‹‹‹ No 5 - La Banque / Die Bank
 
 
ANGRIFFE AUF DEM WEG IM SCHNEE AM ABEND


Alban Lefranc
Aus dem Französischen: Angelika Gross, Fotos: Nicolas Jambin
Auszug aus einem Roman, der im April 2005 bei Hogarth Press II erscheinen wird






1977 setzt in München ein Mann mit aufgedunsenem Gesicht und wilder Entschlossenheit im Blick seinen Freund vor die Tür der gemeinsamen Wohnung. Er packt ihn bei den Schultern, schüttelt die wuchtige Fleischmasse, die ihn vorhin noch kommen ließ, öffnet brüllend die Tür. Er telefoniert nach Frankreich und in Deutschland, es geht um ein entführtes Flugzeug. Wenig später stößt er Möbel um.

Wenn man ihn fragt, was er mit seinen Filmen sucht, antwortet er Krisen, Krisen auslösen, sehen, was aus der Krise wird, die Krise ist sein Element, besser ein Paar in der Krise als in der Lüge, man steckt nie tief genug in der Katastrophe - der Reporter wagt sich nicht bis zur Frage vor, ob es glückliche Paare gibt. Man versteht nicht alles: die Müdigkeit in seinem Körper, mehr noch, der Widerstand gegen die Müdigkeit, zerstreut seine Worte, bevor sie erst fast dreißig Jahre später über den Fernsehbildschirm auf einem grauen Teppichboden in Paris flimmern. Seinem abgespannten Atem entringen sich mühsam Sätze, die er mit aller Kraft durch den Raum schleudert. Ein Penner ist das, mit merkwürdigem bayerischen Tonfall, mit der Haltung eines spießigen Klotzes mitten unter dicken protzigen Münchnern. Ein Landstreicher, kein Falstaff. Man schätzt ihn auf etwa Fünfzig, das unbestimmbare Alter des Alten unten in der Straße, der der stinkt, und bei dem man sich beim Gedanken ertappt, ihn töten zu wollen, um ihn aus den Augen zu haben.

Das Aufheulen einer Polizeisirene unten in der Straße läßt ihn seine Dosis ins Becken werfen.

Zuerst sieht man etwa zwanzig bewaffnete Männer, einen Fuß auf der Erde oder im Stehen, ein paar davon behelmt, die hinter den Autos Schutz suchen, bevor sie auf eine Bedrohung außerhalb des Bildfeldes zurückfeuern, mitten auf einer Straße, die im Übrigen alle Zeichen vollkommenster städtischer Normalität aufweist (Bäume in Blüte, vorbeigehende Passanten, Mülltonnen in verschiedenen Farben für die Mülltrennung, Straße und Gehsteige tadellos sauber usw.). Mehrere Panzerwagen fahren ebenfalls herum, aber in einer anderen Einstellung, und man denkt also Schnitt, natürlich Schnitt, Collage von Szenen, die ursprünglich Nichts miteinander zu tun hatten, denkt Neuzusammensetzung, eine mehr oder weniger dokumentierte, frei erfundene Geschichte unter anderen Filmen über diese Epoche, über diese Jahre der sogenannten bleiernen Zeit, undenkbar in diesem Land, das zutiefst allergisch gegen legale Gewaltätigkeit geworden ist, und die doch geschehen waren. Aber es gibt nicht so viele Filme darüber, vielleicht insgesamt etwa zehn, man hat sie gesehen, sogar die schlechtesten wie Die Stille nach dem Schuss. Und dann sieht man zwei Männer, der zweite, rothaarig, fast rot in dem glänzenden Junilicht, wird auf einer Bahre weggetragen, der erste, sehr mager, bewegt sich in Unterhosen vorwärts, mitten unter Uniformen, und man versteht jetzt, dass das direkt aufgenommen worden ist, denn die Gesichter der beiden Männer sind tatsächlich die, die man unter den für ihre Festnahme ausgesetzten Zahlen liest, auf den im ganzen Land angeschlagenen Plakaten, man versteht, dass mehr als ein Dutzend Kameras der Festnahme der beiden in Deutschland am meisten gesuchten Männer beigewohnt haben, dass Fotografen in dem sehr schönen Junilicht vielleicht Zeit hatten, sich den passenden epischen Winkel auszusuchen und auf dem Bild erscheinen die paar Worte, die die Echtheit des Ganzen bezeugen: Festnahme von Andreas Baader und Holger Meins, Juni 1972.

Er befragt seine Mutter an der Ecke eines schmalen Tisches. Er redet im Zorn, es ist mehr Raserei als Zorn. Sein Blick packt einem die Seele an der Wurzel. Das ist kein Penner, der sich an der Straßenecke verenden ließe. Seine Mutter sinkt auf brüchigen Ellbogen ein, sucht nach Worten, antwortet dennoch, lässt sich nicht einschüchtern, kaum unterbrechen. Auf ihre brüchige und gealterte Art ist die Mutter genauso energisch wie ihr Sohn. Das Gesicht der Mutter ist mir vertraut: sie, oder andere, die ihr ähneln, durchziehen fast jeden Film des Mannes mit dem aufgedunsenen Gesicht, Großmütterchen am letzten Lebensfaden, nicht mehr und nicht weniger grausam als die Anderen, untröstlich wie sie und deswegen für Mitleid unzugänglich.

Am 5. September 1977 wird Hans Martin Schleyer, der Vorsitzende des deutschen Arbeitgeberverbandes, auf dem Nachhauseweg entführt. Sein Fahrer und die drei mit seiner Sicherheit beauftragten Polizisten werden bei der Schießerei getötet. Die Entführer verlangen die Befreiung der in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder, dass diese sich in ein Land ihrer Wahl absetzen können. Schmidt, Kohl, Genscher, Kanzler, Oppositionsführer und Außenminister stellen einen Krisenstab zusammen und beschließen, den Forderungen des Kommandos auf keinen Fall nachzugeben. Dennoch werden Verhandlungen in die Wege geleitet, in der Absicht, das Versteck festzustellen. Einen Monat später, am 13. Oktober, wird ein Flugzeug der Lufthansa nach Mallorca entführt, die Geiselnehmer verlangen gleichfalls die Befreiung der Gründungsmitglieder der RAF. Man findet den Leichnam von Hans Martin Schleyer im Kofferraum eines Wagens in Mulhouse, am 19. Oktober 1977, mit drei Kugeln im Kopf.

Darüber kann man nicht sprechen, sagt seine Mutter, das ist wie während der Nazizeit, die Leute haben Angst, darüber zu sprechen, Angst, als Sympathisanten zu gelten, Angst davor, wenn sie die Macht in Frage stellen, mit den Terroristen in einen Topf geworfen zu werden. In ihrem Wohnblock kennt sie jemanden, der den Schriftsteller Heinrich Böll verteidigt hat, der versucht hat, in einem Artikel die allgemeine Hysterie zu beruhigen. Jetzt behandelt man ihn als Terroristen. Die Leute sind am Ende.

Im Jahr 2002, in einem Theaterstück mit dem Titel Meinhof/Angot, schreibt Christine Angot, dass "Meinhof und ihre Gruppe Leute sind, die eine Situation analysiert haben, die verstanden haben, die die Gefahr gesehen haben, und man sieht jetzt, in welchen Ausmaß sie Recht hatten. Im Grund hatten sie Recht, den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer zu töten."

Zwei Jahre vor seinem Tod, in seinem Vorwort zur Aufführung des Romans "Kokain" von Petigrilli, schreibt er, dass er sich nicht für oder gegen den Gebrauch von Drogen aussprechen möchte. Es ist möglich, sogar ziemlich sicher, dass eine übermäßige Einnahme von Kokain über einen längeren Zeitraum das Leben des Verbrauchers auf die eine oder andere Art verkürzt. Aber dieser ist dann besser gegen plötzliche Überfälle auf dem Weg abends im Schnee gerüstet. Dieser wird nicht im Schatten ersticken. Die Zuschauer des Films werden selbst entscheiden, ob sie ein intensives und kurzes Leben einem langen, selbstenfremdeten Leben vorziehen. Sein Film wird nicht Stellung beziehen. "Kokain" ist eines der wenigen Projekte, die er nicht zu Ende führen wird.

Der Staranwalt der Inhaftierten, Otto Schily, 1998 Innenminister der Bundesrepublik geworden, erklärt im Oktober 1974, dass die im ultramodernen Gefängnis von Stammheim praktizierte Zwangsernährung bewußt Quälerei und sadistische Folter ist. Im Herbst 1974, nach seinem Besuch von Andreas Baader, den er in seinem Hungerstreik unterstützt, erklärt Sartre: diese Gruppe gefährdet die Linke, sie ist für die Linke schlecht, man muß zwischen den Linken und der RAF unterscheiden.

Seine Mutter bestreitet nicht, seine Mutter gibt unumwunden zu, dass sie während der Geiselnahme im Oktober 1977, die mit der Entführung des Vorsitzenden des Arbeitgeberverbands Martin Schleyer zusammengefallen ist, wollte, wie sie es heute wollen würde, sollte sich die Situation nochmals ergeben, sie wollte, wie sie es die Meisten wollen würden und wie es der bayerische Innenminister Josef Strauss vor aller Ohren gesagt hatte, dass man die in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder öffentlich exekutiere. Einen Insassen, öffentlich, für jede ermordete Geisel. Man kann das nicht einfach so durchgehen lassen, man kann nicht zulassen, dass eine Gruppe von 6 Personen eine Bevölkerung von 60 Millionen Einwohnern terrorisiert, dem muss ein Ende gesetzt werden. Und wer trifft die Entscheidung für eine solche Maßnahme, fragt ihr Sohn, der ihr Gespräch filmt, wer gibt ihnen die Waffen? Wer gibt ihnen die erforderliche Legitimität ? Als sein Liebhaber Armin Meier ihm gegenüber ähnliche Äußerungen von sich gegeben hatte wie die seiner Mutter, hatte ihn der Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht, in den ersten Bildern des Films, gepackt und hinausgeworfen.

"Die Stadtguerilla hat zum Ziel, den Staatsapparat an präzisen Punkten zu treffen, ihn außer Betrieb zu setzen, den Mythos von der Allgegenwart und der Unverwundbarkeit des Systems zu zerstören. Die Stadtguerilla ist offensiver anti-imperialistische Kampf. Entweder ist man Teil des Problems oder der Lösung. Zwischen beiden gibt es Nichts."

Wissen Sie genau, was Zwangsernährung ist? Sie fesseln dich an einen Stuhl in einem genauestens proportionierten Raum, sicherlich steht der Stuhl nach vorgegebenen Weisungen an einer bestimmten Stelle, ebenso wie die Architekten für den reibungslosen Ablauf des Ganzen ein genaues Pflichtenheft zu beachten hatten. Das Licht ist grell, präzis und die Griffe deiner Wärter ohne Nervosität, du denkst nur noch daran, dagegen anzukämpfen, gegen die Wächter, gegen die Architekten, gegen die Arbeiter, die diese Mauern gebaut haben, gegen die vielleicht hundert hochrangigen Beamten und Politiker, die das alles konzipiert haben. Dumpf leistest du Widerstand gegen die paar Hände, die deine Glieder am Metall festbinden, gegen diese Hände, in denen sich für dich in dieser Minute alle feindlichen oder passiven Willensäußerungen ballen, gegen diese in einer einzigen Hand zusammengefassten Willensäußerungen von Politikern und hochrangigen Beamten, von Architekten und Arbeitern. Du kämpfst, du denkst kämpfe, du blöder Dummkopf, los, kämpfe, kämpfe auf deinem Stuhl gegen die vier oder sechs Arme, die dich festhalten, gegen alle Anderen, Unsichtbaren, die im Chor wollen. Dein Kopf wird zurückgebeugt, die Decke ist makellos, die Decke ist auf ihre Deckenweise auch gewalttätig, du nimmst dir vor, an das Quantum an Einzelgewalt zu denken, die für diese Decke aufgewogen worden ist, und du beschließst, den Blick mit aller Kraft darauf zu heften, als könntest du in sie hineinfliehen, als wärest du der verängstigte Käfer der Verwandlung und dann, in dem Augenblick, in dem deine Augen eine der Betonplatten zu durchbohren beginnen und du ein Bein in den Riss hineinschiebst, würgt man dir ein Rohr in die Kehle, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was man da hineinschüttet in die Luftröhre oder in Speiseröhre kommt, und eine Nadel voll mit einigen flüssigen Inhalten, die dich am Abkratzen hindern werden, durchbohrt deine Haut, und man bringt dich in deine Zelle zurück, lebend und genährt, außer Stande gesetzt, am gemeinsamen Hungerstreik zu sterben, den wir im Herbst 1974 alle zusammen gegen die Haftbedingungen geführt haben. Gudrun Ensslin hatte präzisiert, dass sich alle drei Wochen oder alle vierzehn Tage einer von uns töten würde, und dass wir weiter machen würden, bis sie die Isolierung beenden würden. Nach zwei Monaten Hungerstreik stirbt Holger Meins am 9. November 1974, abgemagert auf 39 kg bei 1 Meter 83.

"Sartre, wir wissen, dass Du krank bist...aber wir sind der Meinung, dass das, was wir von Dir wollen, an Dringlichkeit alles andere übertrifft...Wir kämpfen mit diesem Hungerstreik gegen unsere Vernichtung in den Gefängnissen durch Sonderbehandlung, durch Isolation...Was wir von Dir wollen ist, dass Du im Zusammenhang mit diesem Hungerstreik, also jetzt - ein Interview mit Andreas Baader machst. Weil die Bullen-...beabsichtigen, Andreas zu ermorden...Um das Interview zu machen, ist es nicht notwendig, dass Du uns in allem zustimmst, was wir von Dir wollen ist, dass Du uns den Schutz Deines Namens gibst und Deine Fähigkeit als Marxist, Philosoph, Journalist, Moralist für das Interview einsetzt, um uns die Möglichkeit zu geben, dadurch bestimmte politische Inhalte für die Praxis des antiimperialistischen Kampfes zu transportieren..."

Wenn du sie in diesen Jahren besuchst, die von Stammheim, einmal reicht, entweder kommst du nie wieder, denn du erträgst die legale und paralegale Brutalität nicht, die ihnen gegenüber ausgeübt wird, den Druck, den ein komplexes und vielgestaltiges System, an dem tausend zähe unsichtbare Willen Tag und Nacht arbeiten (ohne von einfachen Handlangern zu sprechen, die sich damit zufrieden geben, die Befehle ohne übermäßigen Eifer noch Faulheit auszuführen) auf ihnen und denen, die ihnen nahestehen oder nahegestanden sind, lasten läßt, betrittst du entweder den Ort nicht mehr, wo du weißst, dass solche Sachen zwischen dem vorgeschriebenen Spaziergang und den Anwaltsbesuchen ohne Gemütsregungen gemacht werden, entweder du verriegelst also all das, was sich auf sie bezieht, in deinem Innern und du beschließst, zu überleben, deine geistige Gesundheit zu schonen, und das ist noch das Vernünftigste, was du machen kannst, oder du beschließst im Gegenteil, aus Leibeskräften diese ungeheuere Sauerei zu bekämpfen, und zu diesem Kampf alle verfügbaren Mittel einzusetzen, und du sprichst Ulrike Meinhof nach, dass man entweder Teil des Problems oder der Lösung ist, dass es dazwischen Nichts gibt, und eine Art torkelnde Wut fängt an, in dir aufzusteigen, gegen die Reformer jeder Couleur, wie ein Heulen in deinem Bauch, und du weißt nicht mehr so recht, ob du richtig oder falsch liegst, ob die, mit denen du früher über diese Dinge geredet hast, dir noch folgen, und ob du darum besorgst sein solltest, zu wissen, was sie denken, ob es woanders etwas anderes gibt, als dieses Heulen in deinem Bauch, du hast aufgehört, es zu wissen, denn du hast eine Schwelle des Zorns überschritten, du möchtest es nicht mehr wissen, denn du mißtraust jetzt den Worten, du mißtraust ihrer Fähigkeit, die schlimmsten Sauereien hoffähig zu machen, du würdest es nicht einmal versuchen, jemandem, der nicht so fühlt wie du, wie du selbst all diese feindlichen Willen spürst, die selbst den anscheinend harmlosesten durch die Adern pulsieren, wie du dich selber spürst, den im Grund nichts von einem Richter oder einem Gefängniswärter unterscheidet.

1963 schreibt Hannah Arendt nach dem Erhängen des ehemaligen Nazis Eichmann, der bei der Endlösung eine ausschlaggebende Rolle gespielt hatte: "Martin Buber beurteilte die Exekution als einen historischen Fehler, denn dadurch würden zahlreiche junge Deutsche, die sich schuldig fühlen, erlöst (…) Man wundert sich darüber, dass Buber, nicht nur ein herausragender Mann, sondern auch bemerkenswert intelligent, nicht gesehen hätte, in welchem Maß diese Schuldgefühle, um die soviel Wirbel veranstaltet wird, notwendig geheuchelt sind. Es ist fast angenehm, sich schuldig zu fühlen, wenn man nichts gemacht hat: man fühlt sich dann edel. Aber es ist eher schwierig und sicherlich bedrückend, ein wirkliches Verschulden zuzugeben und es zu bereuen. Die deutsche Jugend ist von allen Seiten und in allen Berufen von Menschen umgeben, die eine gute Stellung einnehmen, Positionen von Beamten besetzen und gerade diese am meisten schuldigen Menschen sind die Letzten, die sich schuldig fühlen. Ein normal gebauter Mensch würde auf diesen Zustand mit Empörung reagieren; aber die Empörung ist immer eine riskante Angelegenheit: wer sich empört, ist nicht in Lebensgefahr, sondern strauchelt in seiner Karriere. Diese jungen Leute und deutschen Mädchen, die uns von Zeit zu Zeit - wegen des Lärms um das Tagebuch der Anne Franck oder des Eichmann-Prozesses - mit einem hysterischen Erguss ihres Schuldgefühls bedenken, werden nicht von der Last der Vergangenheit gebeugt, dem Verschulden ihrer Väter: sie versuchen vielmehr, vor den sehr dringlichen, sehr aktuellen Problemen davonzulaufen, indem sie sich in eine primitive Gefühlsduselei flüchten."

In einem Ulrike Meinhof gewidmeten Dokumentarfilm hebt Freimut Duve, Europaabgeordneter der deutschen sozialdemokratischen Partei die Unfähigkeit der jungen Frau hervor, eine Lebenskunst zu entwickeln, den von ihrer Kindheit herrührende Trauma, den Verlust des Vaters mit fünf Jahren, den der Mutter mit dreizehn. Sie besaß diese Unnachgiebigkeit sehr früh, diese sehr schöne und sehr gefährliche Unnachgiebigkeit. Ist es nicht auffällig, betont der Europaabgeordnete der deutschen sozialdemokratischen Partei Freimut Duve, dass die sehr fromme Jugendliche für ihre Firmung den Vers aus dem Johannes-Evangelium gewählt hatte: In der Welt habt ihr Angst, aber fürchtet euch nicht, ich habe die Welt besiegt. Kann man darin nicht das Vorzeichen der sehr schönen (aber sehr gefährlichen) Radikalität sehen, die ihr danach aneignete? Und tatsächlich scheint es so, als sei der Vietamkrieg, das Vorhandensein der hauptsächlichsten US-Militärbasis in Europa auf dem Boden der BRD, der Schock über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands weniger als zehn Jahre nach der Kapitulation der Nazis, die Abscheu vor dem umgreifenden Optimismus, den das Wirtschaftswunder begleitete, die Entdeckung, dass eine ganze Generation beschlossen hatte, so zu tun, als ob es Hitler niemals gegeben habe, die Ermordung eines Studenten durch die Polizei bei Demonstrationen gegen den Besuch des Schahs von Iran, das Verbot der kommunistischen Partei, die Haßtiraden der Springerpresse, es scheint tatsächlich, dass die lange Liste der Umwälzungen, die das Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre kennzeichnet, nur ein von Meinhof ausgesuchter Vorwand gewesen war, um ihren Hunger nach dem Absoluten (einem sehr schönen, aber sehr gefährlichen) zu entwickeln. Und genau das macht aus dieser Tragödie eine spannende Geschichte, fügt der Europaabgeordnete der deutschen sozialdemokratischen Partei Freimut Duve hinzu, genau das hat diesem Leben einen fantastisch romanhaften Verlauf (einen sehr schönen, aber sehr gefährlichen) gegeben.

Im Jahr 2002 erfährt man, dass der Professeur Bernhard Bogert von der Universität Magdeburg eine Biopsie des Hirns von Ulrike Meinhof durchgeführt hat. Er hat pathologische Hirnveränderungen als Folgen einer Tumoroperation im Jahr 1962 festgestellt. Er ist der Auffassung, dass "das Abgleiten in den Terror durch die Hirnkrankheit erklärt werden kann".

Vor seinem Tod im Jahr 1982, im Alter von 37 Jahren, hatte er Zeit gehabt, dreiundvierzeig Spielfilme zu machen, acht Episoden einer Fernsehserie nach dem Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin zu filmen, Theaterstücke zu schreiben und eine große Zahl davon auf den besten Bühnen Deutschlands aufzuführen. Was bleibt unmittelbar von seinen Filmen hängen? Die Brutalität, die Verzerrung der Gesichter und der Körper in der Einsamkeit. Die Figur, die er in Faustrecht der Freiheit spielt, bis aufs Mark von dem kleinbürgerlichen Milieu augebeutet, in das sich einzuführen er geglaubt hatte, im Schacht der Untergrundbahn sterbend, wo zwei seiner früheren Freunde ihn lieber nicht wiedererkennen möchten. Die melodramatischen Fäden, schrecklich wirkungsvoll. Der Händler der Vier Jahreszeiten der zu seiner Mätresse nur noch "Ich… " sagen kann, als diese von ihm erwartet, dass er das in Worte fasst, was ihn ruiniert. "Ich … " bevor er zur letzten Schnapsflasche greift, die ihn ohne fehlzugehen tötet. Die Dringlichkeit in jedem Augenblick, in jeder Sequenz die hasserfüllte Wut des Mannes mit dem aufgedunsenen Gesicht. Seine Art zu spielen, in den ersten Filmen jedenfalls: die Angst, zu missfallen, den Erwartungen nicht zu entsprechen, dass diese Befürchtung gesehen wird, die Angst zu gefallen, gefällig zu sein und und wie all das festgemacht wird, Ängste und Untergründe, geheime Grotten und uneingestehbare Schrecken, indem alles fallengelassen wird, indem der Zuschauer/die Festung frontal gestürmt wird. Immer seinen Hass sagen, erklärt er: er hält nur solange vor, bis man ihn ausgesprochen hat, bis man seine Agressivität herausgelassen hat. Deswegen macht er Filme.

Armin Meier, der mehrjährige Gefährte, der in zahlreichen Filmen spielt, den er in dem Dokumentarfilm aus dem Haus jagt, den er über den Oktobermonat 1977 in Deutschland dreht, demselben Zeitraum, in dem der Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer entführt und nach mehrwöchigen Verhandlungen zwischen dem Staat und den Entführern anschließend ermordet wird, während dem das Flugzeug der Lufthansa entführt und dann befreit wid, die in Stammheim Inhaftierten tot aufgefunden werden, Armin Meier ist 1944 im Rahmen des nationalsozialistischen Rassenzuchtprogramms Lebensborn zur Welt gekommen. Man wählte Sexualpartner aus, die außer ihren nationalsozialistischen Überzeugungnen bis zu ihren Großeltern die absolute Reinheit ihres arischen Ursprungs nachzuweisen hatten. Die Kinder wurden in Sonderheimen aufgezogen, und wurden später von SS-Soldatenfamilien adoptiert. Im Juni 1978 ist Armin Meier in der Wohnung, die er mit dem Filmemacher teilte, tot aufgefunden worden.

Der Dialog zwischen dem Mann mit dem aufgedunsenen Gesicht und seiner Mutter wird unvermittelt von Szenen durchbrochen, die in der Wohnung des Ersteren aufgenommen sind. Er führt Telefongespräche, zeichnet Drehbuchfetzen auf, wird erneut mit Armin Meier handgreiflich, weint in seinen Armen. In der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977, kurz nach Mitternacht, werden die Passagiere des Lufthansa-Flugzeugs durch ein deutsches Kommando in Mogadiscio befreit. Am Morgen derselben Nacht werden Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe tot in ihren Zellen aufgefunden. Baader und Raspe haben Pistolen gebraucht (eine 7.65 und ein 9 mm), Ensslin hat sich an einem Kabel erhängt. Nur Irmgard Möller überlebt vier Messerstiche in die Brust. Das Gefängnis von Stammheim war als das sicherste der Welt betrachtet, jede Zelle wurde mehrmals pro Tag einer gründlichen Durchsuchung unterzogen. Am 19. Oktober 1977 veröffentlicht Libération eine Pressemitteilung von Schleyers Entführern: "Wir haben nach 43 Tagen Hans Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker von Magadischu und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos. Andreas, Gudrun, Jan, Irmgard und uns überrascht die faschistische Dramaturgie der Imperialisten zur Vernichtung der Befreinugsbewegung nicht."

Andere Kommandos sind nach der Festnahme der Gründungsmitglieder im Jahr 1974 weiterhin tätig. Man schätzt die Zahl der potenziell gefährlichen Personen, die in den Untergrund gegangen sind, auf 1200, erklärt Anfang September 1977 der deutsche Polizeichef Dr. Herold vor einem parlamentarischen Ausschuss. Auf mehr als 6000 die Zahl der Sympathisanten, die bereit sind, ihnen vorübergehend Hilfe zu leisten, sie mehrere Tage lang zu verstecken. Es gibt keinen Kapitalisten, der nicht seinen Terroristen im nächsten Verwandschafts- oder Bekanntenkreis hat, vertraut Dr. Herold den deutschen Abgeordneten an.

Als Gefangener schreibt Hans Martin Schleyer mehrere Briefe an seine politischen Freunde, an Helmut Kohl, an seine Kollegen, an seine Familie. Am 9. September 1977 schreibt er an seinen Sohn: "Das Ziel der Entführer wird sie bei Ablehnung der Forderungen und nach meiner Liquidierung nur veranlassen, das nächste Opfer zu holen. Es gibt, wie man gesehen hat, keinen absoluten Schutz, wenn man so sorgfältig und konsequent arbeitet wie die RAF ... Man muss also nüchtern Bilanz ziehen und in die Abwägung alle kommenden Entführungsfälle mit dann tödlichem Ausgang (bei heute und später unveränderten Forderungen) einbeziehen. Das sollte Herr Schmidt ebenso wissen wie Helmut Kohl und H.D.Genscher. Mein Fall ist nur eine Phase dieser Auseinandersetzungen, als deren Gewinner ich nach meinem jetzigen Wissenstand nicht das BKA sehe, weil die Personen, deren Freilassung gefordert wird, die Entführer in ungeahntem Mass zu weiteren Handlungen motivieren. Die Verantwortlichen in unserem Land können aber nicht nur im Panzerwagen reisen und werden daher immer Blössen zeigen..." In einem anderen Brief an Eberhard von Brauschitz: "Die Ungewissheit ist in meiner Lage natürlich scheusslich. Wenn Bonn ablehnt, dann sollen sie es bald tun, obwohl der Mensch, 'wie es auch im Kriege war' gerne überleben möchte."

Es sind die lächelnden Äußerungen der alten brüchigen Frau, seiner Mutter also, die Fassbinders Dokumentarfilm abschliessen: "Was wir in diesem Land brauchen, sagt die alte brüchige Frau zu ihrem Sohn, was wir wirklich brauchen, das ist ein Herrscher, der auch ganz nett und lieb mit den Leuten wäre."

Paris, 2004

Alban Lefranc: über den Autor
Angelika Gross: über die Übersetzerin

 

   
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