck [geben], eine werdende Seele zu sein" (Virginia Woolf, die Doumet als Inschrift zitiert).

Zorn würde vielleicht sagen, dass er mit einer ruhigen Seele geboren sei, oder zumindest, dass man ihm seine Seele und sein Herz seit der Geburt beruhigt habe. Er hatte dennoch verstanden, dass der "Schatz" nicht dort lag, wohin man ihn verwies, sondern vielmehr in dem Moment roher Entblößung, im Loslassen vielmehr als im Zusammennehmen, im "comme il faut". Monique Verrey, eine Freundin und Mitschülerin des jungen Fritz Angst, schreibt ihm einen posthumen Brief, in dem sie zweifellos das Gewicht seiner Neurose unterschätzt und Zorns Mutter, die auf einem Altar des gerechten Zorns geopfert wurde, in Schutz nimmt. Sie bezichtigt den Sohn geradezu egoistischen und unreifen Handelns (in gewisser Weise verteidigt sie sogar, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Enteignung der Bank und seine Enterbung!). Sie spürt trotz allem, wie sehr die Worte, die Namen (vor allem die Eigennamen) für Zorn-Angst Hauptankerpunkt waren und wie viel alles an ihnen für ihn von Bedeutung war. Als er Mars in Comano, bei seinen Freunden, den Schatzmanns, beendet, macht sie folgende Bemerkung: dies
[…] lässt mich denken, sagte sie, dass du immer wieder zu den Schatzmanns gegangen bist, eben weil sie Schatzmann hießen und dass du, je näher dein Tod rückte, mehr und mehr das Bedürfnis hattest, diesen Schatz zu finden, der bloß ein Symbol ist für das, was die Jungianer die "Mana-Persönlichkeit" nennen. Warst nicht du selbst der Schatz, den du bei den Schatzmanns finden wolltest, war das nicht deine Seele?
Wenn das, was auf der Bank und im moralischen Fundament der Stadt angehäuft ist, wenn das Erbe vom Tode stammt, wo soll man dann nach dem Schatz suchen, wenn nicht in der Schneise, die den Weg aus dem Grab weist, aus den grabesgleichen und städtischen Annehmlichkeiten des Mausoleums? In der Erdspalte, die zwar zum Tod führt, doch mit dem Ziel des (erneuten) Lebens!

Literatur:

Fritz Zorn: Mars, München, Kindler Verlag, 1979, Erstausgabe 1977
Christian Doumet : Tentative de destruction d'une ville par la peinture, Sens, Obsidiane, Collection "Les Solitudes", 1990.
Monique Verrey : Lettre à Fritz Zorn suivi de Le premier puzzle de Zurich par Fritz Zorn, Lausanne, L'Aire, "Dossiers Z", 1980.

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