‹‹‹ Nummer 4 - FORTSETZUNG
 
 
Der Tanzkurs
Mathieu Roux, Übersetzung: Karl Heinz Klumb

Meine Finger trommeln auf dem Lenkrad meines Wagens. Das Seitenfenster ist zu drei Vierteln herabgelassen, mein linker Ellbogen ruht auf dem Rand der Scheibe und das Gliederarmband an meinem Handgelenk klimpert gegen das Plexiglas. Die warme Luft zerzaust leicht meinen dichten blonden Haarschopf. Meine Sonnenbrille gibt mir das Aussehen eines Surfers. Ich fühle mich wohl als Kalifornier - die Residenz Santa Monica hat ihren Namen nie so zu recht getragen. Der Himmel ist so blau wie ein Swimmingpool. Ich fahre sehr langsam, passe mich vollkommen den Bögen der Kurven an, erlaube mir sogar den Luxus, zweimal im Kreisverkehr herum zu fahren. Es ist so gut, so erfrischend, so zu fahren und dabei stets die gleiche Geschwindigkeit einzuhalten. Wie ein Satellit, der seine Umlaufbahn um den Globus beschreibt, so kreisen mein Auto und ich um diesen uns eigenen Globus, einen grasbewachsenen Erdhügel, der mit fremdartigen Blumen bepflanzt ist. Schwieriger dagegen ist es, diese kalifornische Art auf der großen Verkehrsader, die in die Stadt führt, durchzuhalten. Hupen und Kreischen reißen mich aus meiner angenehmen Entspanntheit, ich bin gezwungen, schneller zu fahren, mich von meinem aufkeimenden Glück zu trennen. Sie wollten es so. Ich beschleunige plötzlich vom zweiten in den fünften Gang und beginne ein verrücktes Rennen, überhole Pkws und Lastwagen mit einer verblüffendenLeichtigkeit, wechsle die Fahrspuren wie eine tollwütige Schlange und entkomme dem Tod dank meiner Gewandtheit und eines unglaublichen Glücks. Nach einigen wenigen Minuten bin ich vor dem Gebäude aus rosa Stein, das eine weiße Inschrift in der Höhe der ersten Etage ziert. Auf dieser Inschrift kann man lesen: Gemischte Tanzkurse Jeanne Nugent Alle Stufen Alle Arten. Ich parke meinen qualmenden Wagen vor dem verglasten Parterre des Hauses und entschließe mich, zu warten und dabei die Zeitung der Residenz durch zu blättern (ich bin zu früh, viel zu früh, wenn man bedenkt, dass ich gewöhnlich etwas zu spät bin, und ich hasse es, mit den Eltern der anderen Kinder gemeinsam zu warten, deren klebriges Gerede mir wie Feigenpüree den Magen aufwühlt). Während ich dabei bin, mit gebeugtem Rücken und dem Gesicht in Höhe des Lenkrads auf der Suche nach meiner Zeitung, das Handschuhfach zu durchwühlen, und eine Fliege auf meinem Gliederarmband schaukelt und manchmal so hüpft, als handle es sich um ein Sprungseil, um ihre kitzelnden Flügel gegen die drei feinen und hervortretenden Venen des unteren Teils meines Handgelenkes zu stoßen, und ich sie mit einer heftigen Bewegung der rechten Hand verabschiede und damit das unmittelbare Zufallen des Deckels des Handschuhfaches verursache, wird mein Blick angezogen von einer Gruppe von Kindern, die hinter der Glaswand des Tanzkurses sich im Rhythmus bewegen. So entdecke ich, dass ich nach Belieben durch einen genügend großen Zwischenraum (etwa fünfzig Zentimeter), den der nicht vollständig herabgelassene Vorhang bildet (ein zu kurzer Vorhang? Aus Absicht? Aus Nachlässigkeit?) das Ende des Tanzkurses beobachten kann, ohne von den verdutzten Mamas belästigt zu werden. Die Kinder bilden einen unausgeglichenen Kreis, der in gleichbleibenden Abständen und, so stelle ich es mir vor, auf ein für mich unhörbares Signal einer geheimnisvollen Musik sich auflöst, wobei jeder sich einmal um sich selbst dreht, um dann sofort wieder die Hand seines Kameraden zu fassen, und so fortfahrend im sich ständig verstärkenden Rhythmus des Reigens bis zu Heiterkeitsausbrüchen der Jüngsten, deswegen zur Ordnung gerufen von der besagten Jeanne, die mir sehr steif erscheint und wegen des Umfeldes (die Anwesenheit der Eltern) sogar noch strenger. Mein kleiner Bruder kommt gar nicht schlecht damit zurecht. Ich sehe an seinen mechanischen Bewegungen und an seinem abwesenden Blick, dass diese Choreographie ihn kaum begeistert, aber ich muss wohl der einzige sein, der dies bemerkt, denn er hat das Talent, alle Schritte und Figuren perfekt nachzumachen, die Jeanne vor ihnen wiederholt mit einer gereizten Miene, so als würde sie sich zum tausendsten Mal und umsonst verausgaben, um ihr schöpferisches Genie zu zeigen. Mein kleiner Bruder ist mit seinen Gedanken ganz woanders, aber sein Körper gehorcht, und Jeanne sieht darin nur Begeisterung (ich glaube sogar, dass sie ihn lobt, wenn sie ihm auf die Schulter klopft und dabei mit den Augen meine Mutter sucht, und die Mamas sich zwinkernd umsehen.). Der Kurs ist nun zu Ende, Jeannes Gesichtszüge entspannen sich, und jetzt beglückwünscht man sie, sie ist der Star, sie umkreist man mit wohlwollender Aufmerksamkeit, während die Kinder in die Garderobenräume enteilen, um sich umzuziehen, und man kann den Eindruck gewinnen, dass sie all das nur für diesen Augenblick tut, die rauschende Belohnung der Erwachsenen, von ihresgleichen, nach der Undankbarkeit, die sie von den Kindern zu ertragen hatte. Fasziniert von diesem Anblick, einem wahrhaft aufgeregten Bienenschwarm, den die eifrigen Väter bilden, indem sie ihre Taschentücher hinhalten, damit Jeanne ihre triefende Stirn abwischen kann, schrecke ich auf, als sich die Beifahrertür öffnet und sich sofort mit gewaltiger Heftigkeit wieder schließt.
Was für ein Look ist das? Glaubst du, du bist in Miami?
Verflixt, ich hatte dich nicht herauskommen sehen. Ziehst du dich nicht um?
Eher sterbe ich.... Ich will RAUS HIER, ICH WILL WEG! Ich werde mich zu Hause umziehen, und außerdem, du weißt doch, diese Atmosphäre der Umkleideräume...
Stell dir vor, Alterchen, ich habe noch andere Pläne...
Wieso denn?
In der Strumpfhose wirst du Klasse aussehen...
Nimmst du mich mit, um Mädchen zu treffen?
Noch besser....
Einverstanden, aber unter der Bedingung, dass du diese lächerliche Brille abnimmst.
In jedem Fall hast Du von Stil keine Ahnung.
Mein kleiner Bruder betrachtet mich von oben herab und lacht dabei höhnisch (wie der mir auf die Nerven gehen kann, wenn er sich so benimmt), öffnet seine Tasche und beginnt sich umzuziehen, die Beine bald nach oben streckend, die Zehen treten und rubbeln den abgewetzten falschen Velours der Decke, während er an seiner Jogginghose zieht. Mit wütender Handbewegung rollt er seinen Anzug zu einer Kugel zusammen, stopft ihn in seine Tasche und seufzt.
Ich: Hast du deine Sprache verloren?
Mein kleiner Bruder: Ich bin gerädert, total kaputt.
Ich (lachend): Man muss schon sagen, dass sie euch ganz schön herumkommandiert diese Jeanne ...
Mein kleiner Bruder: Du hast mich gesehen?
Ich: Ja, ich habe euren Reigen bewundert. Man hätte sagen können eine therapeutische Übung.
Eine Art Ringelreihen von Verrückten in der Irrenanstalt.
Mein kleiner Bruder: Oh, sonst noch was? …. Ich erinnere dich daran, dass ich einen Auftrag habe. Und dass es DEINE Idee ist. Und dass mich das NICHT SONDERLICH erfreut.
Ich: Schon gut, ich scherze...
Schweigen.
Ich: Hast du heute etwas mehr darüber erfahren können?
Mein kleiner Bruder: Mag diese Madame Jeanne auch die heimliche Geliebte des Königs sein, aber weißt du, sie redet nicht viel darüber zu den Schülern ihrer Tanzkurse. Sie begnügt sich damit, sie anzuschreien, und einige von ihnen zu loben, wie.....
Ich: Ja, ich habe gesehen. Aber dir ist es nicht gelungen zu ....
Mein kleiner Bruder: Nein, sie ist immer anwesend, und sie lässt ihren Kalender nicht mitten im Raum herumliegen.
Ich: Ihre Tasche... Sie hat doch bestimmt eine Tasche, alle Frauen haben eine Handtasche.
Mein kleiner Bruder: die ihrige sieht einem Wanderrucksack ähnlich. Ich habe ihn genau gesehen, aber ich hätte gute zehn Minuten gebraucht, um darin zu wühlen. Also heimlich...
Ich: Gut, gut, in diesem Fall....
Die dumpfen Geräusche der Stadt verschwinden im Rückspiegel. Die Straße wird in dem selben Maße schmäler wie die Häuser seltener werden. Wir fahren auf einem Feldweg mit überaus tiefen Fahrspuren. Einige Kühe weiden auf hügeligen Wiesen, die magere Zäune mühsam begrenzen. Der Horizont ist frei und ein wenig leicht gekrümmt. Die Sonne, niedrigstehend, blendet nicht mehr (aber ich behalte meine Sonnenbrille auf.) Mein kleiner Bruder fragt mich nach unserem Ziel, ich bewahre ein stummes Lächeln. "La Plage du Galet Mort?" ("Der Strand des toten Kiesels"), vermutet er. Ich bin schrecklich enttäuscht: "Wieso kennst du den?" Er sagt stolz, der Frechdachs: "Jeder kennt diesen Fleck. Aber das ist eine gute Idee, der Ort ist wirklich toll. Wissen die Eltern Bescheid?" Die Eltern, die sind im Zoo.
Das wird ja schon zu einer Zwangsvorstellung, sagt mein kleiner Bruder mit ernsthaft besorgter Miene.
Papa wollte unbedingt den gefleckten Fischotter wiedersehen, du weißt doch, den, der das Alphabet aufsagt, er wollte ihn auch Mama zeigen. Sie verstehen sich gut, nicht wahr?
Das ist doch ganz normal, sie sind schließlich verheiratet, oder nicht? Ja, aber schon so lange, sie hätten einander überdrüssig werden können, sich scheiden lassen, heftig miteinander streiten, ich weiß nicht.........
Du siehst zu viele Filme, mein Kleiner. So, steig aus, wir sind angekommen. Erkennst du den Ort wieder, Herr Allwissend?
Mein kleiner Bruder fragt mich, warum ich unbedingt darauf bestand, dass er sich umzieht (Hier ist kein Mensch und außerdem hätte ich gern einige Spitzenschritte auf den flachen Felsen gemacht, im Angesicht des Meeres, das wäre Stil!) Ich geruhe ihm nicht zu antworten, setze mich auf die Kieselsteine, und zünde mir eine Zigarette an. Ich rauche ganz konzentriert und betrachte das Meer. Ich frage mich, ob mein Bruder wirklich diese Gegend kennt, mein Bruder, der eine unwahrscheinliche Menge von besonders flachen Kieselsteinen einsammelt, die die Taschen seines Jogginganzugs beschweren. Er hat die Taschen seiner Jogginghose derart voll gestopft, dass das Gummi nachgegeben hat und er es mit einer Hand hinter seinem Rücken festhalten muss. Er läuft zum Ufer immer mit der Hand die Hose haltend, und seine Knie stoßen unregelmäßig gegen die Kieselsteine in seinen Taschen, die ihn zwingen, mit gestreckten Beinen zu laufen wie ein Sportler, der zum Dreisprung ansetzt. Letztlich entschließt er sich zu gehen und, indem seine Turnschuhe ihre Spuren in dem feuchten Kies hinterlassen, dreht er sich um und brüllt:
OH, BRUDERHERZ! WOLLEN WIR UM DIE WETTE STEINE ÜBER DAS WASSER FLITSCHEN LASSEN?
Mit einer Handbewegung lehne ich seine Einladung ab. Er mimt einen Seufzer von übertriebenem Missmut, hebt beide Arme hoch und lacht wie ein Verrückter, als er seine nackten Beine entdeckt, und wackelt mit dem Hintern, während er seinen Slip in die Luft hält. Ich beobachte die rötlich schimmernde Sonne, die hinter die Silhouette meines Brüderchens gleitet, und die knappe und gespannte Bewegung seines Armes, mit der er mit dem vorderen gebeugten linken Bein und kniend auf dem hinteren gebeugten rechten Bein einen Kieselstein auf das kaum gekräuselte Meer wirft. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und vergrabe sie im Sand.

Paris, Juni 2003

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« In Rom wurde er eher selten gekrönt. »
© 2003   das gefrorene meer - la mer gelée