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Die Schweizer Kur - Eine Betrachtung dreier Romane

von Tino Richter
Zugegeben: Wenn es um Literatur geht, sind die Schweizer nur als Dürrenmatt, Frisch, vielleicht auch als Keller bekannt - manche mögen sich im Buchladen auch schon mit Walser "vergriffen" haben. Auch wenn hier weniger eine nationale Umgrenzung, als eine sprachlich-kulturelle gemeint ist, sollte die Frage erlaubt sein, ob es so etwas wie eine Schweizer Literatur überhaupt gibt, ob sich ein spezifisches Thema, eine spezifische Art zu Schreiben in den hier willkürlich ausgewählten Romanen von Peter Stamm, Markus Werner und Ruth Schweikert zu erkennen gibt.


Die Poesie des Wetterberichts

Das Verhältnis von gesprochener und geschrieber Sprache ist in Europa auf staatlicher Ebene wohl kaum so ambivalent wie in der Schweiz. Während die Tagesschau auf SF1 komplett auf Hochdeutsch ausgestrahlt wird, folgt der Wetterbericht von SF Meteo - je nach Moderator - in einer dialektalen Variante des Schweizerdeutschen, weil nur Informationssendungen mit über die Sprachgrenzen hinausreichendem Interesse auf Hochdeutsch abgehalten werden müssen. Dem Schweizerdeutschen ist jedoch ein gewisser poetischer Einfallsreichtum nicht abzusprechen, wenn es heisst: es chuutet (es regnet), es strääzt (es regnet stark), es chunnd ganz schöön cho schütte (es schüttet aus Eimern) oder es hudlet (stürmisches Regenwetter). Man wird den Eindruck nicht los, dass das Hochdeutsche mehr aus Rücksicht auf die anderen drei Sprachgruppen in der Schweiz verwendet wird, als auf ein Bedürfnis zurückzuführen ist, im deutschen Sprachraum verstanden zu werden. Das hat in der jüngsten Vergangenheit zu recht witzigen Auseinandersetzungen geführt, so dass man annehmen müsste, die eigene Sprache wäre das grosse Thema in der Schweiz. Kann daher vermutet werden, dass sich gewisse sprachliche und kulturelle Eigenheiten auch in der Literatur wiederfinden lassen?


Das Hochdeutsch als Wiederstandsbewegung?

Die Anpassung der Literatursprache an eine hochdeutsche Standardform ist immer Thema Schweizer Autoren wie Dürrenmatt und Frisch gewesen. Zwar bekannte sich Dürrenmatt zur Verwendung von Helvetismen in der Literatur, bezeichnete das aber als einen Verfremdungsprozess, als eine Trennung in Verstandes- (Hochdeutsch) und Gefühlssprache (Schweizerdeutsch). Auch Frisch betrachtete diese Distanz zur eigenen Schriftsprache als hilfreich für sein Schreiben, weil sie ihm dadurch immer wieder als Kunst-Material erschien und nicht etwa als Fortführung eines "natürlichen" Kommunikationsprozesses. Verstärkt wurde dieses Unbehagen gegenüber der deutschen Schriftsprache noch durch die Wirkung des "Dritten" Deutschen Reiches auf die Bevölkerung, welches sich national-heroisch im Begriff der "geistigen Landesverteidigung" manifestieren sollte. Das schloss aber nur bedingt die Aufnahme von Flüchtlingen mit ein. Und dennoch scheint es, als hätte sich nach 1945 die literatursprachliche Varietät der Schweizer Dialekt- und Sprachgemeinschaft homogenisiert.
Günter Grass, dessen kulturhistorisch beachtenswerte Verwendung von kaschubischer aber auch anderer Mundarten integraler Bestandteil seiner Werke ist, sparte dann auch nicht mit Kritik an der Haltung jener Schweizer Autoren, die - so Grass - "eine als Fiktion vorhandene Sprache" ermöglichten. Das trifft nun aber auch wieder nicht den Apfel auf dem Kopf, weil die Schweizer ja nicht nur als deutschsprachige, sondern ebenso als franzözisch-, als italienisch- oder gar, obwohl verschwindend gering, als rätoromanischsprachige Gruppen in Erscheinung treten und der zumindest schriftsprachliche Zusammenhalt auch eine Folge der Verwendung des Standarddeutschen ist. In einem Land, mit rund 20% Ausländeranteil bei rund 7,5 Millionen Einwohnern, nur zu verständlich. Schreiben, so könnte man resümieren, ist in der Schweiz generell ein Schreiben in einer Fremdsprache. Einerseits ist es verwunderlich, dass die strikte Trennung von Schrift- und Alltagssprache als so selbstverständlich erachtet wird, andererseits greift die Kritik von Grass zu kurz, weil es auch in der Schweizer Schriftsprache durchaus Abweichungen von einem angenommenen Standarddeutsch gibt. Z.B. wird generell auf das Eszett zugunsten der Doppel-S-Schreibung verzichtet, auch eine unterschiedliche Perfektbildung bei sein und haben, Genusabweichungen bestimmter Nomen, diverse abweichende Schreibweisen, sowie die Eigenart, im Mündlichen und z.T. auch im Schriftlichen auf das Präteritum zu verzichten sind übliche Umgangsweisen mit dem "Standarddeutsch". Ein Blick in die Neue Zürcher Zeitung oder die Weltwoche genügt, um sicher zu sein, dass auch das "Standarddeutsche", nur eine Fiktion ist.


Peter Stamm: An einem Tag wie diesem. Roman, S. Fischer Verlag, 2. Auflage 2006.

Man könnte nicht behaupten, dass An einem Tag wie diesem nicht einlösen würde, was es verspricht, nämlich Leere. Die Hauptfigur Andreas wohnt, arbeitet und liebt als Deutschlehrer in Paris und das ist - nach eigener Auskunft - auch schon alles, was es Wichtiges über ihn zu sagen gäbe. Die Beziehungen zu den Eltern, zum Bruder, zu seinen Geliebten sind funktional und von einer Fremdartigkeit, die an Camus Meursalt erinnern aber nicht so konsequent zerstörerisch sind, nur lieblos, langweilig und eben leer. Andreas gefällt dieser Zustand, er gibt ihm zunächst Sicherheit in die er sich einwickelt, wie in eine Decke. Erst als es darum geht, das Grab der Eltern aufzulösen und dem eigenen Verdacht auf Lungenkrebs nachzugehen, meint Andreas sein bisheriges Leben ändern zu müssen. Mit Paris gibt er das Lehrer- und Leererdasein auf, verlässt seine Geliebten, nimmt aber dann doch eine, nämlich Delphine, mit und kehrt zurück in das Dorf, aus dem er geflohen war, zurück zu seiner Jugendliebe Fabienne. Ihr hatte er nie seine Liebe gestehen können, ihr war er in den Erinnerungen Abstand haltend immer wieder gefolgt, sie sollte der Deckel für seinen Eimer voller leerer Sehnsüchte sein.



Markus Werner: Am Hang. S.Fischer Verlag 2004.

Thomas Clarin und Thomas Loos treffen in Montagnola (Tessin) zusammen, sie kennen sich nicht, kommen ins Gespräch, zwei Abende lang, gegensätzlich in ihren Ansichten, von Bergspitze zu Bergspitze redend, sind sie sich fremd. Es ist die unauflösliche Dialektik von Konservatismus und Relativismus, also der Modernisierung als permanenten Prozess der Selbstvergewisserung. Darin eingebettet liegt, wie ein heisses Soufflé, um das Clarin und Loos reden, auf das sie verweisen aber nicht anrühren, die Geschichte von Bettina - Loss' an diesem Ort verstorbener Frau. Werner versteht es, die Dialektik zwischen dem Scheidungsanwalt Clarin und dem Lehrer für tote Sprachen Loos, als ein Spiel mit den Sympathien der Leser spannend zu inszenieren. Bei ihren Gesprächen wird Loos in Clarins Augen zum schrulligen und scheinbar ewig gestrigen Kritiker an der systemischen Welt, der, mit der Verzweiflung des Pädagogen ausgestattet, glaubt, etwas ändern zu können. Clarin wird dagegen in Loos Augen zum "Zeitgeistreiter", der das Leben als relativ zu akzeptieren bereit ist, weder das Schlechte, noch das Gute sehen zu müssen, sondern nur das, was ihm zum Vorteil gereicht. Die Auflösung dieser seltsamen Begegnung bleibt der ironisierte Abgang von Loos. Denn am dritten Tag ist Loos verschwunden und mit ihm sein Name und die Geschichte von Bettina, die anders auch seine Geschichte, nämlich die einer Affäre mit der verheirateten Valerie gewesen sein könnte. Clarin wird zum Erzähler, zum Zweifler an Loos und an sich selbst.


Ruth Schweikert: Ohio. Amman Verlag 2005.

Durban, Südafrika. Andreas und Merete sind, mehr oder weniger zufällig verheiratet, haben zwei Kinder und müssen sich das Scheitern ihrer Beziehung eingestehen. "Aber wie, womit hat es angefangen", fragen sie sich und Schweikert könnte man nun vorwerfen, aus den einzelnen Textfragmenten, psychoanalytische Begründungszusammenhänge herstellen zu wollen. Ohio bildet im Roman eigentlich nur den Sehnsuchtsort von Andreas Grosseltern, den sie nie erreicht haben werden. Ohio, als Grenzfluss zwischen den ehemals Vereinigten Staaten und den Südstaaten, also Membran zwischen vermeintlicher Freiheit und Sklaverei, ist aber zugleich ein innerlicher Fluchtort, an dem Andreas bisexueller Vater Michele, zwischen Unrast und Familie hin und her diffundiert. Aber was hat das mit den Hauptfiguren Andreas und Merete zu tun? Nichts. Merete (die eine Anspielung auf das Hexenkind Meretlein in Kellers Der grüne Heinrich sein könnte), die ihre leiblichen Eltern nicht kennt, in Durban ausgesetzt und von der Adoptivmutter gegen ihr totes Kind eingetauscht wurde, hat sich in Peter, einen Schriftsteller, der sehr nach dem Vorbild Jürg Ammanns gezeichnet ist, verliebt. Sie will Andreas aber nicht verlassen, will ihm stattdessen einen Grund liefern, sie zu verlassen, weil das früher oder später eh passiert wäre. Das klingt kompliziert, ist es auch. Wie schon bei Markus Werner, wird eine Hauptfigur, nämlich Merete, nachträglich zur Erzählerin, die Andreas im Schreiben für die Zukunft konserviert, verändert und eigentlich die Unmöglichkeit einer irgendwie objektiv bestimmbaren Familiengeschichte offenlegt. Zwischenzeilich darf spekuliert werden, was Ruth Schweikert mit dieser Textmontage wohl beabsichtigt hat. Für eine quellenkritische Betrachtung fehlt die Betonung unterschiedlicher Textsorten, für eine Familiengeschichte sind die Figuren und ihr Handeln zu flickenhaft, die angerissenen Ereignisse zu wenig auf die Figuren bezogen. Das Buch wird zum Zeugnis des Scheiterns, des Scheiterns einer Ehe, des Erzählens und letztendlich des Romans selbst.


Lektorenaugen sehen anders

Von einer Spezifik der Schweizerdeutschen Schriftsprache ist bei den hier ausgewählten drei Romanen nichts zu spüren, sie löst sich auf, bleibt bei wenigen Wörtern kleben und wendet sich irritierenderweise gegen die Rechtschreibreform. Schweikert, 1965 in Lörrach geboren, in der Schweiz aufgewachsen und in Zürich lebend, wirkt damit schon wieder komisch, wenn sie die alte Rechtschreibung beibehält und eisern, jedes Eszett verteidigt. Aber das hat wohl weniger mit künstlerischer Raffinesse zu tun, als mit dem Verlagswechsel. Ihr erstes und erfolgreichstes Buch Erdnüsse. Totschlagen, 1994 erschienen im Rotpunktverlag, weist nämlich noch die Schweizerdeutsche Variante auf. Auch Werner und Stamm halten sich an das Standarddeutsch ihres Verlages. Werner, 1944 im Kanton Schaffhausen aufgewachsen und noch immer dort wohnhaft und Stamm, 1963 in Weinfelden geboren, aufgewachsen und in Zürich und Winterthur lebend, geben sich in ihrer Sprache nicht als Schweizer zu erkennen. Ist das Abgrenzung? Verfremdung? Ein pathologischer Fall?


Der Deutsche Blick

Vielleicht ist deshalb auch der deutsche Blick so kritisch, ist der Schweizer Literaturclub mit Deutschen besetzt (Heydenreich, Cohn-Bendit, Willemsen und nun Radisch), lassen Schweizer Autoren bei Fischer verlegen, weil die Deutschen ihre Themen haben, die anderweitig fast zu literarischen Minderwertigkeitskomplexen führen können. Vielleicht. Was auffällt ist, dass es im Literaturland Schweiz recht sorgenfrei zugeht. Keine der hier beschriebenen Figuren gehört einer minderbemittelten Personengruppe an, sie bewegen sich zwischen Paris und Weinfelden (die Schweizer bezeichnen eine 9000 Einwohner Stadt ernsthaft als Dorf); zwischen Durban, Cleveland, Breslau und Celerina im Engadin oder sitzen einfach nur auf einer Terrassse respektive im Wochenendhaus in Montagnolo herum und schwatzen. Ob Rechtsanwalt, Lehrer, Behindertenbetreuerin, Promovierende oder Arzt, ihre Probleme sind eher psychologischer Natur. Es sind Beziehungsgeschichten, bei denen Sex als Kapitulation, höfliches Mundfeuer und Sprachlosigkeit einander abwechseln. Merete fragt: "fickt man, um sich zu betäuben oder um sich lebendig zu fühlen?" Wenn einem als Autor nichts mehr einfällt, schreibt man über Sex. So gesehen, wird die Glaubwürdigkeit des Erzählens doppelt thematisiert, einmal in den Handlungen der Figuren und ein zweites Mal, wenn diese Figuren anfangen sich zu verschriftlichen (bei Schweikert und Werner) und feststellen, wie sich die Realität für sie zu verändern beginnt. Stamm z.B. bleibt lieber beim Sex, er kennt seine Lesergruppe.
Das Erzählen wird wie bei Schweikert zu einer Quellenarbeit des Lesers, der die einzelnen Textfragmente zusammenhalten muss und manchmal durch angedeutete Verbindungen, wie z.B. Hitlers Traum von brennenden Wolkenkratzern, ein Gespräch am Flughafen von Johannesburg und den Anschlägen vom 11.September 2001 auf Bedeutungswege geschickt wird, die oft in Sackgassen enden, auch enden sollen. Manchmal bildet einfach nur die Zustandsbeschreibung eines Körperteils (Faust/ Hände) eine Verbindung zwischen zwei Texten, manchmal gibt es gar keine. Die für sie charakteristische Verwendung konkreter Datumsangaben, scheint das einzig Reale, der Kleiderhaken ihrer Erzählung zu sein, an dem sich verschiedene Möglichkeiten der Handlungen "aufhängen" lassen

Die Krankheit in der Literatur ist auch hier ein bestimmendes Thema; galt früher die Tuberkulose als das Krankheitsbild in der Literatur, ist es jetzt der Krebs, der zur Projektionsfläche wird. Sowohl der rauchende Andreas in An einem Tag wie diesem, als auch Bettina/Valerie in Am Hang, sind künstliche Patienten, die ihr Krankheitsbild philosophisch verklären (Andreas) oder denen es nur angedichtet wird (Bettina/Valerie). Andreas in Ohio raucht auch, bekommt aber lediglich Depressionen und begeht Selbstmord. Auch der Begriff Kuraufenthalt ist hier nicht fehl am Platz, weil Stamm seinen Andreas in den Urlaub nach Weinfelden, Markus Werner seine Protagonisten in den Kurort Montagnolo und Schweikert ihren Andreas, nicht zur Erholung, eher zum Sterben, nach Südafrika schickt.

Die Wohlstandsfiguren der drei Autoren bewegen sich auf rein poetischem Gebiet. Historische Themen muss man suchen (auch, weil man als Deutscher versucht ist, danach zu suchen) und wenn sie doch, wie bei Schweikert hinter Kommas auftauchen, dann werden sie so beiläufig Entkontextualisiert und im Falle der Vertreibung der Deutschen aus Breslau so vereinseitigt, dass es dem Puzzelcharakter des Romans eher entgegengekommen wäre, wenn die Autorin es bei googeligen Andeutungen belassen hätte. Das wirkliche Leben, die Weltgeschichten, spielen vielleicht in Paris, manchmal in Zürich, sicher doch in Durban. In Weinfelden, im Engadin oder in Montagnolo jedoch bleibt es friedlich, zumindest äusserlich - es sei denn, man interessiere sich für die "Einschleppung des Alphorns ins Tessin", wie es Werner ironisch anmerkt. Hinter den Fassaden erweist sich das gesellschaftliche Konkordanzprinzip, der Kompromisszwang, jedoch als sehr fragil, gar als Zumutung, als Lebenslüge der hier aufgeführten Figuren.

Frauen sind Mütter und Ehefrauen oder wollen welche werden, nicht selten gehen sie fremd aber kaum sind sie so glücklich dabei wie Merete. Nicht ohne Grund wurde Schweikert von den Rezensenten der Versuch angedichtet, dem Mangel an "einer repräsentativen Frauenfigur in der Schweizer Literatur" nachkommen zu wollen.

Nur einmal, wieder Schweikert, ganz zum Schluss, nachdem sie Andreas schon hat sterben und Merete wieder glücklich sein lassen, erst da kommt so etwas wie eine spezifisch Schweizerische Problematik auf, die sich um Asylgesuche und Aufenthaltsgenehmigungen dreht.

Eine Schweizerdeutsche Literatur ist, gemessen an diesen drei Romanen, nicht auszumachen, sie verschwindet oder hat nie wirklich existiert. Während Stamm das wohl anspruchloseste, Werner das virtuoseste und spannenste ablieferte, gebührt Schweikert der Titel des experimentierfreudigsten Buches. Auch wenn die Autorin an ihrem Thema offenbar gescheitert zu sein scheint und eigentlich nur Ratlosigkeit zurücklässt, darf man auf ihre weiteren Zeilensprünge gespannt sein.

Tino Richter: über den Autor