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Nummer 2 - Territorium

 

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"… man kann für das Unendliche leben, nur mit Unendlichem zufrieden sein, es gibt genug Unendliches auf der Erde und in den Sphären, um tausend große Genies zu sättigen …"

Territorium: Terra, die Erde
Robert Seyfert

Territorium - Territorialisierung

Grenze/Statik
Das Nachdenken über den Begriff des ‚Territorium' liefert uns zuerst einen geopolitischen, zumindest einen geografischen Begriff. Dieser bezieht sich auf ein bestimmtes Gebiet/Gegend. Man versteht ein Territorium als etwas Abgegrenztes und Beständiges.
Für denjenigen, der sich diesseits (innerhalb) der Grenze befindet, reicht das Territorium bis zu einem Horizont (das Sicht-, Wahrnehmungsfeld, etc). Die reine Vorstellung dieses bis Bis-zum-Horizont-reichen setzt eine fehlende Grenzwahrnehmung voraus: Mein Blick schießt über die Grenze hinaus, ohne sie wahrzunehmen.
Derjenige, der sich jenseits befindet, ist der, der die Grenzziehung des Anderen feststellt, mithin ausgeschlossen ist. Er trifft auf die Grenze, bittet um Einlass, oder reist sie nieder, oder geht seiner Wege. Er kommt aber stets erst danach, d.h. er trifft auf schon besetztes Gebiet. In einem solchen Verständnis "konstituieren [Grenzen] den Eigenbereich des ... Systems im Verhältnis zu dem, was für dieses System dann Umwelt wird."
(Luhmann: Soziale Systeme).

Expressivität
Aber Grenzziehung ist nicht das Erste. Über Grenzen nehmen wir Territorien wahr. Doch bevor Grenzen gezogen werden, wird territorialisiert. Deleuze/Guattari betonen die Expressivität der Territorialisierung. Nicht ein aggresiver Akt von Grenzziehung (Bis hierhin und nicht weiter!) ist der Anfang, sondern ein schöpferischer Akt konstituiert ein Territorium:
"Dabei sind vokale oder klangliche Komponenten sehr wichtig: eine Klangmauer, oder jedenfalls eine Mauer, in der bestimmte Steine mitschwingen. Ein Kind summt leise vor sich hin, um Kräfte für die Schularbeit zu sammeln... Radio und Fernsehgeräte sind eine Art Klangmauer für jeden Haushalt und stecken Territorien ab."
(Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus)

Wir entdecken bereits hier die verschiedensten Arten von Territorien - man muss sie sich nicht notwendigerweise material vorstellen. Wir kennen auch geistige Territorien - man fühlt sich auf dem Gebiet der Literatur zu Hause - und nicht nur der erste Mensch, der einen Holzpflock in die Erde geschlagen hat und sagte ‚Das ist mein' steckte ein Territorium ab. Territorium hat, wie der Name schon sagt etwas mit terra, aber auch etwas mit uns zu tun- wir territorialisieren uns in der Umgebung: pfeifend verlassen wir die Wohnung, gehen auf demselben Weg hinaus, in derselben Straße, zum selben Laden um die Ecke - und wenn wir mal von alle dem nichts wissen wollen drehen wir die Musik im Zimmer laut auf - in geradezu idealtypischerweise bewegt sich der Autofahrer territorialisierend durch die Umgebung

Warum nicht von Welt reden: Lebenswelt, Sprachenwelt. Weil Territorium eben terra enthält und damit etwas leisten kann was Welt nicht vermag. Welt ist ein sehr anthropozentrischer Begriff: ‚Das ist meine Welt'. Er hat etwas mit dem In-der-Welt sein Heideggers oder Wittgensteins Sprachspiel zu tun. Der erste weist daraufhin, dass ein äußerliches Ding an sich eine Legende der klassischen Metaphysik ist. Wir müssen keinen Dualismus zwischen uns und Draußen konstruieren, denn bevor wir so etwas bemerken sind wir immer schon in der Welt. Wittgenstein dagegen macht deutlich, dass erst kontextabhängige Sprachspiele Welt entstehen lassen. Aufgrund dieser traditionellen Behandlung des Themas Welt können wir diesen Begriff nicht gebrauchen. Er kann die Bedingungen für Menschen nicht freilegen. Niemand würde bestreiten, dass wir in eine Welt hinein geboren werden, und dass die kontextual bestimmten Sprachspiele durch uns nicht unbeachtet gelassen werden dürfen. Aber wir fragen nach den transzendentalen Kategorien, die diese Erde immer schon bereitstellen muss, um uns sowas wie eine Welt erst zu ermöglichen. Eine Kontextgebundenheit bedeutet nämlich durchaus nicht sich zum subalternen Erfüllungsgehilfen seiner Umwelt machen zu lassen.
Unter einer solchen transzendentalen Bewegung verstehen wir die Bewegung der terra.

Territorium und Terra

"Dies sind zwei Komponenten, das Territorium und die Erde, mit zwei Ununterscheidbarkeitszonen, der Deterritorialisierung (des Territoriums zur Erde) und der Reterritorialisierung (der Erde zum Territorium)."
Damit wird angedeutet, dass es bei dieser Bewegung einen Inhalt und einen Ausdruck gibt. Das Territorium legt sich auf eine Erde, indem dieses () durch eine expressive Äußerung angeeignet wird. Es kann sich natürlich von dem direkten materialen Bezug zur Erde lösen, ist aber selbst dann von ihr geprägt:
"But when we sit together, close' we melt into each other with phrases. We are egded with mist. We make an unsubstantial territory."
(Virginia Woolf: Waves)

Territorium enthält also terra und die Bewegung der Territorialisierung in sich. Es ist das mithilfe der Erde durch uns entfaltete Ergebnis einer Bewegung - es ist immer noch Bewegung. - Nebenbeibemerkt nicht nur durch uns; auch der Vogel pfeift sein Leid. - Eine Bewegung, die ständig wiederholt werden muss. Hier wird klar, dass unsere erste Intuition von einem zum Stillstand gebrachten Punkt (unsere Heimat? i.S.: Könnte es sich hier um unsere Heimat handeln?) fehl geht: wir gehen den Weg ins Geschäft nebenan jede Woche wieder, und nur dann ist das Territorium aktuell, ansonsten ist es eine reine Potentialität.

Der Irrtum wäre anzunehmen, man könne als Mensch losgelöst von dieser Erde eine neue Terra suchen, bzw., besiedeln. Ein Streben in ‚unendliche Weiten' des Kosmos darf nicht nur die Bedrohung durch die Kontingenz, durch das Unvorhersehbare beachten, sondern muss sich die notwendige Erdverbundenheit des Menschen bewußt machen. Denn dem Menschen besteht nicht die Möglichkeit der Entdeckung des Kosmos, ihm besteht nur die Möglichkeit der Ausdehnung der Erde ins Unendliche.

Dresden, März 2002

Territorium - Solaris

 

Robert Seyfert: rseyfert@germe.de

 

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