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Nummer 2 - Territorium

 

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"Wie kann man aus dem schwarzen Loch herauskommen?
Wie kann man die Wand durchbrechen?
Wie kann man das Gesicht auflösen?"

Kopfschmerzen
Heike Delitz

Die Schmerzen im Kopf beginnen allmählich, und allmählich verändert sich auch die Welt, die mich umgibt. Sie verliert ihre Bedeutung. Mein Kopf wird größer. Ich fühle mich in ihm eingesperrt. Ich gleite aus meiner Alltagswelt mit ihren Gegenständen und Mitmenschen. Anstehende Seminararbeiten, Texte, die mich soeben noch beschäftigten, werden unwichtig. Meine Sorgen entfernen sich. Schöne Erinnerungen, die Vorfreude auf eine Begegnung gleiten in Vergessenheit. Mein Kopf und die Schmerzen in ihm nehmen immer größeren Raum ein.

Zugleich ändert sich meine Stimmung, die Aussicht auf die kommenden Stunden wirft ein graues Licht auf die Welt. Ein wenig habe ich Angst vor den Schmerzen. Die Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, werden schneller, willkürlicher. Sie kommen und gehen, ohne dass es einen Zusammenhang gäbe. Es gelingt mir immer weniger, mich auf etwas zu konzentrieren. Ich versuche zu lesen, doch die Worte reihen sich nur verbindungslos aneinander, als würde ich mir selbst, in meinem Inneren, vorlesen.

Die Zeit verändert sich. Die Gegenwart dehnt sich aus. Vergangenheit und Zukunft schwinden. Die Stunden werden länger, um so intensiver die Schmerzen sind. Mein Gefühl sagt mir, dass ich schon unendlich lange in diesem Zustand bin. Mein Blick auf die Uhr zeigt immer die gleiche Stellung der Zeiger. Als stünde die Zeit still.

Mit der Wahrnehmung der Zeit ändern sich auch meine Sinneswahrnehmungen. Die Geräusche sind lauter als sonst. Sie verstärken die Schmerzen, die mich umgeben. Hohe Töne und klare Geräusche wie das Klirren von Gläsern dringen tief in meinen Kopf ein. Die Nachrichten im Radio sind unerträglich laut. Sie bilden eine Resonanz mit den Schmerzen. Ich drehe das Radio aus.

Die Lampen meines Zimmers sind sehr viel heller als sonst. Das Licht fällt in meine Augen ein, beleuchtet den Schmerz, der dahinter existiert. Es intensiviert ihn noch mehr. Ich schließe meine Lider. Nun bin ich noch unmittelbarer auf die unendliche, graue, abstandslose Innenwelt meines Kopfes zurückgeworfen. Ich bin in meinem Kopf eingesperrt. Dort drin sind die Schmerzen. Dort wüten sie. Von dort möchte ich entfliehen. Ich weiß, es ist unmöglich: Die Welt ist mein Kopf, und zugleich ist sie der Schmerz, der dieser Kopf ist.

Ich möchte etwas tun, mich ablenken. Ich weiß, dass ich nicht aufstehen werde, dass ich nichts tun werde. Ich weiß es, weil es unmöglich ist. Ich liege da und schaue die Gegenstände in meinem Zimmer an. Ich möchte etwas gegen den Schmerz tun, ihn aufhalten. Aber es ist zu spät. Ich müsste aufstehen. Senkrecht stehen. Laufen, durch das ganze Zimmer. Die Tür öffnen. Sie aufmachen. In der Küche ankommen. Den Wasserhahn aufdrehen. Die Medikamente hinunterschlucken, zusammen mit dem Wasser. Die Bewegungen wachsen zur unüberwindbaren Hürde, indem ich sie mir vorstelle.

In der Unfähigkeit, etwas zu tun, verlieren auch die Gegenstände um mich herum ihre Bedeutung. Ihr Gebrauch ist eingeklammert. Ich nehme nur noch ihre Oberflächen und ihre Farbe wahr. Sie sind eigentümlich flach, fast nur zweidimensional, in meinem blicklosen Blick. Da sind die Bücher auf dem Fußboden. Der Schreibtisch, der Stuhl davor. Ich sehe das Fenster. Ich weiß, dahinter verbirgt sich die Aussicht auf die Weinberge von Radebeul und das Spitzhaus. Und die rote Backsteinkirche unmittelbar vor mir. Sonst fasziniert sie mich. Bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit hat sie einen anderen Charakter: Bei Sonnenaufgang warm, weich, freundlich. Bei bewölktem Himmel fahl und belanglos. In den Strahlen der Mittagssonne grell, hart und scharfkantig. Jetzt ist das Fenster nur eine Scheibe Glas mit einem weißen Rahmen. Mein Zimmer ist größer als sonst. Die Farben der Gegenstände, der Wände, das Licht, das die Abendsonne in mein Zimmer schickt, sind blass. Auch die einbrechende Dunkelheit vermag keine Geborgenheit zu schaffen. Aber ich weiß, die Zeit ist schon etwas vorangeschritten.

Wie die Dinge verblassen die Menschen, die mich umgeben. Ich fühle mich, als wäre ich in zwei parallelen Welten zugleich. Ich rede mit dem anderen, höre ihm zu, bin äußerlich unverändert. Dabei lebe ich zugleich in meiner eigenen Welt, die von den Schmerzen ausgefüllt ist. Sie ist getrennt von der Welt des anderen. Ich bewege mich durch einen Schleier, der meine Augen und meine Ohren umgibt und mein Bewusstsein verhüllt. Die Geräusche und grelles Licht dringen schmerzhaft durch ihn hindurch, aber ihre Bedeutung bleibt hinter ihm zurück. Die Gegenwart anderer, der Sinn von Worten und Sätzen erschließen sich mir um den Bruchteil eines Augenblicks verzögert. - Ich lebe in einer Zeitlupe -

Ich würde den anderen gern auf den Nebel aufmerksam machen, ihm sagen, dass sich ein nur halb durchsichtiger Schleier aus Schmerzen zwischen uns befindet, der auch die Geräusche und deren Sinn und Gewicht nur schwer zu mir durchdringen lässt. Andererseits erscheint mir das nicht dringend.

Mein Körper verschwimmt. Meine Arme und Beine existieren nicht. Sie werden verdeckt von meinem großen Kopf. Genau genommen schmerzt nicht der ganze Kopf. Ich bin nur meine Stirn und meine Augenhöhlen, dahinter kriecht der Schmerz hervor. Mein Sehfeld ist davon ausgefüllt. Es ist die Fläche, hinter der der Schmerz pocht.

Ich drücke meine Hand fest auf meine Stirn. Aber ich kann den Schmerz nicht aufhalten in seinem Hervorkriechen. Meine Hand ist zu sehr in die Schmerzen meines Kopfes einbezogen, sie wird wie mein ganzer Körper von diesen überdeckt.
Die Hand eines anderen spüre ich hingegen sehr viel intensiver als sonst. Sie lenkt mich von den Schmerzen ab. Es gelingt mir für Augenblicke, meine Gedanken auf anderes zu konzentrieren. Die Schmerzen treten hinter den Schleier zurück. Ich gleite in eine sonderbare Welt. In eine besondere Bewusstseinsspannung, ähnlich einem verzögerten Einschlafen oder einem Traum. Ich erinnere mich intensiv an eine Begegnung, an ein Gespräch oder an eine Landschaft und erlebe jedes Wort und jedes Detail erneut. Jedes Zeitbewusstsein entfällt. Dabei schlafe ich nicht. Ich spüre ja die Hand des anderen auf meiner Stirn, hinter der der Schmerz noch immer lauert, bereit, mich aus dieser labilen Welt zu holen und mich wieder ganz in seinen Bann zu ziehen. Ich bin dieser Hand sehr dankbar.

Ich erinnere mich an meine Kindheit, in der ich auch schon unter den Kopfschmerzen litt. Ich lag zu Hause im Zimmer meines Bruders. Ich lag immer auf dem gleichen Sofa. Es war ein sehr altes Ding mit einem Bezug in verschiedenen Rottönen, in den ich meine Hände krallte. Ich spüre dessen grobe Strukturen noch jetzt in meinen Handflächen, während ich wieder daliege und von den Kopfschmerzen in ihren Bann gezogen werde. Zwischen dem Kopfteil und dem übrigen Teil hatte das Sofa eine tiefe Falte, in die ich mich verkriechen wollte. Ich versuchte, meinen schmerzenden Kopf möglichst weit in diese Falte zu schieben. Ich wollte das Sofa anstelle der Schmerzen spüren. Es gelang mir nie.

Ich weiß noch genau, wie das Zimmer eingerichtet war. Ich sehe das bunte Muster des dicken, weichen Teppichs, auf dem ich sonst mit meinen Geschwistern spielte. Ich starrte auf die unergründlichen Muster. Ich sehe noch, wie das Licht durch das geperlte Glas der Tür fiel. Dahinter existierte meine Familie, aber sie war zu weit weg. Der Gedanke an sie hatte keine Bedeutung. Ich hörte die Stimmen meiner Eltern und meiner Geschwister, die beim Abendbrot saßen, und roch aus der Küche den Duft der Bratkartoffeln.

Ich versuchte den Worten zu folgen. Aber sie bildeten nur eine rauschenden Hintergrund vor meiner Welt. Ich wusste, ich gehöre im Moment zu einer anderen Welt. Ich wollte auch lachen, bei den anderen sein. Und ich wusste, ich würde nicht aufstehen und die wenigen Schritte zu ihnen laufen. Manchmal schauten meine Geschwister in das Zimmer hinein, in dem ich lag. Ich sah sie mit leerem Blick an. Ich glaube, ich tat ihnen leid, aber sie wussten nicht, wie sie tun sollten, und verschwanden bald wieder. Ich konnte auch nicht lange auf sie achten, ich war zu beschäftigt mit meinem Kopf.

Ich schaue in einen Spiegel. Mein Gesicht zeigt die Schmerzen, die dahinter wüten, allenfalls in einer vagen Andeutung. Davon bin ich jedesmal erstaunt. Man müsste doch sehen, was in meinem Kopf geschieht. Es müsste offenbar sein. Ich nähere mein Gesicht dem Spiegel. Suche in meinen Augen nach Spuren des Schmerzes, der sich dahinter befindet. Ich merke doch, dass er hervorkriecht, an dieser Stelle, zwischen meinem linken Auge und der Augenbraue darüber. Aber ich kann nichts entdecken.
Sobald ich den Blick abwende, bin ich wieder davon überzeugt, dass man mir die Schmerzen ansehen müsse. Wahrscheinlich aber sieht auch der andere nicht mehr als ich im Spiegel. Es bleibt ihm verborgen, dass ich in diesem Zustand bin. Wie tief ich in meiner eigenen Welt existiere und wie bedeutungslos die Welt im Moment für mich ist, zu der auch er gehört.

Zwar kann ich ihm sagen, dass mein Kopf schmerzt, aber dies nachzuvollziehen, ist nur zu einem gewissen Grad möglich. Auch ich vermag mich ja nicht wirklich in den anderen hineinzuversetzen, wenn er mir seine Kopfschmerzen mitteilt.

Am nächsten Morgen erscheint die nie vergehende schmerzbehangene Gegenwart wie ein schon weit entferntes Geschehen, an das man sich zwar sehr genau erinnert, das aber vorüber ist. Der Tag beginnt mit dem Gefühl der Erleichterung und der Freude darüber, ohne Schmerzen aufzuwachen. Alle Aufgaben des Studentenalltags und auch die Freuden und Probleme des Lebens sind wieder da, aber auch die Erleichterung hält noch an, wieder unbeeinträchtigt von den Schmerzen leben zu können. Zugleich bin ich noch von einer Benommenheit gehalten, die an die vergangene Nacht erinnert. Es ist, als ob der Nebel, der alle Wahrnehmungen und Gedanken umhüllte, noch da wäre, als ob er mich noch umgäbe, jedoch ohne die Schmerzen, die sich davor befanden.

Das schmerzfreie Leben erscheint mir vor allem in den ersten Stunden nach einer solchen Nacht wertvoller.

Dresden, 2002

Heike Delitz: Heike.Delitz@mailbox.tu-dresden.de

 

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