" … weil man alles an sich selbst unterdrückt hat, was uns daran gehindert hat, zwischen die Dinge zu gleiten, inmitten der Dinge zu wachsen."
|
Unter dem Sand
Text und Übersetzung: Alban Lefranc
|
|
France, 2000
Regie und Drehbuch: François Ozon
Mit Charlotte Rampling, Bruno Crémer, Jacques Nolot …
"Ich sage mir: Jetzt werde ich mir eine Aschenurne bauen wie diejenige,
die dieser alte Römer immer an seinem Bett hatte, und deren Rand er langsam
unter seinen Küssen abnutzte." (Faulkner, Vorwort zu Sound and
Fury)
"Das unmittelbare, köstliche und totale
Auflodern der Erinnerung." (Proust)
Nehmen wir eine Frau (Charlotte Rampling), die ihren Mann (Bruno Cremer)
verliert. An einem banalen Nachmittag an einem sehr banalen Strand, verschwindet,
zwischen einer Massage und der Lektüre von Die Lilie im Tal, der Gefährte,
der mit ihr zwanzig Jahre verbrachte. Die Gefahr wäre hier die Erklärung,
die Suche nach den Gründen, das unendliche Fragen: diese werden erst am
Ende des Filmes richtig angefangen, und sofort annulliert. Ozon räumt
sehr schnell jede Erzählung weg; es passiert nichts, was unseren obszönen
Geschmack für das kleine wahre Detail befriedigen könnte. Wir sind zu
einem Film gekommen, das soll heißen, dass wir sehen wollen; Ozon wird
sichtbar machen. Das müsste Kino öfter schaffen: sich von seinen erstickenden
Meistern zu befreien: Literatur und Theater in ihren schlimmsten naturalistischen
und psychologisierenden Varianten. Öfter versuchen, sich dem Projekt von
Reverdy gewachsen zu zeigen, das Godard in seinem Autoporträt (JLG/JLG)
wie eine Fahne hochhält:
"Das Bild ist eine reine Schöpfung des
Geistes.
Es kann nicht aus einem Vergleich entstehen, vielmehr aus der Annäherung
von zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten.
Je entfernter und je genauer die Beziehungen der einander angenäherten
Wirklichkeiten sind, um so stärker ist das Bild - um so mehr emotionale
Wirkung und poetische Realität besitzt es ...usw."(1)
[Dieser Artikel wird allerdings geschrieben und kann nicht anders, als
die Bilder mit Wörtern (und ein bisschen Literatur) zu beschreiben. Ein
Versuch also, einen Zusammenstoß zwischen Bildern (die selbst aus unerwarteten
Annäherungen entstehen) und manchen eigenartigen Stimmen der Literatur
zu entwerfen]
Das Seltsamste unseres Lebens mit einem unerwarteten
Aufeinanderstoßen erscheinen lassen: der Blick der verlassenen Marie mit
der Routine des sozialen Lebens, die weitergehen möchte, als ob nichts
passiert wäre. "Die Arbeit wird dich ablenken, so lautet der zweite
Titel jener Trostkur, die Heilung durch Verdrängung verspricht. Aber gerade
das will der Verlassene mit seinem Schmerz nicht anstellen: ihn verschieben
oder unterdrücken, gar preisgeben. Gewiss war ihm die Verschwundene niemals
näher als jetzt, da er sie so lebhaft entbehrt. Er braucht Stillstand,
nicht Beschäftigung, er braucht Urlaub zum Erinnern, Flitterwochen nach
der Trennung, er hat sich mit einer Abwesenden vermählt."(2) Anders
als das einsame Zugrundegehen der Figur in diesem Buch, besteht die Stärke
des Films darin, die Löcher zu zeigen, die Marie in ihre Umgebung stanzt.
Nach der heftigen Unruhe, dem erschrockenen
Ausbruch (Wo ist er? Die Kamera mit einem 180 Grad Schwenk zeigt Marie,
wie sie ins Wasser geht, und die Schreie der Kinder, die sie niemals hatte,
erweitern noch den unbekannten Horizont) muss sie weiterleben. Leben,
das ist ein schreckliches Wort, finden Sie nicht? sagt der Pfarrer von
Bernanos, einem älteren angeblichen Weisen, der ihm Geduld predigt. Marie
wird leben, um zu sehen. Leben, um überall die Spuren des Verschwundenen
wiederzufinden, und wenn nötig ihn überall erfinden, trotz jeder sozialen
Predigt des Verdrängens: "Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen
- ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen."(3)
Sehr schell erleben die Wörter eine radikale Erschöpfung (Ist das nicht
das Beste Ziel, das sich Kino setzen kann?): sie werden sofort zertrümmert,
als Marie ihre bestürzte Suche am Strand beginnt. Die ersten Minuten des
Films zeigten uns mit vielen Ellipsen ein ruhiges schweigsames Paar, das
sich jenseits der Worte (vielleicht) kannte, und mit einem gemeinsamen
Lächeln das Feuer im Ferienhaus anschaute. Schon zeigte sich die klare
Entscheidung, das Anekdotische wegzuräumen (wie oft werden uns im Kino
Paare in angeblichen reichen Augenblicken des Austauschs gezeigt, wie
oft versuchen uns die Schauspieler mit "signifikanten" Zeichen das Glück
vorzuspielen - das schlimmste Beispiel wird von Leaving Las Vegas angeboten.
Leos Carax, der sich in Pola X die schönste Sex-Szene des Kinos zu drehen
wagte, erklärte, dass das Schwierige heute darin bestand, nicht konkreten
Sex zu zeigen, (es ist eine Selbstverständlichkeit in wichtigen Filmen
der letzten Jahren geworden, in denen von Dumont: La vie de Jésus et L'Humanité,
in_den Idioten von Lars von Triers...) sondern die Intimität zu erreichen.
In Unter dem Sand werden kleine, unbedeutende Momente des gemeinsamen
Lebens am Anfang des Filmes gelebt: die beiden am Steuer von vorne, die
beiden von hinten gefilmt und der andere fährt, eine kurze Pause in einer
Autobahn-Cafeteria, die Ankunft im Ferienhaus, das schnelle Kochen der
Nudeln, das erste Glas Wein: die Ellipsen deuten auf eine Scham des Regisseurs
hin, als ob er sich fürchte, gerade diese (erfolgreich angenäherte) Intimität
zu zerstören. In einer solchen Zurückhaltung fällt die seltsame Aufmerksamkeit
auf, mit der Jean sich unter einem Stein die schwarze, von Ameisen wimmelnde,
Erde anschaut: Ankündigung des künftigen Blickes, mit dem Marie bald die
einfachsten Sachen sehen wird. Das ist ein ohne Eile lebendes Paar, das
das Schweigen nicht beunruhigt. Dieses Schweigen könnte genauso ein müdes,
überdrüssiges Schweigen sein: es ist aber unwichtig zu wissen, ob dieses
Paar glücklich war, und es ist die Stärke von Ozon diese Frage zu ignorieren.
Er zeigt uns, was die Literatur mit anderen Mitteln lehrt, was uns im
alltäglichsten Leben zerstören kann, bevor es uns befreit (und was wir
von Büchern oder Filmen glaubten, gelernt zu haben, ist natürlich immer
wieder nicht mehr): die wunderbare, sehr nützliche Erschütterung der (des)
Verlassenen. "...in gewisser Weise profitierte ich von ihrem Tode,
denn eine Frau ist von großem Nutzen für unser Leben, wenn sie darin anstatt
eines Glückselements für uns ein Werkzeug des Leidens ist, und es gibt
keine einzige, deren Besitz so köstlich ist wie der jener Wahrheiten,
die sie uns entdeckt, indem sie uns leiden macht."(4)
Die Entflohene (im Film der Entflohene) lehrt uns, was Liebe ist, was
für Spuren der andere Mensch in uns hinterlassen kann, reißt uns aus der
Bequemlichkeit des Selbst, wirft uns raus, mitten in die Welt.
Marie fängt an zu sprechen, wenn ihre, d.h. die Welt schlechthin, zusammenbricht.
Sie sammelt ihre Sachen am Strand, erkundigt sich, benachrichtigt die
Verantwortlichen. Wir sehen sie, wie sie mit einem Wächter am Rand des
Ozeans spricht, während die Hubschrauber die beiden Stimmen übertönen:
genauso werden im Film die Worte alle Mühe haben, vermittelt zu werden,
es müssen andere gefunden werden, die von Virginia Woolf zum Beispiel.
Marie möchte sprechen, an diesem Strand hat sie die kleinsten, konkretesten
Ansprüche auf Worte, aber sehr schnell spricht MAN an ihrer Stelle, vergewaltigt
MAN die Welt mit Worten - die Polizei erfüllt ihre Aufgabe, und fragt
rücksichtslos ob Jean Gründe hatte, Selbstmord zu begeben, ob er vom Leben
satt war: Nein, Nein, Nein antwortet Marie.
Die Worte die genau benennen (diejenigen von
der Polizei, vom Arzt am Ende des Films, der einen Körper gefunden hat,
der der von Jean sein könnte, der mit großer Wahrscheinlichkeit seiner
ist) und das Quatschen der Welt ("die Freunde") werden auf die immer ruhigere
Anwesenheit Maries prallen, die gegen alle und alles entscheidet, dass
Jean neben ihr weiterlebt. Fürchterliche Klarheit des Blickes einer Verlassenen:
ihr gelingt plötzlich so allein zu sein, dass die ganze Welt vor ihren
Augen steht, wie am allerersten Tag. Die Selbstverständlichkeiten fliegen
mit einem einfachen Wimperschlag auseinander, das sind nicht nur Streichhölzer,
die in der Nacht angezündet werden, sondern das ist ein Aufstrahlen von
Licht, wo man früher nur Miteinander-Vermischtsein und Umwege und konfuse
Teilnahme sah. "Sie wusste am Ende so viel, dass sie nicht mehr
interpretieren konnte: es gab keine Dunkelheiten mehr, die ihr ermöglichten,
klar zu sehen, es blieb nur ein grelles Licht."(5)
Der Misanthrop regt sich mittels schlechter Sarkasmen auf, die ihm die
Verdauung beschädigen, was für eine unnötige Wut bei unseren Moralisten,
obwohl es eigentlich nur darum geht, nicht mehr zu verstehen, das heilige
Nicht-Verstehen, das Rilke meint, das jede Teilnahme übertrifft, die die
Wut und die Verachtung noch bezeugen. Die Verlassene hört plötzlich auf,
daran teilzunehmen, es wundert sie sogar. Was gibt es hier, was mich früher
so hielt? "Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll
ich jemandem sagen. dass ich mich verändere? Wenn ich mich verändere,
bleibe ich doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als
bisher, so ist klar, dass ich keine Bekannten habe. und an fremde Leute,
die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben."(6)
Die Verlassene ist nicht müde: Im Gegenteil sammelt sie in und um sich
ihre ganze Energie, um die Anwesenheit des Verschwunden wiederzufinden.
Weder Heiligtum noch Buddhismus, das Gegenteil von Entsagung: eine größere
Teilnahme an der Welt wie sie ist, dank diesem hilfreichen Instrument
der Suche, dem Zögern vor der Trauer: und diese Teilnahme schließt die
frühere Teilnahme an manchen Riten aus: "in Gesellschaft wird alles
so harmlos", sagt die linkshändige Frau von Handke, die ihrerseits
entschieden hat, ihren Mann zu verlassen, die Welt ohne ihn zu sehen.
Und Marie kommt in der Nacht an den Ort des Verschwindens, den Ort ihrer
Wiedergeburt vielleicht: kein billiger Postkarten-Lyrismus vom wilden
Ozean und Gewitter. Noch einmal die Scheu von Ozon: eher die verlassene
sehende Frau zu zeigen, als das, was sie sieht - wer kann wissen, was
sie in dieser Nacht sieht. Das Wichtige ist hier ihr Blick, die Zeit die
sie sich nimmt, anzuschauen.
Und Marie unter ihren Freunden. Ozon enthält sich seines bekannten Geschmacks
für Massaker-Inszenierungen in der Art von Fassbinder. Hier ist nichts
wirklich dummes oder gemeines zu hören: MAN spricht von Gymnastik. Nach
dem Blick von Marie in der Nacht, sitzen ein paar Leute bei sich zu Hause
wie in einer Kantine: sehr starr in einer langen Totale. MAN benimmt sich,
MAN trinkt nicht zuviel, es geht darum zu wissen, ob jemand in ein Fitness
Studio gehen darf, ob es nicht lächerlich ist, und Marie scheint sich
in diesem Milieu bequem zu fühlen, sie kennt die Riten. Aber ein bisschen
Sand kommt in das gut laufende Getriebe: sie spricht von Jean, der den
Unentschlossenen ins Studio begleiten wird. Themenwechsel: die arme
Marie, sie ist ein bisschen verstört zur Zeit, aber psst, kein Wort, Willst
du ein bisschen Salat Marie, schauen wir nicht hin, das ist bald vorbei,
alles muss normal weitergehen, wir müssen ihre Verstörung ignorieren,
sie wird bald wieder zu uns gehören, ist sie nicht hier mitten unter uns
und spricht mit uns von Gymnastik, wir haben gerade den idealen Liebhaber
eingeladen, sie muss Spaß haben die arme verlassene, einsame Marie, die
arme halb verrückte Marie -
Dem genauso besorgten Psychiater antwortet Gena Rowlands in Love streams
mit einem strahlenden Lächeln, dass nein, sie brauche kein Sex, nein,
es geht ihr sehr gut, lassen Sie mich in Ruhe, es wäre nett, ich brauche
Sie nicht, love is a stream, you understand? dass dieser stream auch hier
in diesem traurigen Kabinett läuft, dass sie sich mitten in diesem Strom
fühlt, dass dieser Sex sehr gut ignorieren kann...
So funktioniert die Freundschaft im Milieu von Marie: wegwischen, was
bei der Freundin unordentlich erscheint, gleich machen, den anderen auf
keinen Fall sehen. Ihn assimilieren.
Genauso wie Gena Rowlands, lässt sich Marie nicht so einfach assimilieren:
sie lehnt diesen Liebhaber, den man ihr verkaufen möchte, der sie ungeschickt
zu küssen versucht als er sie nach Hause fährt, diesen schwachen Austausch-Liebhaber,
ab. Dieser arme Vincent, Ozon zeigt uns detailliert grausam seine so gewöhnliche
Feigheit. Freilich ist es schwierig, unter oder neben dem Blick Maries
(die Jeans Abwesenheit mit ihrer größeren Anwesenheit ständig ausgleichen
muss), nicht schwerfällig, unangebracht, abwesend zu erscheinen. Er lädt
sie ins Restaurant und die beiden sprechen hinter einem Aquarium von Virginia
Woolf. The Waves, von Virginia Woolf, ja, das hat er gelesen, aber er
kann sich nicht so genau erinnern: Das einzige, was vom Buch übriggeblieben
ist, ist das Wissen, es gelesen zu haben - als Jugendlicher. "Ihr
wißt nicht, was das ist, ein Dichter? - Verlaine…Nichts? Keine Erinnerung?
Nein. Ihr habt ihn nicht unterschieden unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede
macht ihr keine, ich weiß."(7)
Was sucht Marie bei Woolf? Eine andere Form von physischer, körperlicher
Präsenz: "Besserer Zustand weil ich Strindberg (Entzweit) gelesen
habe. Ich lese ihn nicht um ihn zu lesen sondern um an seiner Brust zu
liegen. Er hält mich wie ein Kind auf seinem linken Arm. Ich sitze dort
wie ein Mensch auf einer Statue. Bin zehnmal in Gefahr abzugleiten, beim
elften Versuch sitze ich aber fest, habe Sicherheit und große Übersicht."(8)
Genauso wie das Verlassensein uns den anderen
Menschen, alle anderen sogar, lehrt, brauchen wir vielleicht ein bisschen
Schmerz, um das Salz der großen Schriftsteller wieder zu entdecken (Duras
spricht vom Prozess des ewigen, unaufhörlichen Lesens...) Die Stärke der
Schriftsteller zu schätzen: unseren Schmerz vom Persönlichem zu reinigen,
indem sie Aspekte jenes öffnen, was wir nicht gesehen hatten. Kein Trost:
ein Anders-Leiden, aber es ist schon was. Es gibt die Farce, die unbestreitbare
Posse unserer Depressionen bei Beckett und Thomas Bernhard. Es gibt bei
Proust die ungeheuerliche Figur der Gewohnheit, die an der Stelle der
konkreten "Entflohenen" tritt.Unter anderem gibt es bei Virginia
Woolf Orte, die dermaßen leben, dass sie tatsächlich die menschlichen
Figuren auf die Dimension von Klammern reduzieren: der zweite Teil von
To the lighthouse, wo die meisten Figuren des ersten Teils in zwei oder
drei Sätzen zu Tode gebracht werden, während das Haus, in dem sie lebten,
in den Vordergrund tritt. Die Orte ohne uns: "Der Mensch abwesend,
aber völlig in der Landschaft."(9) Im ganzen Film erforscht der
Blick Maries leere Räume (den Sand, den Strand, die Wohnung von Vincent,
diejenige die sie kaufen will, den Umkleideraum im Fitness-Studio usw.)
aber vor allem die gemeinsame Wohnung: Verwahrerin des Verschwundenen,
den leeren Sessel, die Jacke, das Buch an dem Bett usw. Diese Objekte
wissen viel von Jean.
Marie wird Vincent los, um Jean zu treffen,
der jeden Abend auf sie wartet. Nichts hat sich geändert oder kaum. Die
gleiche diskrete Intimität geht weiter (oder wird von Marie erfunden,
wenn es sie früher nicht gab). Was ist ein Paar fragt Rilke? Zwei Einsamkeiten,
die sich voreinander verbeugen. Und gerade diesen unendlichen Respekt
vor dem anderen sieht Marie am Werk, Respekt, der aus Schweigen und Aufmerksamkeit
gewoben ist. Marie findet diesen angeblich verschwundenen Körper wieder,
der auf sie wartet, besser gesagt: der nie aufhört, da zu sein, wenn sie
es will, wenn sie daran glaubt, diesen schweren Körper, dieses Gewicht
physischer Präsenz, was man im guten Hebräisch "Glorie" nennt.
Jean liest ein Buch neben ihr, sie frühstücken zusammen, er fragt sie,
ob sie sich vielleicht nicht so gut fühlt, sie sieht müde aus, ja, da
ist es, sie möchte den Tag mit ihm verbringen, anstatt ihre Vorlesungen
an der Uni zu führen ...
Es soll sehr ungesund sein, solche Erscheinungen,
sehr sehr ungesund. Denjenigen sehen, den MAN einstimmig als tot oder
verschwunden oder außer jedem Zugriff betrachtet, soll ein eindeutiges
Zeichen der geistigen Verstörung sein. Es heißt, dass MAN diejenigen einsperrt,
die hartnäckig darauf bestehen, diese Abwesenden zu sehen, die so anwesend
sind, nur wenn man sie liebt -
"O wie ernst ist das Antlitz der teueren Toten.
Doch die Seele erfreut gerechtes Anschaun."(10)
Fragen wir uns was MAN von dem Leben versteht,
was in diesem MAN vom Leben übriggeblieben ist. Ozon lässt uns an einem
Aufeinanderprallen teilnehmen, das wir selten in dieser Annäherung sehen
können: den schlimmsten bürgerlichen Stumpfsinn mit dem ruhigen, erstaunten
Blick einer Frau, die zu sehen anfängt. Marie, den Strand in der vollen
Nacht anschauend, dann Marie im Reich der lebenden Toten, die sich um
sie Sorgen machen, und wieder Marie in der Selbstverständlichkeit des
Verschwundenen. Diese Abwechslung setzt sich bis zum Ende des Filmes fort.
Wie kann eine ganze Sequenz funktionieren, die sich damit begnügt, zu
zeigen, wie Marie in einem Supermarkt einkauft, wie sie den Wagen schiebt,
Produkte hinein legt, und nur das? Der Chanson von Barbara ("Was
für eine schöne Zeit, um sich zu verabschieden" - "Quel joli temps pour
se dire au revoir") erklärt nicht alles. Was die Sequenz aufrechterhält
ist der immense Blick von Charlotte Rampling mitten im trockensten, sterilsten
Ort, dieser wunderbar lebende Körper, wenn sich alle um sie Sorgen machen
(ihre Kreditkarte ist gesperrt, und sie antwortet dem Bankier - und Freund,
demjenigen, der zögerte, ins Fitness-Studio zu gehen - dass sie die Sache
mit Jean klären wird!).
...
"Denn nah am Tod sieht man den Tod nicht mehr
und starrt hinaus, vielleicht mit großem Tierblick.
Liebende, wäre der andre, der
die Sicht verstellt, sind nah daran und staunen...
Wie aus Versehn ist ihnen aufgetan
hinter dem anderen...Aber über ihn
kommt keiner fort, und wieder wird ihm Welt..."(11)
Was Rilke hier auszuschließen scheint, das Offene "mit allen Augen"
zu sehen, das ist vielleicht, was Marie gelingt, wenn ihr Jean,
indem er verschwindet, den vollständigen Gebrauch ihres Blickes zurückgibt.
Dresden, Februar 2002
Anmerkungen:
(1) Pierre Reverdy, von André
Breton zitiert (Erstes Manifest des Surrealismus, 1924
(2) Botho Strauß, Die Widmung
(3) Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
(4) Proust, Die Entflohene, Übersetzung von Eva Rechel-Mertens
(5) Henri James
(6) Rilke, Malte
(7) Rilke, Malte
(8) Kafka, Tagebücher
(9) Cezanne
(10) Trakl
(11) Rilke, achte Elegie
Alban Lefranc: alban.lefranc@voila.fr
|