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Gefängnis als Ablenkung von der Armut
François Athané, Übersetzung: Rüdiger Fischer
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Über das Buch von Loïc Wacquant: Die Armen bestrafen. Die neue Regierung der sozialen Unsicherheit, Verlag Agone, Marseille 2004

Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Textes leidet ein Heer von 3o Millionen Unglücklichen in den USA an chronischem Hunger oder an Unterernährung, während 7 Millionen keine Wohnung haben. Gleichzeitig vegetieren 2 Millionen Menschen hinter den Gittern der amerikanischen Gefängnisse dahin, für 4 Millionen ist die Freiheit eingeschränkt oder sie stehen unter Bewährungsaufsicht. Ungefähr ebenso viele amerikanische Bürger haben wegen der Überwachung durch die Justizorgane kein Wahlrecht. Es wird nicht verwundern, daß sich das Volk der Armen und das der Eingesperrten weitgehend überschneiden: fast die Hälfte der Gefangenen lebte zur Zeit der Festnahme von weniger als 6oo Dollar pro Monat.(1)
Über diese beschämenden Zahlen hinaus ist es wichtig zu wissen, ob zwischen folgenden Phänomenen ein Zusammenhang besteht: dem Ausmaß der Armut und dem gigantischen Strafsystem der Vereinigten Staaten. Da es um die erste Wirtschaftsmacht der Welt geht, die auch das Ursprungsland der heute in der Welt vorherrschenden politischen Lehren ist (sowohl im Bezug auf Wirtschaft und Soziales, mit dem neoliberalen Denken, als auch im Bezug auf das Strafrecht, mit den berüchtigten Ideologien der "Null-Toleranz" und der "eingeschlagenen Fensterscheibe"), ist es wünschenswert, anstelle der auf mehr oder weniger Informationen beruhenden Meinungen und Empörungen die Bemühungen zur Kenntnis zu nehmen, die seit dreißig Jahren in den USA umgesetzte Politik zu durchleuchten. Hierin liegt in Wesentlichen der Wert des Buches von Loïc Wacquant: es kritisiert nicht nur besagte, derzeit auf der anderen Seite des Atlantiks vorherrschenden politischen Lehren, sondern auch die gängigen Erklärungen für die Verbindung in den USA, die so oft von einem Teil der europäischen Linken angeprangert worden ist, zwischen der Verkümmerung des sozialen Schutzes und der Wucherung des repressiven Staates.
Diese Verbindung hat natürlich eine Geschichte, die vor kurzer Zeit begonnen hat. Man hat ausführlich die Zerschlagung des sozialen Schutzes kommentiert und die Deregulierung der Arbeit unter Reagan, Bush senior und Clinton - wodurch der Mindestlohn heute real um 2o% geringer ist als am Ende der sechziger Jahre(2) -, aber weniger bekannt ist die neuere Entwicklung des Strafsystems in den USA, die in 25 Jahren zu einer Verfünffachung der Zahl der Gefangenen geführt hat, sodaß im Jahr 2ooo, 7o2 von 1oo ooo Amerikanern inhaftiert waren, sechs- bis zwölfmal so viele wie in der EU (Seite 125-126).
Die zentrale These des Buches von Wacquant setzt sich mit dem Zusammenhang zwischen diesen beiden Entwicklungen auseinander, die auch in geringerem Maße in Europa zu beobachten sind: "der unaufhaltsame Aufstieg des strafenden amerikanischen Staates antwortet nicht auf zunehmende Kriminalität - die Zahl der Verbrechen ist insgesamt konstant geblieben, bis sie sich am Ende dieser Periode verringerte - , sondern auf die Auflösungserscheinungen, die der Rückzug des Staates aus Sozialwesen und Stadtentwicklung sowie die Einführung des unsicheren Arbeitsplatzes als Norm für die amerikanischen Bürger der Unterschicht hervorgerufen haben" (S. 16). Um es mit anderen Begriffen des Autors auszudrücken, ist das Gefängnis "der soziale Staubsauger", dessen Aufgabe es ist, die Marktgesellschaft von ihren menschlichen Abfällen zu reinigen (S. 298). Nennen wir diesen Gedanken die These des funktionalen Zusammenhangs zwischen der Einschränkung des Sozialstaates und der Ausweitung des strafenden Staates. Wie wir zeigen werden, hat diese These den Nachteil, daß sie einen verborgenen Widerspruch enthält, während andere Erklärungsmöglichkeiten, die von Wacquant angeboten, jedoch nicht weiterverfolgt werden, auch von Interesse sind: es geht hier vor allem um die Rolle der Medien bei der Verbreitung des Sicherheitsdenkens einerseits und die Folgen der Rassentrennung andererseits.
Das Buch zeigt also, mit einer Fülle an Zahlenmaterial, die Formen und Bedingungen des Abrückens des Staates von sozialen Aufgaben sowie der Ausweitung des Strafsystems.
Daß der keynesianische Kompromiß und das fordistische Lohnwesen abgelöst werden, zeigt sich vor allem am ununterbrochenen Sinken der für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen Haushaltssummen, an der Zerschlagung der Sozialhilfe und am darauf folgenden Übergang vom welfare, dem Wohlfahrtsstaat, zum workfare, dem Zwang, eine Arbeit anzunehmen, um die verschiedenen Unterstützungen zu erhalten. Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt im Gesetz über Arbeit und individuelle Verantwortung aus dem Jahr 1996, das von Präsident Clinton und der demokratischen Partei ausgeheckt wurde und das an Kühnheit die gewagtesten Offensiven Reagans gegen Big Government (gegen den "überflüssigen Staat", der den Sozialschutz übernimmt, indem er für den gemeinschaftlichen Besitz und die Sozialdienste sorgt) übertrifft: Abschaffung des Rechts auf Hilfe für arme Kinder durch Festlegung einer Höchstdauer der Zahlungen an die Eltern; Übergabe der Sozialfürsorge von der Bundesregierung an die fünfzig Staaten, die nun bestimmen dürfen, wer Unterstützung erhält; Zuweisung von Haushaltsgeldern in fixen Beträgen, nicht mehr gemäß der Einschätzung der Bedürfnisse; Ausschluß von der Sozialhilfe mehrerer gesellschaftlicher Gruppen, deren gemeinsames Merkmal das Fehlen von Mitteln ist, politischen Druck auszuüben - Ausländer, behinderte arme Kinder, Personen, die gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen haben, alleinerziehende Mütter - , obwohl schon 1995 zehn Millionen Kinder jegliche soziale Absicherung und Krankenversicherung entbehrten und jede zweite unverheiratete Mutter und jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze lebten.
Besonders gut analysiert Loïc Wacquant das ideologische Geflecht, das solche "Reformen" politisch ermöglichte. Zuerst einmal hat das Fehlen einer kollektiven, insbesondere gewerkschaftlichen Reaktion auf die Umwandlungen des fordistischen Lohnsystems und auf die Entlassungswellen den verschiedenen Demagogien das Feld überlassen, die die Frustration über die unsicher gewordenen Arbeitsplätze bündelten, und hat die vielfache Unzufriedenheit gegen den Staat gelenkt, der nun als "eine unnütze Zwangsjacke" (S. 77) erschien. Zweitens bewirken die gesellschaftlichen Vorstellungen von individueller Freiheit, daß sie in den Augen vieler Amerikaner mit finanzieller Autonomie gleichgesetzt wird, was den verschiedenen Ängsten und Enttäuschungen immer wieder erlaubt, sich gegen die als unwürdig angesehenen Bevölkerungsgruppen zu richten (insbesondere gegen Arbeitslose und Straftäter): der Arme ist jemand, der lernen muß, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Schließlich weckt das vorherrschende, standardisierte Bild, das man sich von der Familie macht, den Verdacht gegen Maßnahmen, die diese zu bedrohen scheinen; so kommt es, daß die Anpassung an die vermeintlich moralischen Verhaltensnormen zum Kriterium für die Zuweisung der Hilfsgelder geworden ist, von denen somit die als unmoralisch geltenden Personen (alleinerziehende Mütter, Drogenabhängige) ausgeschlossen werden.
Die beiden letzteren Stereotype erklären auch weitgehend die Ausweitung des Strafsystems sowie das damit einhergehende, explosionsartige Anwachsen der Zahl der Inhaftierten und der Ausgaben für Polizei und Gefängnisse in den letzten dreißig Jahren. Das Buch von Loïc Wacquant hat den großen Verdienst, mit den beiden Mythen aufzuräumen, welche die gängige und irrige Erklärung für diese Tatsachen liefern: (i) die Kriminalitätsrate der USA sei besonders hoch und (ii) die Zahl der Vergehen und Verbrechen sei in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Eine eingehende Analyse der statistischen Daten, von denen man weiß, wie schwer sie sich von einem Zeitabschnitt zum anderen und von einem Land zum anderen vergleichen lassen, ergibt, daß, von den Mordfällen abgesehen, die USA seit langem eine im Verhältnis zu den Industrieländern durchschnittliche Kriminalitätsrate aufweisen, und daß diese Rate, mit der Ausnahme der Spitzenwerte am Ende der achtziger Jahre auf Grund der Verbreitung von Crack, stabil geblieben und am Ende sogar zurückgegangen ist (S. 274-285). Aber diese relative Beständigkeit hat nicht die inflationäre Zunahme der Inhaftierungen verhindert, wegen der heute jeder zwanzigste männliche Einwohner und jeder dritte junge Schwarze sich im Gefängnis oder in Untersuchungshaft befindet.
Während nämlich die europäischen Staaten als Ersatz für die Inhaftierung die Geldstrafe oder die Arbeit zum Nutzen der Gesellschaft eingeführt haben, haben die USA diese Aufgliederung des Strafwesens nicht mitvollzogen. Mehr denn je ist das Gefängnis auf der anderen Seite des Atlantiks die gleichbleibende Antwort auf jeden aufgedeckten Verstoß gegen das Gesetz: systematisch wird die Inhaftierung auch bei kleineren Vergehen angeordnet, Gesetze haben die automatische Zuteilung von Strafen bewirkt, die Mittel der Überwachung haben vor allem wegen der Umwandlung der bedingten Entlassung zugenommen, sodaß die Zahl der Einweisungen in die Haftanstalten sich zwischen 198o und 1997 vervierfacht hat. Diese zunehmende Strenge richtet sich, wie man sich denken kann, vor allem gegen die geringen, auf der Straße begangenen Verstöße (vor allem auf Grund der Drogengesetze). Der typische Häftling ist männlich, arm, jung, ohne abgeschlossene Ausbildung, wegen eines nicht gewaltsamen Vergehens oder Verbrechens verurteilt, und schwarz.
Der hohe Anteil der Zukurzgekommenen unter den Gefangenen muß mit den anderen Maßnahmen in Zusammenhang gebracht werden, die zeigen, wie eng der gesellschaftliche Umgang mit der Armut und das Strafwesen miteinander verflochten sind. Die Sozialhilfe wird nämlich zu einer Möglichkeit unter vielen, die Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, gegen die sich der Verdacht richtet, sie seien unmoralisch oder gefährlich; zu diesen Möglichkeiten zählen als wichtigste der Zwang, eine Arbeit anzunehmen, um Unterstützung zu bekommen, und die allgemeine Erfassung der Angaben über die Unterstützten in Datenbanken (die Betrug oder Mißbrauch verhindern oder aufdecken soll). Mit bemerkenswerter Sicherheit bei der Handhabung des Zahlenmaterials und der grauen Literatur zu diesen Themen kommt Wacquant zu seiner zentralen These: die immer systematischere Verbindung zwischen dem Schrumpfen des Sozialstaats und der Ausweitung des Strafsystems bezeugt den Übergang von einer Verteilungspolitik keynesianischen Typs zu einem bestrafenden Umgang mit dem Elend, also von einem Krieg gegen die Armut zu einem Krieg gegen die Armen.
Man kann jedoch bedauern, daß dieser Schluß gezogen wird, ohne daß die einander widerstreitenden Interpretationen für dieses Zusammengehen von Sozialpolitik und Strafwesen näher untersucht werden; umso mehr als das Buch von Wacquant andere Deutungen nahelegt. Der Autor stellt einen strukturellen und funktionalen Zusammenhang her zwischen der Zunahme der Inhaftierungen und der Überwachung durch Polizei und Justiz einerseits und dem Zerschlagen des Sozialschutzes und der Deregulierung des Arbeitsmarktes andererseits. Diese Meinung teilen viele der Gegner des Neoliberalismus, aber oft auf Grund einer irrtümlichen Annahme: daß nämlich die Ausweitung des Strafsystems auf die Unruhen antworte, die durch die prekären wirtschaftlichen Lebensbedingungen verursacht worden seien. Wenn man aber bemerkt, daß die Kriminalität, entgegen der weit verbreiteten und von den Medien geförderten Annahme, zur Zeit der Zerschlagung des Sozialschutzes nicht nennenswert zugenommen hat, kann man sich fragen, auf welche Unruhen die Ausweitung des Strafsystems denn geantwortet haben soll.
Es wäre möglich, die These vom funktionalen Zusammenhang zu verteidigen, indem man sagt, daß die Beschränkung des Sozialstaats ein Anwachsen der Kriminalität verursacht hätte, wenn Polizei und Justiz nicht gestärkt worden wären. In Wacquants Untersuchung sind jedoch gravierende Einwände zu finden, die derartige Argumente wenn auch nicht völlig entkräften, sie dennoch ungeeignet erscheinen lassen, die These jenes Zusammenhangs für sich allein zu stützen: die vergleichende Analyse zeigt nämlich, daß diejenigen lokalen Behörden, die sich für die gegensätzliche Vorgehensweise, für mehr Prävention und mehr Umgänglichkeit, entschieden haben, bei gleichen Kosten die Kriminalität besser eindämmen konnten. Ebenso kann man nach Auffassung des Autors die Verringerung der Kriminalität am Ende der neunziger Jahre nicht der Anwendung der Doktrin der "Null-Toleranz" zuschreiben: Wacquants Analyse kommt, vor allem auf Grund eines Vergleichs mit Kanada, zu dem Schluß, daß diese Verringerung sich besser mit demographischen Faktoren und einem veränderten Drogenmarkt erklären läßt. Insgesamt weisen mehrere vergleichende Argumente die Vorstellung zurück, die strenge Repression habe potentielle Straftäter abgeschreckt, eine für die Ideologie der "Null-Toleranz" jedoch grundlegende Vorstellung. Während die abschreckende Funktion dieser Ideologie höchst zweifelhaft ist, hat ihre das Verbrechen herausfordernde Wirkung dadurch beträchtlich zugenommen, daß jeglicher Ansatz zur Wiedereingliederung der Straffälligen und fast alle therapeutischen und erzieherischen Programme für Häftlinge fallen gelassen wurden.
Hier liegt der zentrale Widerspruch in der Beweisführung des Buches: einerseits behauptet es, die Ausweitung des Strafsystems sei strukturell notwendig gewesen, um den durch die Einschränkung der Sozialhilfe verursachten Unruhen entgegenzuwirken, andererseits zeigt es, daß diese Unruhen, wo es sie gibt, nicht zu vermehrten Straftaten führen, und daß die Verhärtung des Strafwesens sich jedenfalls nicht auf die Gesamtzahl der Straftaten auswirkt. Es bleiben also zwei Hypothesen: entweder gibt es den funktionalen Zusammenhang zwischen dem gesellschaftlichen Umgang mit der Armut und dem Strafsystem, aber dann besteht er nicht darin, daß dieses das von jenem verursachte Chaos verhindert, und muß anderswo gesucht werden; oder es besteht kein Zusammenhang, und es liegt nur eine zufällige Gleichzeitigkeit von Phänomenen mit unterschiedlichen Ursachen, womöglich gar unterschiedlichen sozialen Funktionen vor.
In der Tat sind Ansätze zu Beweisführungen zu erkennen, denen der Autor leider nicht systematisch nachgegangen ist, die aber einige sehr brauchbar erscheinende, wenn auch tendenziell einander widersprechende Hinweise liefern. Hier sollen vor allem die Rolle der Medien und die sogenannte "Rassenfrage" in den USA eingehender betrachtet werden.
Das Buch untersucht die Rolle der Medien und der Wahlkampagnen bei der Verbreitung des Sicherheitsdenkens und hebt die rituelle Verdammung durch Medien und Politiker der Straftäter, insbesondere der Sexualverbrecher hervor sowie die damit verbundene symbolische Verteidigung der gängigen Vorstellungen über die amerikanische Familie. Dabei ist die Familie der hauptsächliche Rahmen für sexuelle Gewalt gegen Kinder: 80% der Straftaten werden nicht von einzelnen Perversen begangen, wie es die gängige Mythologie behauptet, sondern von Verwandten oder näheren Bekannten des Opfers. So trägt die Behandlung dieser Straftaten durch die Medien zur kollektiven Verleugnung der Wirklichkeit in den Familien als pathogener Raum ödipalen Eingesperrtseins bei (S. 263). Hier zeigt Wacquant also, wie gesellschaftliche Tatsachen sich durch das auszeichnen, was sie verdecken. Sicherheitsdenken, Medienmarkt der Angst, Herstellen einer "Kategorie von Opfern, die man, mit ungeheurem symbolischen Profit, ungestraft verunglimpfen und demütigen kann" (S. 214)(3): diese Phänomene sind im Fall der Sexualstraftaten besonders ausgeprägt, betreffen aber in geringerem Maß auch die übrigen Arten von Straftaten. Man kann bedauern, daß das Buch solche Gedanken nicht weiter verfolgt: das hätte eine eingehendere Untersuchung des Marktes der Angst, insbesondere in den Medien, sowie der ständigen Überfütterung des Fernsehzuschauers mit fast pornographischen (S.11) Bildern polizeilicher Tätigkeit erfordert. Eine Untersuchung des Umgangs der Medien mit der Angst hätte vielleicht gleichzeitig gezeigt, nicht was das Sicherheitsdenken sagt und zu tun erlaubt, sondern was es nicht zu sagen erlaubt und was es verhindert.
Man kann hier nämlich die folgende, zugleich kausale und funktionale Hypothese aufstellen: da Angst und Sicherheitsdenken in Politik und Medien den ersten Platz besetzen, muß die Ausweitung des Strafsystems nicht als Folge der Verunsicherung der Lohnabhängigen, wie Wacquant es sieht, sondern des auf Sensationen ausgerichteten Medienmarktes angesehen werden. Die neue Strafpolitik wäre nur das Ergebnis der Unterwerfung des politischen Diskurses unter die Normen und Anforderungen des Bildermarktes. Wie Pierre Bourdieu gesagt hat, lenkt die sensationelle Nachricht einfach ab: die Ausweitung des Strafsystems wäre also nur eine mit kolossalen Kosten verbundene Folgeerscheinung des inflationären Diskurses über das Verbrechen, der zu nichts anderem da ist als Medien und Gedanken zu beherrschen und die Menschen zu überreden, daß da ihre wahren Probleme liegen, und nicht in der gigantischen Abschöpfung des Mehrwerts, der vielleicht bedeutendsten der Geschichte: gleichzeitig mit dem Wirtschaftswachstum der neunziger Jahre und der Deregulierung des Arbeitsmarktes hat sich, in einem einzigen Jahrzehnt, der Abstand zwischen dem Durchschnittseinkommen des Arbeiters und demjenigen des Arbeitgebers verzehnfacht (von 1:42 zu 1:419)(4), und das nationale Einkommen ist um 66% gewachsen, während das mittlere Einkommen nur um 10% zugenommen, das des ärmsten Fünftels der Haushalte sogar abgenommen hat(5). Diese von Wacquant nur angedeutete Hypothese der im wesentlichen verschleiernden Funktion des Sicherheitsdenkens und der daneben zweitrangigen Bedeutung der Ausweitung des Strafsystems hätte es, so meinen wir, verdient, systematischer untersucht zu werden, an Hand der Veränderungen des Medienmarktes und seiner kausalen Rolle bei der Verbreitung der Angst. Diese Hypothese sieht den Zusammenhang mit den Umwandlungen des Kapitalismus eher im Reden von der Sicherheit als in strafrechtlichen Maßnahmen und scheint so besser vereinbar mit einer Argumentation, die aufzeigt, wie wirkungslos diese Maßnahmen gewesen sind.
Die vorhergehende Analyse gilt nur für den Fall, daß man für die These des Zusammenhangs zwischen den Umwandlungen des Kapitalismus und den Veränderungen des Strafsystems plädiert. Aber die Untersuchung Wacquants legt auch eine andere Interpretation nahe.
Der Autor stellt fest, daß die in den Gefängnissen überdurchschnittlich vertretenen sozialen Kategorien, mehr als die Armen im allgemeinen, die armen Latinos und vor allem die Schwarzen sind, und untersucht daraufhin die massenhafte Inhaftierung in Funktion zu den sogenannten "rassischen" oder "ethnischen" Parametern. Die Gefängnisse sind zu 54% von Schwarzen bevölkert, die nur 12% der Gesamtbevölkerung darstellen - und auch das ist eine neuere Entwicklung: die Inhaftierungsquote der Schwarzen hat sich zwischen 198o und 1995 verdreifacht, während der Prozentsatz der Weißen, die 1945 noch die Mehrheit hinter Gittern bildeten, beständig abgenommen hat. Die Wahrscheinlichkeit, einmal ins Gefängnis zu kommen, beträgt 30% für die Schwarzen und 4% für die Weißen. Jeder sechste schwarze Mann ist wegen der Verurteilung zu längerer Haft seines Wahlrechts beraubt. Eines der interessantesten Kapitel von Wacquants Buch, wohl der originellste Beitrag des Autors zur Untersuchung des Strafwesens in den USA, ist bemüht, den historischen und funktionalen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Formen der Rassentrennung (de jure vor der Bürgerrechtsbewegung, de facto vorher und nachher, wegen der Abschiebung der Schwarzen in die Ghettos) einerseits und dem Gefängnis als Abschiebungsort, dessen Insassen vorzugsweise unter der schwarzen Bevölkerung ausgehoben werden, andererseits.
Der originelle wissenschaftliche Beitrag Wacquants besteht hier in der Ausarbeitung eines Ghettobegriffs durch den Vergleich zwischen den jüdischen Ghettos in Europa und dem schwarzen Ghetto in den USA. In beiden Fällen bedeutet Ghetto Stigmatisierung und Zwang, gleichzeitig ein räumliches Einsperren und eine Abschottung zwischen internen und externen Institutionen. Diese vier grundlegenden Eigenschaften lassen sich aber in der Struktur und der Funktionsweise der Gefängniswelt wiederfinden. Und vom historischen Standpunkt aus gesehen, fanden die Ausweitung des Strafsystems und die massive Inhaftierung der Schwarzen zu der Zeit statt, die unmittelbar auf die Bürgerrechtsbewegung und die Forderung der Schwarzen, aus dem Ghetto herauszukommen, folgte; bevor beide Entwicklungen noch verstärkt wurden durch das Ressentiment einer Mehrheit der weißen Wählerschaft "gegen den fürsorglichen Staat und die sozialen Hilfsprogramme, von denen der kollektive gesellschaftliche Aufstieg der Schwarzen weitgehend abhängt" (S. 235). Ghetto und Gefängnis bilden so ein einziges System der Kontrolle und der gesellschaftlichen Abkapselung der Schwarzen.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Rassen ist also von großer Bedeutung, wenn es darum geht, das Wachstum des Strafsystems zu verstehen. Im Gegensatz zur zentralen These Wacquants ist die Ausweitung des amerikanischen Strafsystems dann aber nicht nur mit den Mechanismen zu erklären, die von den strukturellen Zwängen eines erneuerten Kapitalismus ausgelöst werden, wo die Deregulierung der Arbeit und die Verringerung des sozialen Schutzes zu einer beständigen Gewöhnung der Arbeitnehmer an eine unsichere Existenz führen. Die historische Einzigartigkeit der USA kommt zu den Faktoren hinzu, die mit der Umsetzung der neoliberalen Politik verbunden sind. Doch sind dies zwei relativ unterschiedliche Kausalketten, deren Verschränkung die Einzigartigkeit des Zusammenhangs zwischen wirtschaftlichem und sozialem Nichteingreifen des Staates und autoritärer Kontrolle mittels des Strafwesens in den USA ausmacht; dieser Zusammenhang dürfte deshalb schwerlich in einen anderen sozialen Kontext exportierbar sein. Die These des funktionalen Zusammenhangs auf Grund der Struktur des neoliberalen Kapitalismus verliert also ihre Gültigkeit zugunsten einer Erklärung durch das zufällige Zusammenkommen von relativ heterogenen historischen Kausalitäten. Bedauerlicherweise thematisiert der Autor nicht die potenzielle Spannung zwischen diesen beiden Ansätzen, da er beide sehr eingehend, aber getrennt verfolgt.
Es ist also die Hypothese ins Auge zu fassen, daß die neoliberale Version des Kapitalismus sich entwickeln kann, ohne daß damit notwendigerweise eine Verstärkung der Apparate von Polizei und Strafjustiz einhergeht. Diese Frage ist von größter Bedeutung für die Lage in der Europäischen Union.
Bekanntermaßen erleben die europäischen Länder derzeit eine Verringerung des sozialen Schutzes und die Herausentwicklung von Formen der prekären Lohnarbeit, was in Frankreich zum Beispiel zum Wiederanwachsen der Zahl der armen Arbeitnehmer führt(6). Nicht ohne Schwierigkeiten ahmen Frankreich und Deutschland den Übergang vom welfare zum workfare nach, durch Einführung des RMA (revenu minimum d'activité = Minimaleinkommen für Erwerbstätige) und der Hartz IV-Reformen (deutsche "Reform" der Arbeitslosenversicherung, am 1. Januar 2oo5 in Kraft getreten). Heißt das, daß die soziale Frage in diesen Ländern bald an die Haftanstalten und ihre Aufseher delegiert wird? Wenn auch die Zahl der Inhaftierten in Europa beständig zunimmt, ist diese Entwicklung doch viel geringer als auf der anderen Seite des Atlantiks.
Der Fall Großbritanniens ist hier von besonderer Bedeutung, da dieses Land in den letzten beiden Jahrzehnten einer Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgesetzt war, die derjenigen der USA sehr ähnlich ist. Wenn die These des komplementären Zusammenhangs richtig wäre, müßte eine eng damit korrelierende Zunahme der Zahl der Inhaftierten bei den Briten festzustellen sein. Aber wenn es auch eine solche Zunahme gegeben hat, ist sie doch viel weniger massiv als das große Wegsperren in den USA. Man kann also nicht ohne nuancierende Abschwächungen sagen, daß das Ersetzen des keynesianischen Staates durch das neoliberale Modell in wirtschaftlicher Hinsicht als Folge hat, daß die soziale Frage den repressiven Staatsorganen überlassen wird.
Wenig glaubwürdig scheint auf jeden Fall die These, die manchmal in gewissen Formulierungen Loïs Wacquants angedeutet wird, einer notwendigen Korrelation zwischen dem Schrumpfen des Sozialstaates und dem proportionalen Erstarken des Strafwesens. Angenommen, die These der Komplementarität ist wahr im Fall der USA, und die Ausweitung des Strafsystems stellt in diesem Land tatsächlich ein wichtiges Regulierungsmittel für den Kapitalismus dar, ist es doch möglich, sich mehrere Varianten des neoliberalen Modells vorzustellen, das heißt mehrere Arten, den sozialen Frieden zu erhalten und gleichzeitig den Anteil der Profite bei der Verteilung der Reichtümer zuungunsten der Löhne zu erhöhen. Wenn es also zum Beispiel notwendig ist, daß der öffentliche Raum von durchschnittlich bedeutenden oder gänzlich unbedeutenden Individuen eingenommen wird, damit nicht im Vordergrund die ärgerlichen Probleme der wachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit und der verstärkten Erpressung des Mehrwerts stehen, kann der Medienmarkt offensichtlich, einfach dank der Konkurrenz und der Marktmechanismen, diese Ablenkung bieten, nicht nur mit Hilfe sensationeller Nachrichten, sondern auch einer Vielzahl anderer Themen: Fußball oder Star Academy zum Beispiel, oder unendliche Streitereien über die Unabhängigkeit der Schulen von den Kirchen. Ablenkung ist immer vielfältig.
Aus dieser Analyse ist jedoch nicht zu schließen, daß Europa gegen die finstere, jenseits des Atlantiks zu beobachtende Entwicklung des Strafwesens gefeit ist. So besteht in Frankreich die Gefahr, daß eine Verschärfung der mit ethnischer Stigmatisierung verbundenen Probleme, zusammen mit der anscheinend unerbittlichen Dynamik der Ghettoisierung vieler Stadtviertel, zu sozialen Bedingungen führt, die das große amerikanische Wegsperren ermöglicht haben, wie wir gesehen haben. Dazu kommen die fast vollendete Kommerzialisierung des Medienraumes und ihre Wirkung bei der Verbreitung des Sicherheitsdenkens, die Zerschlagung des Angebots an psychiatrischer Hilfe(7) (die schwerlich zu etwas anderem führen kann als dazu, daß psychische Störungen wieder zunehmend als strafbar angesehen werden), schließlich die Mentalität von Vassallen, zumindest das fast bedingungslose Nachahmungsbedürfnis zahlreicher europäischer Eliten im Bezug auf die USA(8). Der Schluß drängt sich auf, daß eine offensive Kritik des Strafwesens wie in den 70er Jahren wieder in den Mittelpunkt des fortschrittlichen Denkens gestellt werden muß, sodaß die verschiedenen Eiferer für Wegsperren und Unsichtbarmachen der Armut auf ihrem demagogischen Weg auf Widerstandskräfte stoßen, die ihrer Fähigkeit, Schaden anzurichten, angemessen sind. Denen, die sich dieser Notwendigkeit bewußt werden, bietet das Buch Loïc Wacquants, welche Lücken es auch in anderer Hinsicht aufweisen mag, eine sehr wertvolle Unterstützung und äußerst brauchbare Hilfsmittel zur Analyse.



(1)
Die offizielle Armutsgrenze für eine dreiköpfige Familie liegt bei 2ooo $ im Monat. (Zahlen aus dem Buch von Wacquant, S. 212 und 87.)

(2)
Loïc Waquant: Les prisons de la misère (Die Gefängnisse des Elends), Verlag Raisons d'agir, Paris 1999, S. 69

(3)
Man wundert sich hier über das, was die einzige, aber bedeutungsvolle Erinnerung an René Girards Anthropologie zu sein scheint, ohne daß dieser Rückgriff auf die Theorie der gewaltsamen Einstimmigkeit gegen den geächteten Sündenbock eingehender rechtfertigt wird.

(4)
= version originale, sauf: S. 623-657

(5)
Daten aus einem Artikel von Paul Krugman in der New York Times vom 2o. Oktober 2oo2

(6)
Siehe zum Beispiel den Artikel "Travailleurs sans logis" ("Obdachlose Arbeiter") in Le Monde, 8. November 2oo4.

(7)
Der Dekret 2oo4-1o49 vom 4. Oktober 2oo4 der französischen Regierung legt fest, daß psychiatrische Leiden "mindestens seit einem Jahr vorliegen müssen", damit die gesamten Kosten für die Behandlung in der psychiatrischen Klinik von der Sozialversicherung übernommen werden; in den anderen Fällen hat der Patient einen Teil der Kosten zu tragen. Siehe www.admi.net/jo/20041005/SAN0423075D.html. Siehe auch CQFD, "Fou dangereux, mode d'emploi" ("Gebrauchsanweisung für gefährliche Irre"), Heft 18, Dezember 2oo4, S. 4: ein erbaulicher Bericht über die katastrophalen Folgen des Fehlens jeglicher Behandlung in einem Fall, für den höchstwahrscheinlich die Psychiater zuständig gewesen wären.

(8)
Dafür gab eines der bemerkenswertesten Beispiele in der letzten Zeit der Justizminister Dominique Perben, der gelehrig eine der verschrieensten und erwiesenermaßen ungerechtesten Maßnahmen der USA übernahm, die Strafminderung bei Geständnis.

François Athané: über den Autor
Rüdiger Fischer: über den Übersetzer