das gefrorene meer, jahrgang 2007
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Das Gefängnis von Daugavpils

Fotographie: Carsten Wilde
Text: Frederik Hartig
Transkription und Übersetzung des Briefes: Andrej Walzel
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Daugavpils im Südosten des Landes ist mit 110.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Lettlands. Stolz ist die Stadt auf den Kirchenhügel, ein Ensemble dreier Kirchen: einer russisch orthodoxen, einer lutheranischen und einer katholischen Kirche. Der Weg dahin führt über eine Brücke und davor befindet sich auf der rechten Seite der Straße das Gefängnis von Daugavpils. 1863 wurde es als Gefängnis gebaut und das ist es bis heute geblieben. Etwa 500 Häftlinge sollen sich derzeit hier befinden. Es heißt, Verurteilte aller Strafmaße seien inhaftiert: Vom Verstoß gegen Paragraph 101 (Verunreinigung des Meeres), bis zum schweren Raubüberfall und Mord. Die Häftlinge stecken ihre Köpfe durch die Gitterstäbe, sie schauen auf die weiße Kirche mit der blauen Kuppel, auf die Brücke, die Straßenbahnen, und manchmal, wenn ein Mädchen vorübergeht, bläst einer von ihnen einen Brief durch ein Rohr auf die Straße:


Девушки Здравсвуйте

Девчёнки не хотите ли вы познакомиться с весёлыми, привлекательными с чувством юмора персонами. Девчёнки вы просто красавицы. Я бы точно отдал бы вам своё сердце, душу и самого себя; чтоб вы только согласились бы познакомиться. Девчёнки вы бы знали как нам тут скучно бес Вас и не хватает Вас Если захотите познакомиться, тогда поднимайте руку и подаждите две минуты мы тогда напишим свои данные.
Ну всё девчёнки мы Вас любим!

С уважением к вам
Вадим
  Hallo Mädels,

Mädels, wollt Ihr nicht ein paar fröhliche, charmante Leute mit Sinn für Humor kennen lernen? Mädels, Ihr seid einfach schön. Ich würde Euch wirklich mein Herz schenken, meine Seele und mich selbst: wenn Ihr bloß einverstanden wärt, mich kennen zu lernen. Mädels, wenn Ihr bloß wüsstet, wie langweilig uns hier ohne Euch ist, wie Ihr uns fehlt. Wenn Ihr uns kennen lernen wollt, dann hebt die Hand und wartet zwei Minuten. Wir geben Euch dann unsere Daten.
Das war’s, Mädels, wir lieben Euch.

Mit Hochachtung
Vadim



Während die Mädchen uns den Brief vorlesen und übersetzen, johlen die Gefangenen, weitere Briefe kommen geflogen. Dann stehen zwei Wachmänner neben uns. Freundlich aber bestimmt fordern sie uns auf, ihnen den Brief auszuhändigen. Wir geben ihnen den Brief. Die Wachmannschaft versucht den Außenkontakt der Häftlinge zu unterbinden. Sie kann ihn einschränken, doch ganz verhindern kann sie ihn nicht. Auch wenn sie ihnen Papier und Rohr wegnehmen, die Gefangenen haben Zeit über andere Möglichkeiten nachzudenken.


Mit Dank an Svetlana Ivashina

Dieses Porträt entstand im Rahmen eines Bildbandprojektes über Lettland: www.bookaboutlatvia.de
Carsten Wilde: über den Fotographen
Frederik Hartig: über den Autor
Andrej Walzel: über den Übersetzer