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Exzess
(betrachtet aus einer anthropologischen Perspektive)
Robert Seyfert

Die Schwierigkeit beginnt mit der Situation des Schreibens. Ist so etwas wie der Exzess be-schreibbar?

Hier verhält es sich vielleicht so wie mit Musik. Sie lässt sich angemessen wahrscheinlich nur durch den Tanz, und nicht durch Sprache oder Text interpretierend zum Ausdruck bringen. Wie bei ihr, kann auch beim Exzess ein Ungenügen der Textdarstellung festgestellt werden.
Die Betonung liegt hier auf der Transformation des Erlebnisses - des ‚Realexzess' - in einen Text. Die Transformation von Musik ist am besten durch TANZ zu leisten, weil aufgeschriebene Musik unmöglich erscheint.

Was ist dann der Text? Was hat der Text dann hier zu suchen?
"Die Erfahrung existiert nur, insofern sie kommuniziert wird - sonst ist sie nicht" (Bataille)

Dem philosophisch Schreibenden steht eine phänomenologische Analyse zur Verfügung, mit der er sich im Nachhinein in eine exzessive Situation ‚einzufühlen' versucht - er positioniert sich selber außerhalb.

[Interessanterweise haben wir hier eine sprachliche Verwandtschaft. Denn die Griechen verstanden Philosophie ja als die ‚ekstasis', als das Eks-statische, das Außerhalb-stehen. Das hat aber mit dem lateinischen ‚excedere' (siehe unten), außer der Wortform nicht viel gemeinsam.]

Der Literat hat andere Möglichkeiten. Er kann den Realexzess in einen Textexzess transformieren, den Leser in ähnlicher Weise, in eine schwirrende Atmosphäre der Bodenlosigkeit versetzt. Die Sprache solcher Texte müsste die Sprache des Exzess' sein.

Problematisch bleibt aber, dass der Schreibende ja zumeist allein schreibt. Der Exzess kann aber nicht auf die Situation der Einsamkeit reduziert werden, im Gegenteil müssen wir ihn im Plural denken.
Vor allem das Zuschauen, oder das einsame Schreiben setzt den ‚Anderen' voraus. Die eine Seite wäre jetzt anthropologisch der ‚Überstieg' aus dem eigenen Selbst (während des Zuschauens), und die andere Seite, dass die Anwesenheit von ‚Anderen' vorausgesetzt werden muss: denn selbst der allein schreibende Sade schreibt an einen Anderen - wenn auch nur an einen fiktiven Anderen.

Wir kommen an diesem Punkt um eine gewisse Definition für den Exzess nicht umhin. Und auch da begegnen wir enormen Schwierigkeiten. Die deutsche Standartübersetzung (des Duden) liefert uns folgendes: "Ex|zess der; -es, -e aus lat. excessus "das Abweichen, Herausgehen", eigtl. Part. Perf. von excedere "herausgehen": Ausschreitung; Ausschweifung; Maßlosigkeit." Das halten wir jedoch für eine vereinnahmte Variante, die sich eine (bürgerliche) Gesellschaft selbst zurechtlegt, um unkontrolliertes menschliches Verhalten in eine berechenbare und optimierbare Form zu übertragen. Eine Ausschweifung befindet sich auf derselben Ebene wie die Abschweifung - eine kurze Unkonzentriertheit, die schnell wieder unter Kontrolle gebracht werden kann.
Exzess hat unserer Ansicht nach damit nichts zu tun. Aus dieser Perspektive ist der Exzess eher der Verlust der Selbstkontrolle - Verlust der Bürgerlichkeit (selbst wenn der Exzess zu Anfang kontrolliert, und forciert wurde). Damit bringt man den Begriff des Exzess' zwar in einen eigenen neuen Definitionsbereich, aber wir gehen davon aus, dass die meisten Menschen intuitiv unserem Verständnis nahe sind, und ihnen die öffentlich ausgegebene Deutung nicht vertraut ist.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Exzess sich wohl jeder Kategorisierbarkeit entzieht. Und wenn man ihn beschreiben müsste, wäre es wohl das Ende dessen, was beschreibbar ist.

Wir haben hier stillschweigend eine Menge von Behauptungen eingeführt, die noch näher zu erläutern sind.
Wir folgen dabei Georges Bataille, der beobachtet hat, dass die Gesellschaft über sich selbst zu reduktionistischen Annahmen neigt: "Die Menschheit kann noch so viele Auffassungen über sie selbst zulassen, die von der platten Selbstgefälligkeit und Verblendung eines Vaters geprägt sind, im wirklichen Leben ist sie dennoch immer darauf aus, Bedürfnisse von entwaffnender Rohheit zu befriedigen, ja, sie scheint überhaupt nicht anders existieren zu können als am Rande des Schreckens." (1) Hiermit versucht Bataille zu verdeutlichen, wie stark das Vorurteil einer Nützlichkeitstheorie bei den Menschen eingepflanzt ist. Eine solche Theorie behauptet die durchgehende Gültigkeit des Prinzips der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit für menschliches Leben: Ein Jeder wägt in jedem Augenblick seine Handlungen ab, und entscheidet sich dann für die Handlung, die den größten Nutzen verspricht.
Um einer solchen Vereinfachung zu entgehen, setzt Bataille dem nun das Prinzip der ‚unproduktiven Verausgabung' entgegen, mit der Betonung, "daß in jedem Fall der Akzent auf dem ‚Verlust' liegt, der so groß wie möglich sein muß, wenn die Tätigkeit ihren wahren Sinn erhalten soll." Damit stellt Bataille ein dialektisches Gleichgewicht her. Die Menschen verfolgen sehr wohl ‚produktive' und nutzenorientierte Ziele, dies gilt allerdings nur solange, wie es um ihren puren physisch-biologischen Erhalt geht. Darüber hinaus legt der Mensch aber Verausgabungstendenzen an den Tag, mit denen er sich seines eigenen Wesens, oder seiner eigenen Existenz versichert.

Für uns ist die gesellschaftliche Tendenz zu ‚unproduktiver Verausgabung' wichtig. Wir werden dieses soziale Phänomen nun mit der anthropologischen Kategorie der exzentrischen Positionalität Helmuth Plessners verbinden.(2)

Plessner entwirft eine Philosophie des Menschen, die versucht die menschliche Position ins Verhältnis zu ‚Welt' zu setzen. Grundsätzlich ist damit der Versuch verbunden, Konstruktionen zu umgehen, die als implizites Axiom den ‚Mensch als Krone der Schöpfung' (Geist, Bewusstsein, etc.) mitführen. Die Abgrenzungen zu anorganischer, organischer und tierischer Welt müssen dann anders getroffen werden, als nur über das Bewusstsein - oder den Geist. Plessner versucht das über die Position der jeweiligen Lebensform.
In seiner Stufentheorie des Lebens ist der Sprung vom Tier zum Menschen, das Außer-Sich-Sein können. Der Mensch kann zwischen sich und der Umwelt einen Bruch feststellen: "Er lebt diesseits und jenseits des Bruches als Körper und Seele und als die psychophysisch neutrale Einheit dieser Sphäre." Er ist dreifach positioniert: er ist Körper, er ist im Körper (Seele), und er ist Außer-Sich in dem Sinne, dass er auf Beides von Außen schauen kann. Daraus lässt sich nun auch das Verhältnis zu ‚Welt' erklären. Es öffnet sich eine Außenwelt, ein Verhältnis zur Innenwelt wird möglich, und die soziale Sphäre entsteht als Mitwelt.

Mit einem Satz könnte man sagen, dass die Exzentrizität des Menschen die Grundvoraussetzung für exzessive Zustände ist.
So setzt beispielsweise das Orgiastische immer auch ein Verlassen können des eigenen Zentrums voraus. Tiere haben möglicherweise Orgasmen - Orgien aber erlebt nur der Mensch. Denn eine Orgie bedeutet das Aufgeben von Distanz - Verlassen des eigenen Zentrums.
Dies kann durchaus kontrolliert vonstatten gehen, ist aber immer mit einem Selbstverlust verbunden, d.h. mit dem Verlassen der eigenen Mitte.
Ähnlich verhält es sich mit Gewalt. Nur der Mensch ist gewalttätig - das Tier ist aggressiv. Denn während das Tier zentrisch ist und nur sein Zentrum, seine Mitte verteidigt, sein Überleben sichert, kann der Mensch sich aus seiner Mitte begeben. Um gewalttätig zu sein, bedarf es der Fähigkeit, die Position des Anderen einnehmen zu können. Um verletzen zu können, muss man wissen was den Anderen schmerzt. Aggression hingegen ist kein vorsätzliches Zufügen von Leid.

Der Mensch befindet sich auf der Stufe Mensch, wenn er exzentrisch ist. Er kann sich sicher auch zentrisch verhalten, aber dann befindet er sich in der Position ‚Tier'. Um Mensch zu sein, muss er also immer über sich hinaus, immer außer sich. Anthropologisch bringt der Mensch, um des Mensch-Sein willen, das Außer-Sich-Sein mit, er oszilliert zwischen Innenwelt, Außenwelt und Mitwelt.

An dieser Stelle bietet es sich an, die ‚unproduktive Verausgabung' Batailles als das Transzendieren in die Mitwelt zu verstehen. Mit der Kategorie der unproduktiven Verausgabung hätte man die Verbindung Mensch - Gesellschaft: der Modus der Exzentrizität in der Mitwelt, also eine Verarbeitung anthropologischer Gegebenheiten im Modus Gesellschaft.

Damit ließe sich nun auch die Entstehung von Bedürfnissen beschreiben. Die Art und die Form der Bedürfnisse ist nie vorherbestimmt (oder im ‚Wesen' des Menschen angelegt), sondern muss immer erst freigelegt oder erzeugt werden. So wäre die unproduktive Verausgabung zugleich der Modus der Freilegung oder der Konstruktion von Bedürfnissen - seien es individuelle, seien es gesellschaftliche.

Es ergibt sich jetzt aus der Position des Menschen heraus eine Situation, die uns erschließen lässt, warum der Mensch zum Exzess neigt: Weil der Mensch wie Plessner sagt ein grenzrealisierendes Wesen ist (d.h. er oszilliert zwischen Diesseits und Jenseits, er ist zum Transzendieren gezwungen), weil der Exzess eine Art der Exzentrizität ist - ein Überschreiten, ein Verlassen der eigenen Mitte. Sobald er das Hin und Her, sein ewiges Schwingen aufgibt, wird seine Position zentrisch - die Stufe der ‚geschlossenen Form': das Tier.

Aus dieser Perspektive übersetzt man ‚Exzess' nicht als ‚Abschweifung', sondern wählt aus dem reichhaltigen Angebot der Übersetzungsmöglichkeiten des excedere eher ‚überschreiten' - ‚ausarten' - ‚in etwas übergehen'. Und das excessus selbst bietet ebenfalls nicht nur ‚Abschweifung' als Übersetzung. Warum nicht weitere Möglichkeiten in Betracht ziehen: ‚Scheiden aus dem Leben' - ‚Tod'?

Bataille verdanken wir die große Leistung, dass er die Reduktion der reinen Nützlichkeitspostulate aufhebt, und ‚unproduktive' Seiten des Menschen aufzeigt. Dass er sich um dieselbe Tendenz in den anderen zwei ‚Welten' (Innen- und Außenwelt) nicht kümmert, liegt daran, dass er soziologische Fragen stellt: Die Verhältnisse Innenwelt bzw. Außenwelt gehören jedoch zur Psychologie bzw. Philosophie (oder Kosmologie).
Wir werden uns nicht nur auf die Mitwelt beschränken, weil uns der Exzess als allgemeines Phänomen interessiert.

Wenn wir die Exzentrizität als eine unhintergehbare Kategorie des Menschen annehmen, folgt daraus noch lange nicht die Notwendigkeit der Realisierung in Form eines Exzess'. Was ist der Exzess auf der Stufe der Exzentrizität? Erinnern wir uns an den Menschen als grenzrealisierendes Wesen. Der Exzess müsste aus dieser Sicht wohl als die Extremform der Grenzrealisierung angesehen werden - das Übersteigen der eigenen Grenzen, das absolute Verlassen der eigenen Mitte. Das wäre die eine Möglichkeit: der Exzess als Grenzverschiebung, als Grenzgang.

Gibt es noch eine andere? Ist es nicht denkbar, dass der Exzess die Grenze der Grenzrealisierung bildet? Ist es nicht zu einfach, sich den Menschen zentrisch wie eine Fahrradnabe mit Speichen vorzustellen: Die Speichen als Symbol für das Hinausgreifen in andere ‚Welten'? Und der Exzess wäre dann die Bewegung zwischen Nabe und Speichenende, die intensive Bemühung den Radius zu vergrößern?
Möglicherweise erreicht ja auch die Oszillation eine neue Grenze. Das Schwingen zwischen Diesseits, Jenseits und dem Dritten verschwimmt zu einem Ganzen - ein überschlagendes Vibrieren.
Wäre es nicht denkbar, dass durch die Intensivierung der Bewegungen zwischen Körper-Seele-Drittem eine neue Ebene entsteht, eine Ebene erscheint, die sonst verborgen bleibt?
Durch Achtsamkeit und Sorgfalt nicht-exzessiver Zustände hält die soziale Welt die Trennung aufrecht und bringt das Oszillieren unter Kontrolle: so sind gesellschaftliche Erfordernisse der kollektive Gleichschlag, die Selbstvergewisserung der drei Sphären: die Trennung in Außenwelt-Innenwelt-Mitwelt wird diskursiv aufrecht erhalten, um Verständigung zu sichern.

Im Zustand des Exzess' macht sich deutlich, dass der Exzentrizität solche Grenzen nicht gesetzt sind. Der Exzess macht aus der wohlgeordneten Oszillation zwischen Außen-, Innen- und Mitwelt wieder eine ungeteilte Sphäre - er verwischt die mehr oder weniger verzweigte Einteilung in ‚Welten' zu einer Corona.

Was sehr nach dem Ende der Beschreibbarkeit klingt ...


"An den Punkt gelangen, an dem es nicht mehr darum geht, Drogen zu nehmen oder nicht, weil die Droge die allgemeine Bedingung der Wahrnehmung von Zeit und Raum so sehr verändert hat, daß es denjenigen, die keine Drogen nehmen, gelingt, die Löcher in der Welt zu durchqueren und auf den Fluchtlinien zu jenem Ort zu gelangen, an dem andere Mittel als Drogen erforderlich sind."
Gilles Deleuze, Tausend Plateaus

(1)
Georges Bataille: Das theoretische Werk Bd. I: Die Aufhebung der Ökonomie, München (Rogner & Bernhard) 1975
(2)
Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin und Leipzig 1928.

New York, November 2002

Robert Seyfert: über den Autor

 

   
"So seien alle übereingekommen, an diesem Abend ohne Rausch zu bleiben, vielmehr nur nach Lust und Laune zu trinken." (Platon)
© 2002   das gefrorene meer - la mer gelée