‹‹‹ No 5 - La Banque / Die Bank
 
 
Schulden zwischen Gaben und Pflicht
François Athané, Übersetzung: Marina Barré, Alban Lefranc, Zeichnungen: Michael Blümel



(Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, der im Rahmen des Doktorandenseminars von Didier Deleule gehalten wurde.)

Warum sollte man sich heute für den Begriff ‚Schuld' interessieren? [Siehe: das Problem der Schuld, Bemerkungen über der Übersetzung (1).]

Er ist zuerst politisch relevant: Heutige politische Debatten befassen sich mit der Schuldenfrage. Unter den verschiedenen Gruppen, die um eine andere Form der Globalisierung kämpfen, sehen immer mehr militante Vereine und sogar politische Parteien den Kern ihres Strebens in der Kritik der sogenannten schändlichen Schulden zwischen den armen Ländern und dem IWF oder der Weltbank.
Diesem ersten Wert des Begriffs ‚‚Schuld' und seiner Legitimitätsbedingungen im gegenwärtigen geopolitischen Feld kommt ein zweiter Grund hinzu, sich für ihn zu interessieren, auf einer anthropologischen und theoretischen Ebene diesmal. Man kann nämlich beobachten, wie sich unter den französischen Intellektuellen immer mehr Theoretiker dieses Begriffes bemächtigt haben, um die sozialen Verhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. Diesmal konzentriert sich die Analyse nicht auf die zwischenstaatliche Ebene, sondern auf die Mechanismen innerhalb einer Gesellschaft. Mehrere Beispiele könnten genannt werden, die diese Tendenz illustrieren, den Begriff neu zu beleben um in ihm den Grund der sozialen Verhältnisse zu erkennen: a) Manche haben zum Beispiel versucht, die Beziehungen zwischen den Generationen im Allgemeinen und das Prinzip der Altersversorgung zu verbinden, indem sie aus der Altersversorgung eine Form der aufgeschobenen Gegenseitigkeit machen: die Beschäftigten sollen heute für die Bedürfnisse der Rentner sorgen, weil die Rentner früher gearbeitet und die Bildung der heutigen Beschäftigten finanziert haben. Die Synchronie der Verteilung würde eine Form der aufgeschobenen Gegenseitigkeit verbergen, in der eine Schuld symbolisch aufgenommen und zurückbezahlt werden würde. b) Auf einer grundlegenderen Ebene versuchten manche Autoren, die Gesellschaft aus dem Prinzip der Schuld zu begründen, indem sie den uralten Begriff "Lebensschuld" benutzten, eine Art ursprünglicher Schuld des Menschen, die er allein durch sein Leben insbesondere seinen Eltern gegenüber, aber auch der menschlichen Gesellschaft im allgemeinen gegenüber auf sich laden würde. Im ersten Moment kann diese Idee übertrieben und nur metaphorisch wirken, ich bezweifle aber, dass man eine geeignetere Vokabel finden könnte, um zu beschreiben, was sie auszudrücken vermag.
Der 1998 bei Odile Jacob veröffentlichte und von Michel Aglietta und André Orléan herausgegebene Sammelband La Monnaie souveraine (Die souveräne Währung), in dem der antike Begriff der "Lebensschuld" wieder aufgenommen wird, vertritt beispielhaft diese Bewegung:

"Man darf nicht annehmen, dass die Schuld ursprünglich ein Verhältnis zwischen unabhängigen Subjekten, wie in der heutigen Finanzwelt, wäre: Die Schuld ist der gesellschaftliche Zusammenhang, der definiert, was die Subjekte in dieser oder jener Gesellschaft sind. Es sind nicht vorher unsoziale Individuen, die diesen Zusammenhang erstellen, indem sie Kontakte miteinander knüpfen. Die originäre, oder ursprüngliche Schuld ist einerseits wesensstiftend für die lebenden Individuen und garantiert andererseits den Fortbestand der Gesellschaft in ihrem Ganzen. Das ist eine Lebensschuld. In ihrer archaischen Bedeutung ist diese Schuld die Anerkennung einer Abhängigkeit der Lebenden den souveränen Mächten gegenüber, Göttern und Ahnen, die einen Teil der kosmischen Macht aufgegeben haben, die aus ihnen quillt. Die Weitergabe dieser Kraft, die den Fortbestand des Lebens ermöglicht, wird ausgeglichen, indem die Lebenden ihr ganzes Leben lang die Lebenskraft zurückbezahlen, zu deren Verwahrer sie gemacht worden sind. Aber die unaufhörliche Reihe der Tilgungen erschöpft die ursprüngliche Schuld nicht: sie baut die Souveränität aus und befestigt die Gemeinschaft in ihren Werken und Taten, unter anderem durch die Opfer, die Rituale und die Gaben. Der größte Irrtum, der gemacht werden könnte (…) würde darin bestehen, dass man den Begriff der ursprünglichen Schuld unter dem Vorwand zurückweisen würde, dass wir die Sprache der Tradition nicht mehr sprechen, die ihn uns hinterlassen hat. (...) In den der Zukunft aufgeschlossenen Gesellschaften wäre die Hypothese der Lebensschuld als Grundlage des sozialen Zusammenhangs nicht mehr relevant. Das glauben wir aber nicht. Im Gegenteil glauben wir, dass die ursprüngliche Schuld der entsprechende Begriff bleibt, um das Ganze der Gesellschaft und ihre Bewegung zu denken."

Die Schuld erscheint hier als eine strukturelle Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wesentlich ist er nicht Vertrag sondern Schuld. Am Anfang sei die Gebühr gewesen.
Man wird aber bemerkt haben, dass in diesen zwei Arten von gegenwärtigen Diskursen (die militante einerseits, die anthropologische andererseits) das Wort Schuld nicht genau die gleiche Bedeutung hat. Im ersten Fall geht es um die Schuld und die Verschuldung im strengen Sinne als wirtschaftliches Verhältnis zwischen zwei Entitäten, zwei Rechtssubjekten mit einem Anfangskontrakt, ein Darlehen und eine verschobene Rückzahlung.
Im zweiten Fall ist die Schuld nicht nur materiell. Es geht um eine konstitutive Schuld, eine existentielle, denn die alleinige Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, würde aus uns verschuldete Menschen machen. Diese Schuld wäre ohne Anfangskontrakt, und sie bestünde nicht zwischen zwei Individuen, zwei Personen: sie wäre die erste Verbindung des menschlichen Wesen mit einem anderen und mit allen Menschen, die Grundlage der sozialen Verpflichtungen und der sozialen Handlungen, sowie des Austauschs zwischen den Menschen.
Hier will ich die Relevanz dieser Auffassung überprüfen, die den sozialen Zusammenhang als Schuld versteht.
In diesem Sinne will ich folgendermaßen vorgehen:
1. Zuerst will ich die Geschichte der heutigen Analysen der ursprünglichen Schuld, bzw. Lebensschuld, kurz zusammenfassen.
2. Dann sollte man die Verhältnisse zwischen den zwei Bedeutungen des Begriffs ‚Schuld' erläutern, ‚Schuld' im wirtschaftlichen und materiellen Sinne, und ‚Schuld' im existentiellen Sinne. Es geht also darum, die Beziehungen der zwei sich nahen Begriffe der Schuld und der Pflicht (Schuldigkeit) zu analysieren [indem wir zwischen dem, was allen geschuldet wird, und vielleicht "Schuldigkeit" (Pflicht) genannt werden sollte, und dem, was nur einem oder einigen geschuldet wird, den man spezifischer als "Schuld" bezeichnen kann, unterscheiden]. Wir werden in zwei Richtungen arbeiten: einerseits die Pflicht und die Schuld als Begriffe analysieren, aber auch analysieren, wie die Schuld entstehungsgeschichtlich möglicherweise Vorrang vor der Pflicht hat.
3. Dann werde ich versuchen herauszufinden, ob jede Form der verschobenen Gegenseitigkeit als Schuld analysiert werden kann, und allgemeiner, ob alle Formen der sozialen Beziehungen, die in der Vielfalt der menschlichen Gesellschaften empirisch beobachtet werden können, sich auf den Begriff der Schuld beschränken lassen.

I. Kurzgeschichte des Begriffs 'Lebensschuld'

Die Wiederaufnahme des alten Begriffs ‚Lebensschuld' stammt aus dem Werk des Anthropologen und Sprachwissenschaftlers des alten Indien Charles Malamoud. Mehrere Autoren (Azam, Aglietta et Orléan) versuchen, die Arbeit von Malamoud zu verallgemeinern und den Begriff ‚Lebensschuld' auf alle Gesellschaften anzuwenden.
Als Quelle dieser Forschungsströmung findet man Malamouds Studien über die Schuldtheologie im Brahmanischen Indien: Mehrere vedische Texte oder Kommentare der Veda befassen sich mit der konstitutiven Schuld des Menschen, dem ‚rnà' im Sanskrit. So der folgende Text, aus dem Satapatha-Brahmana, von Sylvain Lévi übersetzt und von Malamoud zitiert:

"Jedes zur Welt kommende Wesen wird als eine Schuld den Göttern, den Heiligen, den Vätern oder den Menschen gegenüber geboren. Wir opfern, weil wir von Geburt her eine Schuldigkeit den Göttern gegenüber tragen; um ihretwillen tun wir es, wenn wir opfern, wenn wir ein Trankopfer veranstalten. Und wir tragen die heiligen Texte vor, weil wir es von Geburt her den Heiligen schulden; um ihretwillen tun wir es, und derjenige, der die heiligen Texte vorträgt, wird "der Wächter des Heiligen-Schatzes" genannt. Und wir wünschen uns Kinder, weil wir es von Geburt her den Vätern schulden; um ihretwillen tun wir es, damit ihre Nachkommenschaft fortgesetzt und nicht unterbrochen wird. Und wir sind gastfreundlich, weil wir es von Geburt her den Menschen schulden; um ihretwillen tun wir es, wenn wir gastfreundlich sind, wenn wir ihnen etwas zu essen geben. Derjenige, der das alles macht, benimmt sich richtig; er hat alles erreicht, alles erobert. Und weil er von Geburt her eine den Göttern gebührende Schuld ist, befriedigt er sie, indem er opfert."

Jedes menschliche Leben ist eine Schuld, und jede Tat, die im sozialen Rahmen geleistet wird, ist die Rückzahlung einer Schuld: ein Opfer bringen, genauso wie den Fremden ernähren, oder Kinder gebären: Wenn er Kinder hat, tilgt der Mensch seine eigene Schuld den Vorahnen gegenüber, indem er ihren Stamm, ihre Nachkommenschaft erhält. So wird sein Sohn der Träger dieser Schuld: auch er muss Kinder haben, und den Vorahnen Opfern bringen. Einen Sohn zu haben heißt, nicht mehr Schuldner sein und möglicherweise Vorfahr werden, das heißt Gläubiger.
"Die Beziehung zwischen den beiden Schuldtypen ist sehr stark. Die dahrma-Abhandlungen rechtfertigen die Verpflichtung des Sohnes, die Schulden seines verstorbenen Vaters zurückzubezahlen, indem sie diese Schulden mit der religiösen Pflicht im strengen Sinne verbinden, die darin besteht, dass der Sohn seinem Vater die den Manen gewidmeten pinda schenken soll." Purushartra, S. 55 der französischen Ausgabe
"Was hier besonders auffällt, ist die Stärke der Bindungen, die die religiöse Schuld (Pflicht) und die materielle Schuld verbinden. Der Übergang eines Registers zum anderen ist konstant (…) Die materielle Schuld ist ein Abbild, eine besondere Äußerung der angeborenen Schuld, das heißt, der Tatsache, dass der Mensch sterblich ist." Purushartra, S. 60-61 der französischen Ausgabe
In der autochthonen Theorie des Brahmanismus findet man zwei Ebenen der ‚Schuld'-Analyse.
1. eine materielle Ebene, die wirtschaftliche Schuld
2. eine nichtmaterielle, existentielle Ebene: Der Begriff wird universell, jedes menschliche Leben ist eine Schuld, jede soziale Beziehung ist die Rückzahlung einer Schuld.
Nun, bei Aglietta, Orléan und ihren Mitarbeitern findet man genau dieselbe Struktur: Einerseits ist die Schuld ein Vertrag zwischen privaten Personen, eine wirtschaftliche und materielle Schuld, aber andererseits ist sie auch ursprüngliche Schuld, existentielle und nichtmaterielle ,Lebensschuld'.
Die strukturelle Homologie zwischen der autochthonen Theorie der Schuld und der wissenschaftlichen Theorie geht aber noch weiter: wenn bei Malamoud die materielle Schuld nur eine Form der religiösen ist, ist genauso bei Aglietta und Orléan die ursprüngliche Schuld nicht die materielle Schuld: im Gegenteil lassen sich die materiellen Schulden aus der nichtmateriellen Schuld ableiten.

"Es darf nicht geglaubt werden, dass die Schuld ursprünglich eine Schuld zwischen unabhängigen Subjekten wie in der heutigen Finanzwelt ist: Die Schuld ist die gesellschaftliche Beziehung, die definiert, was die Subjekte in dieser oder jener Gesellschaft sind (...) Die originäre, oder ursprüngliche Schuld ist einerseits eine grundlegende Eigenschaft der lebenden Individuen und garantiert andererseits den Fortbestand der Gesellschaft in ihrem Ganzen."

Hier darf man sich Sorgen machen. Die Autoren von Monnaie Souveraine ("die souveräne Währung") haben die brahmanische Konzeptualisierung der Lebensschuld wiederaufgenommen und ihr die Würde einer wissenschaftlichen These verliehen. Zwei Möglichkeiten also:
Entweder hat das mythische Denken seit langem schon alles gefunden, was die Sozialwissenschaften finden können, und diese sind vielleicht keine Stunde Mühe wert, weil es wirklich zwischen ‚Soziodikos' und Soziologie keinen Unterschied gibt.
Oder die Autoren der Monnaie Souveraine ließen sich von dem außergewöhnlichen Potential an Bedeutungen und Interpretationen verführen, die der Begriff Lebensschuld anbietet, um die sozialen Verhältnisse zu interpretieren (manche griesgrämigen Leute würden von Verzauberung sprechen), aber in diesem Fall bleibt wenigstens ein Teil ihrer Theorie diesseits des epistemologischen Bruches, der, wenn er keine Illusion ist, eine strikte Trennung zwischen autochthoner und wissenschaftlicher Theorie erfordert.
Diese Betrachtungen stellen, wie man sieht, die schwierige Frage des Abgrenzungskriteriums zwischen den autochthonen und wissenschaftlichen Theorien. Dieses Problem wurde explizit von Claude Lévi-Strauss in seiner Einleitung zu Mauss' Essay über die Gabe erläutert, in Bezug auf den Hau(2). Laut Lévi-Strauss ist Mauss irregeführt, wenn er als erklärendes Prinzip des autochthonen Verhaltens die autochthone Theorie dieses Verhaltens annimmt, und dabei vergisst, dass von einer Gesellschaft zu einer anderen das Verhalten objektiv dasselbe ist (überall in der Welt gibt der Beschenkte dem Schenkenden zurück), obwohl die mythischen und ideologischen Rechtfertigungen dafür sehr unterschiedlich sind. Deshalb darf man, so Lévi-Strauss, auf keinen Fall auf der ideologischen Ebene der bewussten Rechtfertigung bleiben, sondern man muss die Ebene des strukturalen Unbewussten erreichen, das einzige Gemeinsame für die ganze Menschheit, das auch allein die Universalität des Gegenseitigkeitsprinzips erklären kann.

II. Schuld und Pflicht

Von den beiden Hypothesen, die ich formuliert habe, um die Wiederaufnahme der brahmanischen Theorie in die wissenschaftliche Theorie von Aglietta et Orléan zu erklären, will ich die zweite verteidigen. Ich glaube, dass die Sozialwissenschaft mehr erklären kann als der Mythus, und dass es einen Unterschied zwischen Soziodikos und Soziologie gibt. Die Kritik von Lévi-Strauss scheint mir relevant zu sein: hier sollen wir vermuten, dass die Autoren von der autochthonen Theorie des Brahmanismus irregeführt wurden. In dieser zweiten Hypothese geht es aber darum zu erklären, wie Texte und Vorstellungen, die mehrere tausend Jahre alt sind, eine Nachfolge, ein heimisches Verständnis, und sogar eine Aufnahme bei erfahrenen heutigen Theoretikern finden konnten.
Ich werde hier zwei Thesen verteidigen:
1. Da sie die Interpretation der sozialen Beziehungen als Vertrag und der Gesellschaft als Produkt des Zusammentreffens von individuellen Interessen bekämpfen, geraten manche Autoren (die von La Monnaie souveraine unter anderem) in Versuchung, den alten Begriff ‚Lebensschuld' wieder aufzunehmen und ihn als Prinzip der sozialen Beziehungen zu betrachten. Eine kontextuelle Analyse ist also hier gefordert.
2. Diese Versuchung wird durch die Vokabel bekräftigt und befestigt, in der diese Theorie ausgedrückt wird, die der französischen Sprache, bei der die Vokabel der Schuld und der Pflicht sehr stark miteinander verbunden sind (idem auf deutsch: Schuld), so dass der Begriff Lebensschuld sich immer wieder als das Modell jeglicher sozialen Verpflichtung vorstellen kann. Eine konzeptuelle und sprachliche Analyse muss geführt werden.

1. Kontextuelle Analyse

Die Autoren von La Monnaie Souveraine betonen die ursprüngliche Schuld des menschlichen Wesens, weil sie zeigen wollen, dass in allen menschlichen Gesellschaften die wirtschaftlichen Transaktionen als Ganzes einem gründenden Autoritätsprinzip folgen, das sie hierarchisch gliedert und die Werte definiert, die sie transportieren: Dieses Autoritätsprinzip sind die Götter, die Ahnen, der König oder der politische Zusammenhang. Nur diese Autoritätsprinzipien ermöglichen das für den Wirtschaftsaustausch notwendige Vertrauen, das Vertrauen in den anderen Menschen, dank dem jeder glaubt, dass der andere seine Verpflichtungen respektieren wird, weil es einen Dritten außerhalb der zwischenmenschlichen Beziehung gibt, der "dauerhaft die Existenz eines Rekurses, eines Schutzes und eine Garantie darstellt", die Garantie zum Beispiel, dass die Schulden zurückbezahlt werden. Der Fortbestand des wirtschaftlichen Lebens und der menschlichen Austausche ist der Vorstellung und der Existenz dieses großen Anderen unterordnet.
In der heutigen Welt und insbesondere in der EU bedroht die wachsende Autonomisierung der Marktwirtschaft den nationalen Souveränitäten gegenüber diese notwendige Unterordnung der Wirtschaft unter eine höhere Instanz, die im Falle eines Konfliktes zwischen den Austauschpartnern den Fortbestand des wirtschaftlichen Lebens garantiert. Der Vereinigungsprozess in der EU scheint vorauszusetzen, dass rein kontraktuelle Verhältnisse ausreichend sind, um eine kohärente und stabile soziale Entität aufzubauen; dieser Voraussetzung wird aber, den Autoren zufolge, durch die Geschichte der menschlichen Gesellschaften universell widersprochen, die alle das Wirtschaftliche unter einem Grossen Anderen, politischer oder religiöser Art, untergeordnet haben, das seine Autorität über den Lauf der wirtschaftlichen Transaktionen ausübte, und dies im höheren Interesse dieser Transaktionen.

Man kann also sehen, wie die Auffassung der sozialen Verhältnisse als Lebensschuld den Kernpunkt einer Widerlegungsstrategie des rein wirtschaftlichen Liberalismus und seiner ihm zugrundeliegenden Vertragsvoraussetzungen bildet.

2. Begriffsanalyse

Die Wiederaufnahme des Begriffs ‚Schuld' gegen den Begriff ‚Kontrakt' ist selbst inkohärent, wie ich es zu beweisen versuchen werde, aber er lässt sich durch die Tatsache erklären, dass man mit ihm eine Reihe von nicht kontraktuellen, imperativen und nicht verhandelbaren Verpflichtungen formulieren will, die dem gesellschaftlichen Leben notwendig erscheinen. Durch die Wiederaufnahme des Begriffs ‚Schuld' versucht man eigentlich, eine Gruppe von Pflichten oder Grundimperativen zu formulieren, die das Zusammenleben ermöglichen.
Die Schuld als Modell und Quelle aller sozialen Verpflichtungen ist eine ziemlich spontane Neigung der Französischsprachigen, weil wir mit dem Verb "devoir" (jemandem etwas gebühren, etwas schuldig sein) und seinen Ableitungen die Schuld genauso wie die Verpflichtungen im allgemeinen auszudrücken vermögen.
So wird das Verb "devoir" benutzt 1) um wirtschaftliche Beziehungen zwischen einem Zahlenden und einem Bezahlten zu bezeichnen, wirtschaftliche Beziehungen der Schuld und der Verschuldung, die in einem präzisen vertraglichen und juristischen Rahmen entstehen, dem des Vertragsrechts. Das Verb "devoir" wird darüber hinaus 2) für moralische Ansprüche, mindestens moralische Erwartungen benutzt. Das selbe Verb bezeichnet außerdem 3) rechtliche Vorschriften, die auf dem Gesetz, auf einem anderen Recht als dem Vertragsrecht beruhen: ich soll (französisch: je dois) dieses oder jenes Gesetz beachten.
Betrachten wir jetzt weiter die Verdoppelung der Schuld, wie ich sie in der Theorie von Aglietta und Orléan festgestellt habe:
- eine materielle Ebene, die wirtschaftliche Schuld
- eine nichtmaterielle, existentielle Ebene: der Begriff wird universell, jedes menschliche Leben ist eine Schuld, jede soziale Beziehung kann man mit dem Begriff ‚Schuld' interpretieren.
Wenn jede soziale Beziehung, jede Art von Verpflichtung oder Austausch eine Schuld ist, wird jede Art von Verpflichtung auf das Modell der in einem Kontrakt gegründeten Verpflichtung reduziert: aus der vertraglichen Verpflichtung wird der Archetyp gebildet, mit dem alle Verpflichtungen interpretiert werden können.
Den Preis, den man aber für diese Verallgemeinerung des Begriffs ‚Schuld' bezahlen muss, ist eine quasi undefinierte Ausweitung des Begriffs, mit der viel Genauigkeit verloren geht. Es ist eine Art Metapher: wir sollen (‚nous devons') die Natur respektieren, weil alles läuft, als ob wir ihr unser Wesen und die uns notwendigen Lebensmittel entliehen hätten. Aber wenn man eine solche Metapher macht, befreit man sich von zwei logischen Voraussetzungen der Schuld in ihrem strengen Sinne.
Der Begriff wird dann in seiner Bedeutung klar geändert, denn die Schuld ist:
a) ohne Verschuldung, ohne Vertrag
b) ohne klar abgegrenzten, individuellen Gläubiger, eine Schuld, der die Dualität von Rechtssubjekten fehlt, die von der Schuld im strengen Sinne vorausgesetzt wird.

Wenn man die Schuld auf einer wirtschaftlichen und ontologischen Ebene verdoppelt, entleert man entweder die Wörter ihrer Bedeutung, oder man verleiht, weit davon entfernt sich aus der Vertragslogik zu befreien, dem Obligationsmodell, der aus dem Vertrag stammt, einen universellen Wert.
Diese Wirrungen hängen wahrscheinlich mit der französischen Sprache zusammen, in der die ökonomische Schuld und die moralische Pflicht mit einem und demselben Wort ausgedrückt werden (dette). Vielleicht determiniert die Sprache hier die Theorie gegen ihren Willen. Das Französische ist eine indo-europäische Sprache, und seine Mutter-Sprache, das Sanskrit, vermischt seit aller Zeit die Schuld mit der Pflicht, ganz anders als in anderen Sprachen, wie dem Chinesischen oder dem Japanischen. Die Wurzel ‚rna' ist nach Malamoud schon in den ältesten Texten ein mehrdeutiges Terminus, der sowohl die Pflicht, die moralische Schuld, wie auch die ökonomische oder materielle Schuld bezeichnet.

III. Schuld und verschobene Gegenseitigkeit

In diesem Teil werde ich mich mit drei verschiedenen Sichtweisen des Verpflichtungsbegriffs auseinandersetzen und zeigen, wie sie sich von der These unterscheiden, die die Schuld als allgemeine Grundlage des sozialen Zusammenhangs postuliert.
1. Mauss, vergleichende Herangehensweise
2. Testart, typologische Herangehensweise
3. Nietzsche, genetische Herangehensweise

In unserer Gesellschaft unterscheiden wir die einfache moralische Forderung nach Gegenseitigkeit von dem Schuldenbegriff an sich, der eine juristisch formalisierte Forderung nach Gegenseitigkeit ist. Es gilt, die Frage zu stellen, ob es hier um eine kulturelle Besonderheit unserer Gesellschaften geht, oder ob dieser Unterschied zwischen informeller und formalisierter Gegenseitigkeit in anderen oder sogar in allen Gruppen von Menschen wiederzufinden ist. Ist der Unterschied zwischen moralischer und juristischer Verpflichtung überall relevant, ist er überall wesentlich? Welche sind die Bedingungen dafür, dass dieser Unterschied möglich ist?

1. Mauss' vergleichende Herangehensweise

Alle diese Fragen wurden zugleich angedeutet und zum Teil übersehen in dem Text, der im 20. Jahrhundert versucht hat, den Begriff der Gegenseitigkeit in seinen unterschiedlichsten empirischen Erscheinungen zu untersuchen: das Essay über die Gabe von Marcel Mauss. Mauss will die Allgemeinheit der dreifachen Verpflichtung Geben-Bekommen-Zurückgeben zeigen. Ich werde mich hier vor allem für das dritte Moment dieser Dreieinigkeit interessieren.
Die ganze Frage ist, wie man die Verpflichtung in der Verpflichtung Zurückgeben zu müssen verstehen soll: Ist sie formalisiert und juristischer Art (und in diesem Sinne wäre dann so etwas wie die Schuld oder die Verschuldung universell) oder ist sie eine informelle, moralische Schuld (und in diesem Sinne wäre der Terminus Verpflichtung geeigneter als Schuld)?
Dieser Punkt ist bei Mauss äußerst mehrdeutig. Zum ‚Potlatch' schreibt er:
"Wenn man die Dinge gibt und zurückgibt, so eben deshalb, weil man sich "Ehrfurchtsbezeigungen" und "Höflichkeiten" erweist und sie erwidert. Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst, indem man gibt, und wenn man sich gibt, dann darum, weil man sich selbst - sich und seine Besitztümer - den anderen "schuldet"." (M. Mauss, Die Gabe. In: Soziologie und Anthropologie. Band 2. Fischer Taschenbuch Verlag. Frankfurt/Main 1989, S. 93)
Man schuldet alles, weil man den anderen schuldet. Die anderen sind hier die gesamte Gesellschaft. Da die Gesellschaft alles gibt, schuldet man ihr alles, man steht mit allem in ihrer Schuld, mit sich selbst, mit seinem Eigentum und seinem Leben. In diesem Sinne ist die ursprüngliche Gabe das Sein, die Tatsache, dass man geboren wurde, die Gabe des Lebens: Man ist verpflichtet, sich ganz zu geben, weil das Gegenseitigkeitsprinzip es logischerweise impliziert. Man schuldet etwas, das dem gleichzusetzen ist, was man bekommen hat: man hat das Leben bekommen, und das Sein ist eine Gabe, die uns zu Schuldnern macht (gegenüber den Eltern und der Gesellschaft als Ganzes).
Man unterscheidet also bei Mauss zwei Ebenen der Verpflichtung, Zurückgeben zu müssen:
1. eine ökonomisch-konkrete und praktische Ebene, mit einem ursprünglichen Geschenk, das einen Austausch-Zyklus eröffnet
2. eine existenziell-metaphysische Ebene, die Gabe des Seins, die keine ursprüngliche Gabe ist, und wo das Individuum zum Schuldner der Gesellschaft wird.
Damit kann man sehen, dass die Verpflichtung zu geben nur eine Modalität der Verpflichtung ist, Zurückgeben-zu-müssen, denn jeder hat etwas bekommen (sei es das Sein, das Leben) bevor er geben konnte. Die Verpflichtung zu geben könnte sich darauf zurückführen lassen, dass man zurückgeben muss. Man muss zurückgeben, weil man der Gesellschaft, die uns das Leben geschenkt hat, etwas schuldet.
Ohne den Begriff der "Lebensschuld" zu thematisieren, deutet ihn auch Mauss an. Die Verpflichtung, im Gegenzug zurückzugeben wäre wesentlich mythischer, ethno-kosmischer Natur. Aber Mauss' Auseinandersetzung spricht sich nicht wirklich über die juristische oder moralische Natur dieser Verpflichtung aus.

2. Alain Testarts typologische Herangehensweise

Die Frage der Verpflichtung ist die, die Alain Testart in Des Dons et des Dieux (1993, Armand Colin) stellt: Es gibt hier ein epistemologisches Problem der Bezeichnung und der Definition.
Testart will eine differenzierte Typologie der menschlichen Gesellschaften erstellen nach dem Typus des sozialen Verhältnisses, den sie realisieren. Er schlägt vor, den Terminus Verpflichtung zu reservieren für eine formalisierte, juristische und zwingende Verbindlichkeit, die unser Obligationen-Recht meint, wenn ein Gläubiger juristische Wege gegen den Schuldner eingehen kann: die Kachin zum Beispiel sind in diesem Sinne eine Schuldengesellschaft. Währenddessen ist man in einer Gesellschaft der Gabe, zum Beispiel mit dem Potlatch, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Schuldner zum Zahlen zu zwingen, sondern das Nicht-Zurückgeben im Gegenzug lediglich eine Prestige-Einbuße bedeutet.
Wenn man die Verpflichtung im streng juristischen Sinne versteht, wirft man jetzt einen besonderen Blick auf die Fälle, in denen die Tilgung der ursprünglichen Leistung garantiert ist: In diesem Fall hat man es mit einer Schuldengesellschaft zu tun. In diesem Fall kann so etwas wie die Schuldknechtschaft entstehen. Die Garantie der Gegenleistung und die Sanktion im Fall, dass die Verpflichtung nicht eingegangen wird, impliziert, dass es um eine Gesellschaft geht, in der zentralisierende Instanzen am Entstehen sind, die dazu tendieren, allein über die legitime Gewalt zu verfügen. Das ist der Fall im antiken Rom und im antiken Griechenland, in unserer Gesellschaft oder in südost-asiatischen Gesellschaften, wie bei den Kachin in Birma. Damit hängt eine starke politische Macht zusammen. Die Schuldknechtschaft ist die ultimative Garantie, die eine solche Gesellschaft den Gläubigern bieten kann.
Wenn keine zentrale politische Gewalt die Gegenleistung garantieren kann, zum Beispiel in der Gestalt des Gerichtsvollziehers, des Gefängnisses oder der Versklavung, hat man es mit einer Gesellschaft der Gabe zu tun, wie mit dem Potlatch, wie Marcel Mauss ihn beschrieben hat.
Infolgedessen entscheidet sich Testart für die Gabe, Schuld und Verpflichtung im engeren Sinne, ohne die man nicht in der Lage ist, verschiedene Gesellschaftsformen voneinander zu unterscheiden und die Partikularismen der kulturellen Konstrukte in ein vages universelles Durcheinander vermischt, das man für universell nur dank ungenauer Definitionen halten kann. Wo die Termini unscharf sind, da bleibt man auf einer vor-wissenschaftlichen Ebene. Für Testart ermöglicht die juristische Erstellung von sozialwissenschaftlichen Begriffen den epistemologischen Bruch. Wichtig ist, dass die Entscheidung, Schuld und Geschenk im eigentlichen Sinne zu verstehen, eine differenzierte Typologie der Struktur der sozialen Verhältnisse je nach historischer und kultureller Vielfalt ermöglicht, die die menschlichen Gesellschaften an den Tag legen.
Nach dieser Analyse ist die Struktur des sozialen Zusammenhangs je nach Gesellschaft unterschiedlich, und es gilt, keine universelle Form derselben zu suchen.

3. Nietzsches genetische und materialistische Herangehensweise

Testarts Methode bietet den Vorteil, auf die systematischen Verbindungen zwischen den ökonomischen und den politischen Strukturen unserer Gesellschaften hinzuweisen. Der Nachteil bei dieser typologischen Herangehensweise ist jedoch, dass die diachrone Dimension, die Geschichte, ausbleibt, da Testart zeigen will, wie die kulturelle Vielfalt sich auf ein paar sehr simple hypothetisch-deduktive Prinzipien reduzieren lässt: Er stellt alle Gesellschaften, unsere wie die der Kachin, in die ewige Gegenwart der synchronischen Theorie. Das Problem des Übergangs einer Gesellschaftsform zur anderen, das heißt das Genetische, gilt es noch zu überdenken.
Was diesen Punkt angeht, könnte es sehr nützlich sein, sich auf Nietzsche zu beziehen, da er versucht hat zu zeigen, wie die Formen der modernen Moral und der moralischen Verpflichtung historisch auf die alten Formen der ökonomischen Schuld zurückgehen.
Nietzsches Hypothese ist radikal materialistisch, da er im zweiten Teil der Genealogie der Moral zeigen will, dass unsere Moralvorstellungen aus der Wirtschaft herrühren: unsere Gewissensinhalte und Moralsprache hätten einen Ursprung, der der Moral ganz und gar heterogen und heteronom wäre. Tatsache ist, dass die ökonomische Schuld vor dem Gefühl der moralischen Verpflichtung Vorrang hat.
"Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch "besitzt," über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe: so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand,-es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden, als der Grösse der Schuld angemessen schien:-und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in's Kleine und Kleinste gehende Abschätzungen, zu Recht bestehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. [...]In dieser Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt "Schuld," "Gewissen," "Pflicht," "Heiligkeit der Pflicht" ihren Entstehungsherd,-ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe? (selbst beim alten Kant nicht: der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit ...) § 5 und 6 der Genealogie der Moral

Nietzsche macht die radikal materialistische und sogar wirtschaftstheoretische Hypothese, dass die Schuld vor der moralischen Verpflichtung da war, diese wäre nur die verinnerlichte und sublimierte Form jener am Ende des zivilisatorischen Prozesses(3).
Aber ausgerechnet, weil unsere ethischen Vorstellungen das vor allem unbewusste Produkt der sozialen Strukturen sind, wird es möglich, eine soziale Genesis zu denken, der die bewussten Rationalisierungen des sozialen Verhältnisses unbewusst sind. Nietzsche enthüllt die Umrisse einer solchen Vorgehensweise zum Beispiel in seiner Auseinandersetzung mit der Tradition des Kontraktualismus. Nietzsche stellt sehr gut heraus, dass der Begriff des sozialen Zusammenhangs als Vertrag ursprünglich auf eine sehr alte Theorie der germanischen Gesellschaften zurückgreift: Der Verbrecher ist derjenige, der den Sozialvertrag zerbricht (9. Abschnitt des zweiten Teils der Genealogie der Moral). Dieses Wort weist für Nietzsche darauf hin, dass seit alten Zeiten die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft als Vertrag zwischen dem Individuum und der Gesellschaft begriffen wurde. Vertrag heißt, dass das Individuum seine Gewalttriebe beherrscht und als Gegenleistung von der Gesellschaft geschützt wird. Und von daher wäre dann die Strafe, Todesstrafe mit eingeschlossen, die Schuld, die der Verbrecher der Gesellschaft zu zahlen hat.

Für Nietzsche ist der Begriff des sozialen Verhältnisses als Vertrag also ursprünglich eine alte germanische Theorie. Was der Begriff der Lebensschuld angeht, haben wir mit demselben Phänomen zu tun: er ist ursprünglich eine alte brahmanische Theorie.
Es ist jetzt möglich, eine allgemeine Interpretationshypothese der Vertragstheorien aufzustellen. Dabei kann man sich auf Malamouds Arbeit beziehen. Seiner Logik nach ist es verlockend, sich alle Verpflichtungen als Schuld vorzustellen, denn so verfügt man über eine Vorstellungsform, die dem Verpflichtungsbegriff eine Bedeutung verleiht(4). Nicht, dass das Zurückgeben-Müssen sich dem Vertrag widersetzt, es ist ganz im Gegenteil seine Grundlage. Es könnte sein, dass die wissenschaftliche Theoretisierung des Vertrags die Funktion trägt, die Verpflichtungen der sozialen Wesen in Schuld zu wechseln, durch die die Urleistung der Gesellschaft dem Individuum gegenüber zurückgegeben werden muss: diese Urleistung wäre das Geschenk des Seins, des Lebens, und dessen Schutz. Gegenüber der Gesellschaft, der ich das Leben schulde, bin ich in der Schuld: Diese Schuld besteht darin, die Gesetze zu respektieren, wenn ich die Wahl getroffen habe, den Schutz zu bekommen, den ich hätte abweisen können.
Das gesellschaftliche Konstrukt als Vertrag zu verstehen wäre in dieser Hypothese lediglich eine laizistische Version des alten Begriffs der Lebensschuld. Aber die Auffassung des Sozialen als Lebensschuld wird uns nicht aus dem System der sozialen Bindungen als Verträge herausführen, da die Lebensschuld lange Zeit als das grundlegende Prinzip des Vertrags galt, und insofern letzteres nur ein Ersatz für das erste ist. Bald diese, bald jene autochthone Theorie wird von Theoretikern herangezogen, um sie an den universellen Grund des sozialen Zusammenhangs jenseits der Geschichte zu nageln: den Vertrag, die Schuld, das Gesetz, den Vater ... Es geht hier nicht darum, den Betrug der Autochthonen an den Wissenschaftlern anzuzeigen, sondern viel mehr klarzustellen, dass es sich hier um richtige autochthone, vorwissenschaftliche Theorien handelt.
Die Besonderheit der autochthonen Theorien besteht nämlich darin, das soziale Verhältnis außerhalb der Geschichte aufzufassen, es als eine allgemein gültige Determination vorzustellen, und dabei schließt sich die Theorie selbst aus der Geschichte aus, sie will sich als nicht zu verhandelnde Wahrheit darstellen (das heißt als eine dogmatische Wahrheit, wie sie Legendre im neutralen Sinne versteht, als das, was gesagt werden muss, damit es die Gesellschaft gibt). Im Gegensatz dazu ist die wissenschaftliche Theorie der sozialen Welt die, die das soziale Verhältnis nur als historischen Konstrukt untersuchen will.
Behaupten, man würde die ultima ratio des sozialen Verhältnisses aussprechen, wie die Autoren von La Monnaie Souveraine, heißt Gefahr laufen, eine autochthone Theorie, einen "Soziodikos" aufzustellen, wo man eigentlich wissenschaftlich vorgehen will. Wenn man von diesem Standpunkt aus nicht mehr behauptet, man könne den Grund des sozialen Zusammenhangs jenseits der Geschichte durchleuchten (so, wie die Sprachwissenschaft die Auseinandersetzung mit der Ursprache aufgeben musste), geschieht der epistemologische Bruch zwischen autochthoner Theorie und Wissenschaft.

4. Schlussbemerkung

Es wurde hier die These untersucht, nach der die Schuld Grund und Boden des sozialen Verhältnisses, und dergestalt die soziale Kondition des Menschen eine ursprüngliche Schuldsituation wäre. Ich habe die Hypothese erarbeitet, dass diese These ihre Grenze in der Tatsache findet, dass jedes Bestreben nach einer Charakterisierung der ultima ratio der sozialen Bindung eine vielleicht nicht zu reduzierende normative Dimension mit sich bringt, die dazu führt, eine determinierte Auffassung des sozialen Verhältnisses zu verallgemeinern und sie auf alle Gesellschaftsformen zu übertragen.
Jede Gesellschaft produziert nämlich innerhalb ihrer Geschichte ihre eigene Vorstellung des sozialen Verhältnisses, die von den Mitgliedern dieser Gesellschaft für selbstverständlich gehalten wird, Mitglieder, die wiederum diese Auffassung des sozialen Verhältnisses als eine universelle und nicht zu verhandelnde begreifen; der kulturell und historisch determinierte Charakter derselben wird dementsprechend von ihren Trägern nicht mehr wahrgenommen. Dieses Phänomen der Enthistorisierung und Verewigung einer kulturellen Besonderheit ist wahrscheinlich eine notwendige Komponente der Mystifikation, das heißt der Zustimmung und des Sich-Ergeben des Individuums gegenüber der menschlichen Gruppe, deren Mitglied es ist.
Was die Schuld angeht, ist es äußerst wichtig zu bemerken, wie sie autochthone Glaubensinhalte kristallisiert und ein fruchtbares Schema der Selbstinterpretation für das Menschensein darstellt. Das findet man bei den Autoren wieder, mit denen ich mich hier auseinandergesetzt habe, aber es ist mit einer Art Beschwörung, mit Glauben, mit letzten Endes normativen Thesen verbunden. Man muss die Trauerarbeit durchlaufen haben bezüglich der magischen Semantik der Schuld und bezüglich des Überblicks, den sie über die gesamten sozialen Beziehungen und über die menschlichen Gesellschaften zu bieten meint, um endlich die Wirkungen dieser Semantik in der Vorstellungskraft und im sozialen Alltag beobachten zu können.
Ob ein Autor entscheidet oder nicht, sich im Klaren über die Geschichte eines Wortes zu sein, bevor er es verwendet, das Netzwerk der Bedeutungen überprüft, die es trägt, ebenso wie die alten Vorstellungen, die es mit sich bringt, ob der Autor über die Sprache entscheidet, die er benutzen wird, und sich bemüht, auf die juristische Definition der Termini zurückzugehen: Wahrscheinlich ist der epistemologischer Bruch zwischen autochthoner und wissenschaftlicher Theorie notwendigerweise an einem entweder autochthonen oder wissenschaftlichen Gebrauch der natürlichen Sprache gebunden. Der Zauber in diesem Sinne wäre nichts anderes als sich von den Konnotationen der Wörter führen zu lassen, mit denen man sich nicht auseinandergesetzt hat, so dass der Autor wie der Leser den Übergang zur Metapher übersehen. Die Metapher wäre dergestalt die Heimat der Ideologie: um auf das schon erwähnte Beispiel zurückzugreifen, da die Natur uns das Leben und die Existenzmittel gibt, sieht es aus, als ob wir ihr etwas schuldig wären, als wären wir ihr gegenüber in der Pflicht - und unterschwellig erscheint die Idee, die Natur wäre ein rechtliches Subjekt, eine Person oder ein intelligentes Wesen. Wir müssen also daran arbeiten, die Sprache umzuwandeln, von ihrem autochthonen zu ihrem wissenschaftlichen Gebrauch. Denn die Sprache ist es, die das Archaische behält und unterschwellig voller Welt- und Gesellschaftsbilder ist.
Vom anthropologischen Standpunkt aus ist es vielleicht weniger wichtig, die ultima ratio des sozialen Zusammenhanges zu benennen, als die Art und Weise zu verstehen, wie solche grundlegenden Bilder produziert und reproduziert werden, die dem Individuum die doppelte Möglichkeit eröffnen, einerseits sich als Individuum vorzustellen und seine eigene Existenz zu denken, ihr vielleicht sogar einen Sinn zu verleihen, und andererseits dadurch eben dem Ganzen der Gesellschaft, der es zugehört, entfremdet zu werden, Entfremdung die eben dadurch entsteht, dass der Werte- und Glaubenshorizont, der sich ihm anbietet, jeden anderen ausschließt. Was also erläutert werden muss ist weniger die Ur-Schuld als die Ur-Gläubigkeit, die das Individuum einem historisch determinierten sozialen Bild notwendigerweise schenken muss, das es dazu führt, sich so zu denken, dass es besser dies als jenes tun müsse, besser dies als jenes wollen müsse.
Dazu Pierre Bourdieu: der soziale Zusammenhang ist eher der Gläubigkeit als der Schuld zuzuordnen. Die Gläubigkeit ist der Bereich der Herrschaft und des Sozialen. In Soziale Strukturen der Wirtschaft analysiert Bourdieu die Beweggründe und Wirkungen der Verschuldung: Wenn Frauen und Männer, Paare, sich bei Banken für über zehn oder zwanzig Jahre verschulden, und dabei eine Entscheidung treffen, die maßgebende Wirkungen auf ihren Lebensstil haben und schwere Opfer erfordern wird, hängt es damit zusammen, dass sie meinen, Eigentümer eines Einfamilienhauses zu werden sei das höchste Glück, das einem widerfahren kann. Ich glaube, dass ich in meinem Haus glücklich sein werde. Infolgedessen sind viele Menschen für lange Zeit an einen Ort gebunden, der sie bewohnt, viel eher, als sie ihn bewohnen, denn dieser Ort bringt Sozialisierungs- und Organisationsformen des Alltags mit sich. Die Versklavung kommt von dem Glauben, den man den Geschichten schenkt, die die Gesellschaft sich selbst erfunden hat (Marcel Mauss dazu: "Letztlich ist es immer die Gesellschaft, die sich selbst bezahlt mit dem Falschgeld ihrer Träume"), Geschichten der Werbung für Einfamilienhäuser (oder Geschichten der Integration in eine Weltwirtschaft, die sich von jedweder stattlichen Regulierung befreit hat, denen sehr oft die herrschenden Eliten der Länder des Süden viel Glauben schenken).
Das Auffälligste hierbei ist, dass Malamoud klar gesehen hat, dass die Gläubigkeit der Logik nach da war, bevor der Begriff der Lebensschuld und die Auffassung des Menschenseins als Schuld sich durchsetzen konnte:

"Warum nämlich macht man Opfer, warum zelebriert man nach der vorgeschriebenen Praxis? Hierfür kann man tausend Erklärungen finden. Aber letztendlich sind diese Gründe nur deswegen gültig, weil das vedische Wort vorschreibt, dass man ihm Glauben schenken muss, dass man der von ihr behaupteten Wahrheit glauben muss. (...) Das Wort kann den Menschen nur deswegen als Schuldner definieren, weil er ihm Glauben schuldet. Er hat ihm ganz und unendlich zu vertrauen, anders gesagt ihm unendlich Glauben zu schenken." La Monnaie souveraine, S. 51-52.



Bibliographie :

Aglietta, Michel et Orléan, André, (dir), 1998 : La Monnaie souveraine, Paris, Odile Jacob.

Benveniste, Emile, 1951 : " Don et échange dans le vocabulaire indo-européen ", in L'Année sociologique, 3° série, t. II, pp. 7-20. Repris dans Problèmes de linguistique générale, Paris, Gallimard, 1966, t. I, pp. 315-327.

Benveniste, Emile, 1969 : Le Vocabulaire des institutions indo-européennes, Paris, Minuit, 2 vol. Ch. 15, 16 et 17.

Bourdieu, Pierre, 2001 : Les structures sociales de l'économie, Paris, Seuil.

Levi-Strauss, 1950: " Introduction à l'œuvre de Marcel Mauss ", in Marcel Mauss, Sociologie et anthropologie, Paris, P. U. F., pp. IX-LII. (4° édition augmentée en 1968).

Malamoud, Charles, 1980 : " Dette ", in Encyclopedia Universalis, t. VII, p. 297 et sq.

Malamoud, Charles, (dir.), 1988 : Lien de vie, nœud mortel. Les représentations de la dette en Chine, au Japon et dans le monde indien, Paris, EHESS.

Malamoud, Charles, 1989 : " Théologie de la dette dans les brahmana ", in " La dette ", n° spécial, Purusartha, Paris, EHESS, pp. 39-62.

Mauss, Marcel, 1925 : " Essai sur le don. Forme et raison de l'échange dans les sociétés archaïques ", in Année sociologique, nouvelle série, t. I (1923-1924), pp. 30-186. Repris dans Sociologie et anthropologie, Paris, P.U.F., 1950, pp. 143-279.

Nietzsche, Friedrich, 1887 : Zur Genealogie der Moral, Berlin, Walter de Gruyter & Co. Trad. I. Hildenbrand et J. Gratien, La Généalogie de la morale, Paris, Gallimard, 1971.

Testart, Alain, 1993 : Des dons et des dieux, Paris, Armand Colin.

Testart, Alain, 2001 : L'esclave, la dette et le pouvoir, Paris, Editions Errance.

(1)
[ Das Problem der Schuld
Das französische "dette" deckt sich nur teilweise mit dem deutschen Wort "Schuld", das wir in dieser Übersetzung verwendet haben. Neben den Bedeutungen der a) Verpflichtung zur Rückgabe von Geld und der b) allgemeineren Verpflichtung zu einer Gegenleistung bezeichnet die deutsche Vokabel auch c) die Strafwürdigkeit des Menschen auf einer religiösen Ebene wie die d) innere Beziehung des Täters zu seiner Tat und die strafbare Verfehlung auf einer juristischen Ebene. Dieser Aspekt ist in der französischen Semantik von "dette" nicht zu finden und verleiht möglicherweise der deutschen Übersetzung einen Aspekt, der in der französischen Fassung nicht zu finden ist, denn ein Deutschsprachiger im Wort "Schuld" auch die Idee der Verfehlung mitschwingt.
Die französische "dette" ist außerdem mit dem "devoir" ("Pflicht", "Verpflichtung") lexikalisch verwandt, so dass die Auseinandersetzung mit den beiden Termini und den Abgrenzungen zwischen ihren Bedeutungsbereichen vielleicht noch naheliegender im Französisch als im Deutsch sind, wo die beiden Wörter lediglich auf der Ebene der Begriffe verwandt sind.] Marina Barré

(2)
Siehe Artikel des selben Autors, Die Gabe und der Exzess, in der Nummer 4

(3)
Siehe Genealogie der Moral, §16 (die Bildung des schlechten Gewissens dadurch, dass das Individuum seine Gewalt gegen sich selbst wendet, da es sie nicht mehr nach außen hin wenden kann aus lauter Angst vor den Vergeltungsmaßnahmen) und §19: das Verhältnis der Lebenden zu den Ahnen wird als ein Verhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger gedacht, daher die Idee der Götter.

(4)
Malamoud schreibt: " Modell der Verpflichtung, das Zurückgeben-Müssen [das heißt die Schuld] ist oft die Identität, die andere Verpflichtungen sich geben: sie ist zufrieden in der Verpflichtung die Schuld, das Zurückgeben-Müssen wiederzuerkennen, und dergestalt der Verpflichtung einen Ursprung und eine Berechtigung zu verleihen." Lien de vie, noeud mortel, S. 9

Paris, 2003

François Athané: über den Autor
Marina Barré: über den Autor
Michael Blümel: über den Künstler

 

   
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