‹‹‹ Nummer 4 - FORTSETZUNG
 
 
Dieser gute, alte Seebär
Mathieu Roux, Übersetzung: Karl Heinz Klumb

Ich sitze auf einem flachen Felsen, den Blick zum Meer gerichtet. Trotz der hellen Sonne ist es kalt, sehr kalt, mir ist kalt, sehr kalt, ich zerre wie verrückt an meiner Mütze. Ich versuche, meine Mütze in eine Kapuze zu verwandeln. Mit meinen Fingernägeln, so scharf wie Fleischermesser, versuche ich, zwei Löcher für die Augen hinein zu schneiden (ich war gekommen, um das Meer zu bewundern, das sollten wir nicht vergessen). Nun ja, und wenn schon... Ich stehe auf, vertrete mir die Beine, ich schüttele die Arme, ich fühle mich wie ein Walroß, das sich mühsam über das Packeis bewegt. Ich habe eine Idee. Ich vollführe mit geschlossenen Füßen kleine Hüpfer und schlage, auf dem höchsten Punkt meines Fluges, meine Hacken zusammen; und dies mindestens fünf, sechs mal, versuche, mit heldenhafter Hartnäckigkeit, die Blutzirkulation in meinen Füßen wieder in Gang zu bringen, Blut, Verheißung von Leben, von Wärme, von wildem Trieb. Als ich auf dem Höhepunkt des sechsten Fluges angekommen bin, und mein Blick sich nicht mehr auf meine Füße und auf den glatten, zum Meer gewandten Felsen richtet, der meinen Sprung auffangen soll (ich beherrsche diese Übung nun meisterhaft, ich bin der Weltmeister-im-Hüpfen-und-mit-den-Füßen-Klatschen), entdecke ich in der Ferne ein Boot, welches ich gut kenne. Es ist das Boot meines Onkels. Von Onkel Sylvain. Na so was, sage ich mir, und verpasse meine Landung, die Füße noch geschlossen, während sie schon die Erde berühren (aber dieser Flug hat bestimmt gute zehn Sekunden gedauert, ich hatte Zeit, Onkel Sylvain zuzuwinken, der mir geantwortet hat, und dem ich meinerseits geantwortet habe, so als hätte er mich als erster bemerkt, ich habe sogar einige Morsezeichen mit ihm getauscht, unserer Geheimsprache, dies alles in der Luft, ich habe magische Kräfte, sie werden mich zu Hause hören, "Nichtsnutz", das könnte euch so passen, pah, versucht's nur, springt ihr nur mal, damit wir was zu lachen haben). Den Hintern am Boden, aber glücklich trample ich mit den Füßen, um meinen zurückgekehrten Onkel zu begrüßen, und ich sehe ihn plötzlich laut auflachen, diesen guten alten Seebären, die Pfeife im Mund, mit einem Dreitagebart. Ach Onkel Sylvain! Da ich keine besonderen Gefühle für meinen Vater hegte, einem pensionierten Golfspieler, kein Champion, oh nein, eine kleine Lokalgröße, gerade gut genug, um Kirchweihen zu beleben, in Kirchen zu spielen, auf Flugzeugträgern, oder in Grotten, so habe ich Sympathie entwickelt für meinen Onkel Sylvain, dem Meerbrassenfischer, dem Mann aus Atlantis, der Sirene. Der Vater, den ich mir ausgewählt habe, ist er, der jetzt an dem wackeligen Ponton landet, den mein Rücken in affenhaften Rollbewegungen festwalzt. Ich begrüße meinen Onkel wie ein gutes Hündchen. Er nimmt mich in die Arme, ich fühle mich stark und schön. Ich habe Lust, ihn vollmundig (aus vollem Munde) zu küssen, ich habe Lust, die Frau zu sein, die er im Hafen zurück gelassen hat und die seitdem nichts unternommen hat, die einige Kerzen angezündet hat, die sehr viel gebetet, die aber nicht geweint hat, niemals, die würdig geblieben ist, die gewartet hat, ohne jemals an der Rückkehr ihres Überseematrosen zu zweifeln. Ich komme wieder zu mir, lockere meinen Griff, der schon peinlich wurde und gebe ihm einen freundlichen Schlag in den Rücken, vielleicht ein bißchen stärker als ich gewollt hätte, denn er scheint überrascht, er, der sich niemals etwas anmerken läßt, wenn die Kerle im Café ihn umfassen wie einen Sack Hafer, und ich rufe aus, vorgegeben (gespielt) gleichgültig: "Na, und der Fang?". Er lächelt mir geheimnisvoll zu und nimmt mich mit auf sein Boot: "Du kannst uns helfen, die Fische aus dem Netz zu holen, du wirst ja dann selber sehen". "Oh ja, gerne!" ( ich bin wieder zu dem Kind geworden, das ich nie aufgehört habe zu sein). Da, in den Maschen des Netzes, zwischen Sardinen und Drachenkopf, Meerbarschen und Seebarben, blinkt das goldglitzernde und gezackte Metall einer Krone. Faß sie nicht an! schreie ich plötzlich meinen Onkel an, Das ist die Krone des Königs. An ihm war es, verblüfft zu antworten: Ich dachte, der König sei im Exil... Ich höre dem Onkel nicht mehr zu, meine Augen richten sich gegen den Horizont, tasten die Kämme der Wellen ab, auf der Suche nach einer Hand, einem Kopf, einem Zeichen. Meine Aufmerksamkeit ist so gespannt, dass ich Tausende von Matrosenleichen aus den Fluten aufsteigen sehe. Aber dieses wogende Massengrab begleitet keinen König. Die Kraft meiner Vision lässt nach. Ich habe keine Kraft mehr. Ich lächle dem Onkel Sylvain zu (zusammengesunken, stumm, leicht blass), sage ich: Nun ja, kehren wir heim, es ist nicht schlimm, kehren wir heim. Er stimmt zu, rückt die Pfeife zwischen seinen Lippen zurecht, findet sich wieder in seine Aufgabe, unerschütterlich. Aber ich, ich habe die Angst in seinen Augen gesehen, das Skelett unter seiner Latzhose (Arbeitshose), ich habe den baldigen Tod gesehen, die Kriege und die Massaker. Heute abend werde ich eine Zigarette rauchen, mit dem Blick zum Meer, auf dem glatten, zum Meer gerichteten Felsen. Ich werde warten, ich habe alle Zeit der Welt.

Paris, Juni 2003

Paris, 2002

Mathieu Roux: über den Autor
Karl Heinz Klumb: über den Autor

 

   
"…und zwar diese Handlungen, jene Bündnisse."
© 2003   das gefrorene meer - la mer gelée