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Jan Philipp Reemtsma: Das Unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit.

Rezension von Frederik Hartig
Mit dem Buch "Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit" werden sechs Reden veröffentlicht, die Jan Philipp Reemtsma zu verschiedenen Anlässen gehalten hat. In zwei Reden untersucht er, wie sich der Diskurs bezüglich einer Restitution von Beutekunst in den Feuilletons (vor allem der FAZ) nach der Wende verändert hat. Während vor der Wende hauptsächlich darüber diskutiert wurde, inwiefern die von den Russen im 2. Weltkrieg angeeigneten Kunstschätze nach Deutschland zurückgelangen können, bekommt nach 1990 die Frage zunehmend Gewicht, wie mit Kunstwerken umzugehen ist, die aus jüdischen Besitz stammend, von deutscher Seite widerrechtlich angeeignet wurden und sich heute in deutschen Museen befinden.
In zwei weiteren Reden widmet sich Jan Philipp Reemtsma der Frage, welche Bedeutung man Metaphern zuschreiben kann. Den Theorien von Richard Rorty und Donald Davidson folgend, wird festgestellt, dass Metaphern (und auch alle Kunstwerke, die eine metaphorische oder symbolische Lesart zulassen) nur das ausdrücken, was sie sagen: Sie bedeuten nach Davidson "‚was die betreffenden Wörter in ihrer buchstäblichen Interpretation bedeuten, und sonst nichts'" (126), oder aber sie haben, nach Rorty, gar keine Bedeutung und man könne sie folglich weder verstehen noch interpretieren. Aber eine Metapher ist, so zitiert der Autor den Philosophen Rorty, wenn sie auch keine Erkenntnis vermitteln kann, doch ein Stimulus für Erkenntnis. Aus dieser Argumentation entwickelt der Autor seine Rechtfertigung der Literatur und der Literaturwissenschaft. Diese Verteidigung wird in der Rede "Warum studiert, warum lehrt man Literaturwissenschaft?" zur Kernfrage. An dieser Stelle soll die Argumentation kurz nachgezeichnet werden: In Zeiten der leeren Kassen erhöht sich der Rechtfertigungsdruck auf die Literaturwissenschaft. Im Kampf um Ressourcen bedarf es einer guten und für Außenstehende verständlichen Begründung, warum ein akademisches Fach nicht zusammengestrichen werden soll. Dabei verwendet der Autor, der als Professor für Neue Deutsche Literatur von dieser Problematik unmittelbar betroffen ist, keine Argumente, die einem utilitaristischen Diskurs folgen, wie er bei derartigen Rechtfertigungen häufig angeschlagen wird. Im Gegenteil: "Braucht man Literaturwissenschaft also für irgend etwas außerhalb ihrer selbst? Nein. Gibt es irgendeinen guten Grund, Literaturwissenschaftler für das, was sie tun, zu bezahlen, damit sie es von Berufs wegen tun können - außer man hat es gern, daß es sie gibt? Nein. Jede kulturpolitische Diskussion, die dies nicht ernstnimmt, ist nicht ernstzunehmen" (81). Auch den Versuch die Literaturwissenschaft in eine Medienwissenschaft umzuwandeln, um ihr damit den Anstrich einer Aktualität und gesellschaftlichen Notwendigkeit zu geben, lehnt der Autor ab: "Man hat doch wenigstens so lange auf dem Posten zu bleiben wie die Musik spielt" (101). Vielmehr verweist Jan Philipp Reemtsma darauf, dass Literatur und Literaturwissenschaft, verstanden als "gewohnheitsmäßiges, zuweilen beruflich betriebenes, Lesen von Werken der Literatur (der ‚schönen Literatur', der Belletristik) und gewohnheitsmäßiges, zuweilen beruflich betriebenes, Reden und Schreiben darüber" (83), untrennbar zusammengehören: Seit es Literatur gibt, werde auch darüber öffentlich gesprochen, schon immer gab es ein Bedürfnis nach Textauslegung. Gleichzeitig werde, indem man über bestimmte Werke spricht und über andere nicht, ein literarischer Kanon festgelegt: "Reden über Literatur und Kanonbildung (Kanonneubildung, Kanonumbildung) sind eins" (85). Das Pflegen eines Kanons bedeute ebenfalls das Pflegen einer Tradition. Nun könne zwar jeder über Literatur sprechen, er kann es sogar öffentlich tun, aber nur wenige seien dafür kompetent. Kompetent seien allein kulturelle Eliten, die der Autor als "Gruppen, die ihre Identität durch einen weltanschauungsunabhängigen Kunstbezug gewinnen" (91), versteht. Diese Eliten müssen keinen pädagogischen Zielstellungen nachkommen: Denn das Nichtbescheidwissen der Mehrheit sei unaufhebbar. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft erhalten die Eliten die Funktion eines Trägers von Hochkultur.
Durch die enge Verknüpfung von Literatur und wissenschaftlicher Literaturbetrachtung wird mit einer Infragestellung der akademischen Form des Redens und Schreibens über Literatur auch die Existenzberechtung der Literatur insgesamt problematisiert: "Wenn eine Gesellschaft vor ihrer literarischen Kultur keine Achtung mehr hat, wenn die Achtung nicht so beschaffen ist, daß sie es als achtenswert empfindet, über diese Kultur einigermaßen Bescheid zu wissen, wenn sie also das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit - ihre Unbildung - nicht mehr als bedauerlichen Mangel empfindet, der nur durch die Bildung einer kulturellen Elite kompensiert werden kann, dann ist nichts mehr zu machen" (100). Damit möchte sich der Autor den Klagen, um den kulturellen Verfall nicht anschließen, "denn das Pathos verdankt sich der Illusion, das Lamento wäre wie von draußen an die Gesellschaft gesprochen und nicht auch Teil des Gesamtsounds" (29). Das hindert ihn jedoch nicht daran, Seitenhiebe z.B. gegen Talkshows zu führen, die er als Indikator eines kulturellen Mangelzustandes sieht: "Der Mob, der sich in den Fernsehstudios ankeift, der Mob vor den Bildschirmen, der sich was Besseres dünkt, und - wie einst bei den Gladiatorenspielen - verächtlicher ist als die [sic!] sich in der Arena abschlachten, der tatsächlich unbeschreibliche Irrsinn bloßer Tatsächlichkeiten und Tätlichkeiten, wo masochistische Idioten stolz darauf sind, in Fernsehsendungen eingeladen zu werden, wo sie also die masochistischen Idioten, die sie sind, präsentiert werden, und zwar von - ach nein, nicht von begabten, den Betrieb parodierenden Zynikern, sondern von sadistischen Idioten […] - das alles zu beklagen wäre Unsinn" (30). In der ausführlichen Beschreibung dessen, was nicht zu beklagen ist - in der Rhetorik wird dieses ostentativste aller Stilmittel als Präterition oder als Paralipse bezeichnet - reiht der Autor sich nun doch in den "Gesamtsound" ein.
Was seinen Ausführungen hinzuzufügen wäre: Ebenso wie es heute mehr Menschen gibt, die an einer Kultur des Voyeurismus und gegenseitigen Schlachtens teilnehmen können, gibt es auch weitaus mehr Menschen, die an einer Hochkultur partizipieren. Der mediale Zugang hat sich - und das ist nur gerecht - für alle verändert. Natürlich wird das Marktplatzgeschwätz ins Fernsehen geholt. Aber der Garten der Philosophen erhält dieselbe mediale Chance und es ist bekannt, dass sich seit je mehr Menschen auf dem Markt prügelten, als Menschen im Garten saßen und über philosophische Grundfragen nachdachten. Und schon immer schauten die Leute lieber einer zünftigen Schlägerei als den Dichtern und Philosophen bei der Arbeit zu. Warum aber wird man nun Literaturwissenschaftler und setzt sich damit einem ständigen Rechtfertigungsdruck aus? "Es ist doch einfach so: wir haben nichts anderes gelernt. Was sollen wir sonst machen? Unser Leben ist eben so verlaufen, daß wir unter die geraten sind, die an der Fortsetzung der Debatte um unsere literarische Tradition beteiligt gewesen sind. Und wir haben uns darum bemüht, dabei zu gefallen und vielleicht Achtung zu erwerben. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr die richtige. Das hätten wir hinzunehmen. Wenn wir es hinzunehmen haben, müssen wir aber auch zugeben, daß wir unseren Teil dazu getan haben" (101).
Dass die im Klappentext angekündigte Fragestellung, inwiefern sich das Theater zwischen Tradition und Experiment positionieren sollte und wie Klassiker heute inszeniert werden können, nicht umfangreicher ausgeführt wird, ist zu bedauern.
Betrachten wir Jan Philipp Reemtsmas Reden als einen Beitrag, den Abriss der Tradition der Textauslegung eben nicht hinnehmen zu müssen. Lesenswert ist das "Unaufhebbare Nichtbescheidwissen" nicht allein deshalb, weil es eine Verteidigung der Literatur und Literaturwissenschaft jenseits ängstlicher Anbiederungspolitik leistet. Durch zahlreiche kleinere und größere Exkurse, durch umfangreiches Zitieren von Christoph Martin Wieland und Arno Schmidt, wird möglicherweise doch etwas Nichtbescheidwissen aufgehoben.


Jan Philipp Reemtsma: Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst. C.H.Beck. München 2005. Gebunden, 170 Seiten, 19,90 EUR

Frederik Hartig: über den Autor