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S. Marco oder das allerletzte Geschehen
Pierre Drouot, Übersetzung: Angelika Gross
Figuren und Figurationen
        Das Buch von Georges Didi-Huberman über Fra Angelico ist seinen eigenen Worten gemäß die Folge einer Überraschung, und zwar "derjenigen, eines Tages in einem Gang des Klosters von S. Marco in Florenz zwei oder drei erstaunliche, im Quattrocento gemalte Dinge vorgefunden zu haben"(1). Bei diesen schienen die Kategorien des Kunsthistorikers, besonders die der Figuration, nicht anwendbar zu sein. Diese "zwei oder drei Dinge", denen der Autor begegnet war und die bisher keinem Historiker aufgefallen waren, könnten auf den ersten Blick in der Tat nur als nebensächliche Einzelheiten erscheinen: auf dem Hintergrund eines Freskos verstreute Farbflecken, Marmorimitationen … Bei den ersteren handelt es sich um rote, den Boden übersäende Flecken, und zwar auf dem Fresko von Zelle 1 des Klosters: Noli me tangere. Für einen unaufmerksamen Betrachter handelt es sich dabei einfach um schnell ausgeführte Blüten, doch Didi-Huberman zweifelt daran, denn "wenn Angelico eine Blume hätte malen wollen, hätte er das getan, und zwar mit Sorgfalt": "Es sind aber nur Farbflecken, nichts anderes". Dieser Verdacht verstärkt sich, wenn man sie aus der Nähe ansieht, und wenn man sich insbesondere fragt, "als was diese roten Flecken gemalt worden sind": Sie scheinen Abbilder der Wundmale Christi zu sein. Meist zu Fünferbüscheln gruppiert, erinnern sie in Zahl, Farbe (dieselbe terra rossa wird verwendet) und Form an seine todbringenden Verletzungen. Bei ihnen dürfte es sich laut der Begriffsgebung von Pierce nicht um einfache "Ikonen" handeln - sie haben auch "Hinweischarakter": Sie verweisen auf etwas Anderes.
        Gleicherweise dürfte es sich bei dem unter dem Fresko (Schattenmadonna) des östlichen Ganges gemalten Marmor nicht um eine einfache Wandverzierung handeln. Luxus gibt es nirgends im Kloster, und aus der verwendeten Technik lässt sich keine Absicht auf eine naturgetreue Wiedergabe von Marmor ableiten - der Maler hat in der Tat buchstäblich "aus Entfernung einen Regen vielfarbiger Flecken verspritzt, die auf der Oberfläche […] ein vollkommen unregelmäßiges Streumuster bilden", das weniger einem Marmorierungseffekt nahe kommt als auf dem Boden des Noli me tangere verstreuten Flecken. Erneut sind diese annähernden marmi finti Hinweise, die auf etwas Anderes verweisen - zweifellos auf so etwas wie Reinheit, wovon schon die häufige Verbindung von Marmor und der Figur der Jungfrau Maria im Werk von Fra Angelico zeugt (wie bei der Krönung Marias des Louvre). "Mit anderen Worten, er [der Marmor] ist da wie eine Figur: er bedeutet ‚Marmor', bedeutet aber ‚Marmor' im Hinblick auf etwas Anderes". Denn so sieht die "hinweisende" Definition aus, mit der man laut Didi-Huberman den Begriff der Figur auffassen muss, insofern man ihn auf Fra Angelico anwenden will. Gegenüber der Anwendung der Kategorie der Figuration auf diese Malerei tritt er in der Tat für eine Rückkehr zur mittelalterlichen Auffassung der figura ein, deren Erbe der dominikanische Maler von S. Marco ist. "Ich gehe hier von der Annahme aus, dass der Akt des Malens darin besteht, ‚das Andenken des Mysteriums der Fleischwerdung' zu erzeugen - und damit storia und damit ‚figürliches' Andenken der Wirklichkeit -, und gerade dieser Akt soll mit figura bezeichnet werden(2).
        Fra Angelico wäre also kein figürlicher Maler, sondern ein Maler der Figur. Kein Renaissance-Maler, sondern ein der mittelalterlichen Dominikanertradition, der thomistischen Theologie verpflichteter Maler. In der Tat ist die "Figuration", d.h. die Nachahmung der Natur, erst durch die in Albertis berühmter Abhandlung De pictura festgelegte humanistische Ästhetik hoffähig geworden, der sich das Werk des Mönches, obwohl es mit ihr zeitgleich ist, entziehen würde(3). Die Kunstgeschichte selbst ist zu einseitig, wenn sie in ihr einen Willen zu bloß mimetischem und veranschaulichendem, einfachen und andächtigen Ausdruck zu sehen glaubt. Didi-Huberman wäre jedoch bereit, in Bezug auf sie mit Michael Baxandall von Andacht zu sprechen, doch unter der Voraussetzung, diesem Akt des Malens seinen ursprünglichen Sinn zu wiederzugeben (was der Verfasser des L'œil du quattrocento jedoch nie macht), der daraus "den Hauptakt religiöser Tugend" macht, die letztendlich auf der "Betrachtung von Gottes Güte" beruht, oder im "Akt, Gott in sich zu sehen". Die Behauptung, Angelicos Kunst sei "anspruchslos", ist doppelt widersinnig. Sie verkennt die Vielschichtigkeit der religiösen Bildtheorie, wenn sie sie als schlichte Nachahmung auffasst; sie übersieht die Schwierigkeiten einer Definition der Rolle des Textes der Heiligen Schrift, wenn sie in den Fresken einfach nur eine erzählerische Anschaulichmachung der Bibel sieht.

Die Bilder und der Text
        Baxandall gehört so zu "dieser Tradition [die] sich mit der Postulierung [...] einer Einseitigkeit der Bilder zufrieden gibt: Sie postuliert, dass die Bilder vereinfachte, leicht verständliche Veranschaulichungen weniger einfacher und ‚dem Volk' weniger leicht zugänglicher Texte sind. Sie greift dazu auf Quellen zurück, die den Glauben entstehen lassen, dass die Bilder‚ die Bibel der Analphabeten' darstellt: Sie Malerei wäre nur für Dumme und Ungebildete da, die "auf dem Bild einfach das zu sehen hätten, was sie im Text nicht lesen können". Ein solches Material besitzt in den Augen Didi-Hubermans aber oft nur strategischen Wert, oder bekundet nur einen Widerstand der eigentlichen und diffusen Kraft der Bilder gegenüber. Und man findet aus der Epoche von Fra Angelico viel ehrgeizigere Definitionen ihrer Macht. In einem zur Zeit Fra Angelicos benutzten Wörterbuch, dem Catholicon, behauptet Giovanni di Genova, ebenfalls Dominikaner, im Anschluss an Thomas von Aquin, dass das religiöse Imago drei Forderungen gerecht werden müsse. Wenn die erste der einseitigen Definition entspricht - sie soll "der Unterweisung der Ungebildeten dienen" - fasst die zweite schon höher: Sie soll "ein Gefühl von Andacht" entstehen lassen. Was die dritte angeht, so ist sie überaus ehrgeizig: Das Bild soll das Andenken an das "Mysterium der Fleischwerdung" aufrechterhalten. Die bildliche Darstellung scheint so in enger Beziehung zur Fleischwerdung stehen zu müssen. Sie hätte letztendlich die unmögliche Aufgabe, der unverständlichen Fleischwerdung Gottes in Jesus zu gedenken, das Mysterium eines paradoxalen Ereignisses zu verewigen, durch das der Geist Fleisch, das Vorstellbare sichtbar geworden wäre. Denn auch das ist die Macht des Bildes: Stoffliches unstofflich werden zu lassen, Ungestaltetem Form zu geben, Unsinnliches in Farbe wiederzugeben. Die Fleischwerdung und die Darstellung teilen so diese widersprüchliche Forderung, die Bernardino von Siena, Fra Angelicos unmittelbarer Zeitgenosse, in Worte gefasst hatte: "Die Ewigkeit kommt in der Zeit, die Unendlichkeit im Maß, der Schöpfer im Geschöpf [...] das Ungestaltbare in der Gestalt, das Unerzählbare in der Rede, das Unerklärliche im Wort, das Unumreißbare im Ort, das Unsichtbare im Sehen [...]". Für den Besucher von S. Marco besteht kaum ein Zweifel, dass dessen Fresken vollständig auf dieses Mysterium ausgerichtet sind. Sind sie "figürlich", dann sind sie bestrebt, etwas eigentlich Undarstellbares darzustellen - das engelhafte Wort (Verkündigungen), die Unberührbarkeit des Göttlichen (Noli me tangere), die Wiederauferstehung, das Leiden Gottes...
        Dabei soll aber nicht vergessen werden, dass sich diese Werke nicht damit begnügen, die Bibel zu veranschaulichen, sondern dass sie eine tiefergreifendere Absicht verfolgen. Wenn der Maler hier die Heilige Schrift nachahmt, dann nicht wie ein Illustrator, der seine "Geschichten" in Bilder umsetzen würde, sondern wie ein Exeget, der mit den besonderen Mitteln der plastischen Darstellung deren Wirkungen wiederzugeben bestrebt ist. In der Tat ist die Heilige Schrift selbst keineswegs eindeutig: Man kann sie nicht auf die Geschichte reduzieren, die sie erzählt. Diese ist nur ihre Oberfläche - die ihrerseits auf etwas Anderes verweist. In diesem Sinn ist sie selbst Figur. Im Lauf der Zeit zählt die Tradition insgesamt vier Wortsinne für den biblischen Text. Zu dem, was man in ihm buchstäblich lesen kann (die historia), muss so "das, was man glauben soll" hinzugefügt werden, da das eigentliche Ziel des Textes ja das Erwecken von Glauben, eine Bekehrung ist: die allegoria, deren "Begriff [...] man auf einen Nenner bringen kann, wenn man sagt, dass sie den historischen Sinn im Hinblick auf die Wahrheit selbst bekehrt". Anschließend folgt die tropologia die ihrerseits "den buchstäblichen Sinn zur virtus, der moralischen Tugend hin bekehrt": Darin besteht "die Gegenwartsbezogenheit" der Heiligen Schrift, ihr Sinn, den sie für uns im Alltag annimmt. Schließlich bezeichnet die anagogia "das letztendliche Prinzip all dieser Bekehrungen", die Erhebung, das "zwischen dem nunc des Irdischen und dem tunc des Ewigen" gespannte, lichtvolle Emporfliegen "zum Kuss der Ewigkeit": Sie ist die Erweckung des desiderium, des Verlangens nach Seligkeit. Zweifellos liegt bei der Bibelillustration Fra Angelicos vordringlichstes Bemühen darin, vor allem diesen Werdegang wiederzugeben, in dem Sinn, den er für seine Zeitgenossen besitzt: "Wenn Fra Angelico eine Stelle aus der Heiligen Schrift las, die des Noli me tangere zum Beispiel, wusste er also genau, dass er nicht eine einfache Geschichte mit einem orientalischen Dekor, mit Gestalten und einer mehr oder weniger dramatischen Handlung las. Gewiss las er eine Geschichte, aber er las gleichzeitig auch eine veritas, eine virtus, ein desiderium"(4).

Unähnlichkeit der Figur, Anwesenheit der Abwesenheit
        Wenn die Heilige Schrift Figur ist, kann auch ihre bildliche Ausstattung nur Figur sein. Die eine wie die andere haben als gemeinsames Ziel, das undarstellbare Mysterium der Fleischwerdung darzustellen - was nur über ein Versetzen in Unergründlichkeit des Sinnes möglich erscheint, der eine gedankliche Entwicklung vom einen zum anderen, eine Bekehrung, erlauben würde. Was nun diesen Wink gibt, was nun erlaubt, etwas durch eine Darstellung zu "figurieren", ist eben ein Aufgeben der humanistischen "Figurierung", ein Verzichten auf die Mimese: Da kein sichtbares Zeichen durch sein Aussehen etwas Undarstellbares unterstellen kann, muss die notwendige Unähnlichkeit der Bilder mit dem, was sie ausdrücken, hervorgehoben werden. "Es verhält sich so, als fordere das Element der Anwesenheit irgendwie ein nicht Ähnlichsein des Zeichens mit seinem Denotat", merkt Didi-Huberman an, was aus der Hostie die beispielhafteste Figur macht, die mimetisch Brot bedeutet, sinnbildlich aber eben dem Mysterium der Fleischwerdung gedenkt - zu dem sie sich in einem Verhältnis von "keinerlei Ähnlichkeit" befindet. Hier findet sich die Erklärung des Titels seines Werkes (Unähnlichkeit und Figuration): Für die Versinnbildlichung gilt für Fra Angelico nicht die Forderung nach Ähnlichkeit, sondern im Gegenteil nach Unähnlichkeit. Als Erbin einer Form von negativer Theologie gründet sie auf der unausgesprochen vorhandenen Idee, dass man das Göttliche nur durch Verzicht auf die Darstellung darstellen kann. Der falsche Marmor oder die Flecken aus terra rossa wären so die Frucht einer reichen mittelalterlichen ästhetischen Tradition in der Nachfolge des Dionysius Aeropagita (oder Pseudo-Dionysius). Dieser unterscheidet in der Tat in seiner Schrift Von der himmlischen Hierarchie zwei Arten von Bildern, die einen, die ihrem Gegenstand gegenüber treu sind, die anderen, die "die Fiktion bis auf die Spitze des Unwahrscheinlichen, des Absurden" treiben. Dabei ist es die erste Art, die, angewandt auf das Göttliche, am verwerflichsten ist: "Das Ähnliche täuscht uns", denn es unterstellt eine Verwandtschaft zwischen dem Bild und seinem Gegenstand, während dieser unvorstellbar ist. "Die unvernünftigen Bilder, schreibt Dionysius, erheben unseren Geist besser als diejenigen, die man nach der Ähnlichkeit mit ihrem Gegenstand gestaltet." In diesem Sinn ist es besser, sich Gott als einen Wurm anstatt als einen König vorzustellen. Das Göttliche lässt sich nur durch Rückgriff auf willkürliche Zeichen darstellen - und ganz allgemein als Vorstellung zu fassen.

Ort, Vergegenwärtigung, Aufforderung
        Die Figur in S. Marco ist also unähnlich: Sie verweist auf etwas, das ihr Anwesenheit verschafft, ohne es wiederzugeben. Es scheint jedoch, dass die Vergegenwärtigung dieses Etwas nichts anderes ist als das Mysterium der Fleischwerdung (wie das der Darstellung) und außer dieser Unähnlichkeit der Figuren eine gewisse "Darstellung" des Ortes bedingt. So weist Georges Didi-Huberman nachdrücklich auf die Tatsache hin, dass Fra Angelico den Ort als etwas Anderes aufgefasst haben dürfte als ein einfaches Behältnis, einen beliebigen Hintergrund. Die Klosterbibliothek besaß in der Tat die Kommentare von Albertus Magnus zur Physik des Aristoteles, in denen dieser gemäß der aristotelischen Definition aus dem Ort ("der Ort ist etwas, aber er hat auch eine bestimmte Macht") ein "Entstehungsprinzip" macht: "Er arbeitet an der Anlage des Seins selbst". "Nun ist es faszinierend festzustellen", fährt Didi-Huberman fort, "dass Fra Angelico sich bei der Ausübung seines Malerhandwerks streng an die Anforderungen einer solchen Auffassung von Ort hält", insbesondere in der Art und Weise, wie er das Feld im Noli me tangere behandelt. Er stellt sparsam eine Wiese dar, auf deren Hintergrund er seine kleinen roten Flecken verteilt, sowie drei blutige Kreuzchen, somit Zeichen, die "einen Wert für Verschiebung, Durchgang, Verbindung haben und keinen solchen für Festlegung, Erkennung, oder Predigt". Der Ort ist nicht nur da, um eine Geschichte anzusiedeln: Er ist der Ort der Gestaltung von Figuren, er ist eine Bekehrungsmacht.
Wenn der gemalte Ort der Szene nichts von einem einfachen Gehalt hat, muss man vor allem auf dem Umstand beharren, dass der Ort des Geschehens selbst kein einfacher Ausstellungsort ist. Der erste Stock des weißgetünchten Klosters von S. Marco, seine Gänge, seine Zellen, sind kein Museumsraum. Das nicht wegtragbare Fresko zwingt dazu, es an diesem Ort zu betrachten, einem Ort des Wohnens und Betens, und dem etwas anhaftet, aus dem etwas Anderes als eine Darstellung entsteht. Diese Bindung des Werkes an den Raum des Blickes selbst wird in der Tat durch die zahlreichen Zitate verstärkt, die Fra Angelico davon in seinen Malereien macht. Zahlreich sind die, die die Klosterarchitektur selbst in Erinnerung rufen. In der einen Verkündigung ahmt das Fenster der Zelle, in der sich Maria befindet, dasjenige unmittelbar neben dem Werk nach; das dort dargestellte Ziegeldach gleicht demjenigen, das der Zuschauer durch die Mauerlücke erblickt. In zahlreichen anderen Werken scheinen gemalte Decken wie in einem deckungsgleichen Weiß die Wölbungen des Raumes zu wiederholen. Das zur "Versinnbildlichung" bestimmte Bild in einem Winkel des Ganges stellt selbst die Gebäudeecke dar. Noch in den Kreuzigungen scheint das herabrinnende Blut aus dem Rahmen herauszulaufen und die Wand selber zu beflecken. Dadurch bricht der Maler den Abstand zwischen dem Werk und dem Ort, zu dem es gehört. Der Ort des Geschehens selbst wird so gleichsam zu seinem eigenen Gegenstand: Er wird dem Werk einverleibt. So wird ebenfalls der Abstand zwischen dem Werk und dem Zuschauer gebrochen. Durch das Gemälde in Erinnerung gerufen, wird dieser darin gleichfalls miteinbezogen: Diesbezüglich scheint Petrus Martyr selbst, der auf einem Fresko als außenstehender Zeuge einer Verkündigung dargestellt ist (Zelle 3) wohl sein Doppelgänger zu sein - und von daher scheint jeder zur Bezeugung dessen aufgerufen, was er sieht. Der am Ort in Szene gesetzte Zuschauer wird durch das Werk auch gemahnt, wird durch es inständig angefleht - das heißt, gleichzeitig zu Hilfe gerufen und verpflichtet. In diesen Einzelzellen (camera), die immer nur ein Einzelner betreten kann, wird seine ganze Person in Anspruch genommen, auch wenn er von selbst nur gekommen wäre, um etwas zu entgegenzunehmen.

So erreichen die Werke von S. Marco paradoxalerweise gerade durch ihre Zugehörigkeit zu einem einzigartigen Ort, durch die Vervielfachung ihrer Bindung an diesen Ort eine Art Allgemeingültigkeit. Indem sie auf diese Weise die Stellung des Zuschauers miteinbeziehen, werden sie Zeitgenossen jeden Geschehens: Die Zeit des Werkes ist diejenige seiner Wahrnehmung. So besitzen sie wenigstens die weiter oben beschriebene "tropologische" Tugend: Nicht wiedergeb- und nicht wegtragbar sichern sie deswegen selbst die zeitlose Wiedererzeugung eines neu belebten ästhetischen Gefühls, eines gegenwartsbezogenen Sinnes, den jeder Besucher aufgefordert ist, neu zu schaffen. Weil das Werk äußerst genau angesiedelt ist, wird es zum Ort der Erzeugung, der Hervorbringung eines Sinnes, einer Poesie. Aber um genauer zu sein, muss man zugeben, dass die Zeit des Werkes nicht nur die unendlich veränderliche Zeit seiner Wahrnehmung ist, sondern gleichzeitig die sehr genaue (die Technik der Freskenmalerei erfordert fast eine Malerei im Augenblick) seiner Schaffung, und die problematische seines "Gegenstands": es sind alle Zeiten. Die in einer Anzahl von Fresken vorfindbaren Anachronismen (wie die Anwesenheit des Petrus Martyr, die des Klosters … neben den biblischen Gestalten), tragen im Übrigen zu dieser Verdichtung der Zeiten im Werk bei. Da diese vollkommen einmalige Erfahrung gänzlich vom Augenblick des Sehens abhängt, kann man sogar behaupten, dass die Zeit des Geschehens mit der Ewigkeit zusammenfällt. Durch die malerische Anlage von Fra Angelico, durch sein inständiges Flehen wird der Zuschauer veranlasst, in das Werk einzutreten, verpflichtet, an dem teilzunehmen, wofür seine Anwesenheit geschaffen wurde: am Mysterium der Fleischwerdung (die auch die der Erfahrung ist, die er gerade zu erleben im Begriff ist: die der Darstellung). Dazu gezwungen, plötzlich Teil einer Welt zu sein, einer Zeit, die nicht die seine ist und doch gleichzeitig in der seinen zu bleiben, macht er die undenkbare Erfahrung der Zeitlosigkeit. Noli me tangere, pittura a fresco: nicht berühren, frisch gestrichen; er verspürt nicht ohne "Schauder", die Unmöglichkeit (besser wäre es sogar zu sagen, das Verbot) der sinnlichen Wahrnehmung des Göttlichen - oder besser gesagt, des Sinnes. Es ist, zum Schluss, die äußerste Einmaligkeit des Verhältnisses des Werkes zum Geschehen, die aus dem letzteren diese Grenzerfahrung macht, die die des Allgemeingültigen ist. In dieser Hinsicht darf man vom einem letztendlichen oder beispielhaften Charakter des Werkes von Fra Angelico in S. Marco sprechen: Nur weil es im höchsten Maß unwiedererzeugbar ist, besitzt das Werk einen derart "ausstrahlungskräftigen Charakter".


(1)
Georges Didi-Huberman, Fra Angelico. Dissemblance et figuration, Flammarion, Reihe Idées et Recherches, Paris, 1990; Reihe Champs, 1995, S.10. (in Dtl.: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration München, Wilhelm Fink, 1995.). Diese Überlegung stützt sich vor allem auf den ersten Teil (das Werk besteht aus zwei zusammengefassten Artikeln): "Farben des Mysteriums: Fra Angelico, der Maler des Unähnlichen".

(2)
op.cit., S.48.

(3)
Gegenüber der von Alberti begonnenen, humanistischen ästhetischen Tradition - deren Erben die Historiker sind … -, die die Unabhängigkeit von Kunst und Religion behauptet und sie in ihrer Stofflichkeit denkt ("Ich nenne Zeichen den Anteil an Oberfläche, den das Auge sehen kann"), in ihrem Verhältnis (einer Nachahmung) der Natur, oder als Erzählung (storia), bleibt die exegetische Theorie der Bilder lebendig, getragen von Antoninus von Florenz. "All das macht verständlich, bis zu welchem Punkt die Denkkategorien von Alberti und von Antoninus heterogen waren. Hätte Fra Angelico zwischen diesen beiden einander ausschließenden semiotischen Welten zu wählen gehabt, ist es klar, dass er Antoninus gewählt hätte"; op.cit., S.73.

(4)
op.cit., S.68.

Pierre Drouot: über den Autor