simultané / zeitgleich
EINE VON VIELEN
Shkurte Smajlaj
Die Geschichte dieses jungen Mädchens ist kein Einzelfall. Sie kam vor 11 Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland und führt hier ein Leben unter erschwerten Bedingungen. Diese Situation verbindet uns und daher will ich ihre Geschichte erzählen.

"Hör mal, so darf und kann es für uns nicht weitergehen. Wenn sie wieder auftauchen, was dann? Diese Leute sind nicht normal, denen ist alles zuzutrauen. Ich mache mir Sorgen. Sie haben heute wieder Menschen, die wir kannten, getötet." So oder ähnlich müssen die Worte meines Vaters vor über 12 Jahren geklungen haben. Kleine Auseinandersetzungen zwischen dem Kosovo und Serbien gab es immer. Nun, Anfang 1990 wurde es schlimmer. Die Serben fingen an, die Kosovaren zu entlassen, sie aus ihren Häusern zu vertreiben und auch zu töten. Ich war noch sehr klein, kann mich aber an Situationen erinnern, die so kalt, berechnend und brutal waren, dass ich heute, viele Jahre später, immer noch nicht darüber reden kann. Es liegt nicht in meinem Ermessen, die Schuldfrage zu klären. Von wem gingen die Streitigkeiten aus? Zu einem Krieg gehört schließlich mehr als nur ein Land. Eines steht für mich allerdings schon fest: Erst nach der "Machtübernahme" von Milosevic wurde alles schlimmer. Der Krieg ließ nicht auf sich warten. Nach dem Bosnienkrieg durfte der Kosovo in Milosevics Sammlung nicht fehlen.
Ende Februar 1993 wurde mein Vater von den Serben erneut verfolgt. Dies war der endgültige Grund für die Flucht aus seinem eigenen Land, seinem eigenen Haus und dem eigenen Leben. Meine Familie hatte wenig Geld, da man meinem Vater gekündigt hatte. Und so schlugen immer mehr Türen vor unserer noch nicht geplanten Flucht zu. Wir sind eine große Familie mit sieben Kindern: zwei ältere Brüder, eine ältere Schwester, ich - die goldene Mitte - und drei jüngere Geschwister, zwei Brüder und eine Schwester. Es drehte sich zunächst alles darum, das nötige Geld für die Flucht aufzutreiben. Kaum einer machte sich Sorgen, wo wir landen würden.
Das Ziel stand bereits fest. Es sollte das Land der vielen Möglichkeiten sein: Deutschland. Das ist eines der wenigen Länder, das für unsere Familie tatsächlich eine Möglichkeit darstellte, ein Traumland. Mein Vater würde arbeiten und wir die Schule besuchen können. Das Allerwichtigste aber: Wir würden keinen körperlichen und seelischen Qualen ausgesetzt sein. So lange die Konflikte in unserem Land andauerten, wollten wir dort bleiben, auf keinen Fall länger. Irgendwie bekamen wir schließlich das Geld zusammen. Noch bevor die Reise starten konnte, kamen erste Zweifel auf. Würden wir es schaffen? Würden wir den Kontakt zu unserer Familie halten können? Würden wir mit dem Neuen, dem Unbekannten klarkommen? Wie lange würden wir weg sein? Was, wenn wir auf der Flucht umkämen? Was würde aus dem Teil der Familie, den wir zurück lassen mussten?
Kneifen gab's nicht. Trotz all unserer Zweifel und vieler Ereignisse, die uns zur Vorsicht mahnten, zogen wir einfach davon, wie Nomaden. Es ist so, als wäre das alles erst gestern gewesen und wenn ich daran denke, kann ich meine Emotionen und Tränen nicht unterdrücken. Meine Oma und zwei meiner Geschwister mussten wir zurücklassen und das fiel uns unglaublich schwer. Nur wenige Wochen oder Monate wollten wir unterwegs sein. Als wir aufbrachen, versuchte Oma uns nichts von ihren Gefühlen zu offenbaren und tat ganz ‚tough', so als wäre sie froh, uns los zu werden. Auf Albanisch, meiner Muttersprache, betete sie noch einmal zu Gott, er möge uns in unserem Vorhaben unter die Arme greifen. Auf dem Weg zum Treffpunkt, von dem wir abgeholt werden sollten, fuhren wir an einer Moschee vorbei. Mein kleiner Bruder erhob sich und fragte, ob wir schon angekommen wären und ob wir nicht hineingehen könnten. Auch heute ist mir die Gefahr nicht bewusst, die unsere Eltern auf sich nahmen, um uns Kinder in Sicherheit zu bringen.

Wie es weiterging, weiß ich nicht mehr.
In Deutschland holte uns ein Freund meines Vaters ab. Er lebte und arbeitete hier schon ewig. Die erste Cola meines Lebens folgte, und wir legten uns schlafen. Ich hatte nicht gemerkt, wie anstrengend das alles war. Ein Nachspiel für meine Gesundheit würde folgen. Am nächsten Morgen gab es, bevor wir hinausgingen, Toastbrot mit Käse. Alles war so anders, atemberaubend. Wir standen da wie gelähmt und sahen zum ersten Mal eine richtig gut gebaute Straße. Die Hochhäuser machten den Eindruck, als würden sie jeden Moment einstürzen. Im Kosovo gab es nicht mal Wohnblocks, geschweige denn Hochhäuser. Und dann die vielen Leute, die alle so toll angezogen waren. An jeder Ecke Geschäfte - in meinem Dorf gab es nur zwei kleine Tante-Emma-Läden. Wir kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Ich würde heute gern wissen, welche Straße das gewesen ist. In der ersten Woche gingen wir immer nur alle zusammen hinaus, um uns nicht zu verlaufen. Um uns nicht aus den Augen zu verlieren. Dann mussten wir denen, die dort gebliebenen waren, irgendwie eine Nachricht zukommen lassen. Doch wie? Ein Telefon besaßen weder wir noch sie. Meine Eltern und der Freund meines Vaters erledigten gemeinsam die relativ komplizierten Amtswege. Noch heute habe ich nicht den Mut mich zu fragen, wie das ganze ablief.
Unsere Wohnung bestand aus zwei Containern, wie man sie von Baustellen her kennt. Es gab eine Sammelstelle dieser Container irgendwo am Rande von Berlin. Dort wurden alle Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung gesammelt. Wir kamen uns wie zusammengepferchtes Vieh vor. Es gab fest eingeplante Mahlzeiten, eine Küche, die mindestens 1km entfernt war und für alle Bewohner eine einzige gemeinsame Dusche. Für mich hatte der erste Albtraum in einem "wunderbaren Land" begonnen. Man kannte es nicht anders, deshalb ließ man alles über sich ergehen. Die Mitarbeiter waren das einzig Erfreuliche in diesem Loch.
Nach einem Jahr kam ich zusammen mit meiner Familie in einem Wohnheim in der Nähe vom Alexanderplatz unter. Dort lebten wir fast in einer normalen Wohnung, sogar einen Kühlschrank gab es. Mit der Küche und dem Bad blieb alles beim Alten. Man bekam Routine: zum Zähneputzen drei Flure entlang laufen, zum Backen gleich für ein paar Stunden in der Küche bleiben. Sie war so weit weg, dass alles hätte anbrennen können.
Trotzdem hatte ich das Gefühl, einen Schritt nach vorne gemacht zu haben, ohne dabei zu merken, dass ich langsam ernsthafte Probleme mit meiner Gesundheit bekam. Meine Geschwister wurden eingeschult und lernten sehr schnell die deutsche Sprache. All die Strapazen der letzten Zeit schienen überstanden zu sein. Unser neues Leben hatte begonnen.

Im Anschluss an eine Untersuchung in der ersten Klasse überwies man mich an einen Arzt. Zum Glück war die Praxis nur 15 Schritte vom Wohnheim entfernt. Nach ewigen Untersuchungen wurde starkes Asthma diagnostiziert. In dieser Zeit bekam ich mehr Krankenhäuser zu sehen, als mir lieb war. Immer wenn ich entlassen wurde, gab man mir verschiedene Sprays, die sehr teuer waren. Da es auf beiden Seiten an sprachlichem Wissen mangelte, musste ich jeden Morgen um acht zum Pförtner gehen, wo mir dann eine Mitarbeiterin die Medikamente gab. Das war der erste Mensch, der mir das Gefühl gab etwas Wert zu sein. Überall waren wir nur lästige Ausländer, bei ihr nicht. Ich kenne leider ihren Namen nicht, sonst würde ich mich gern bei ihr für die hingebungsvolle Pflege bedanken. Mittlerweile wusste meine Oma auch, dass es uns gut geht. Es mag vielleicht etwas albern klingen, aber ich bin froh, in dieser Zeit krank gewesen zu sein. So wurde mir erst später klar, welcher Gefahr wir ausgesetzt waren und noch immer sind. Zwei weitere Jahre blieben wir in diesem Wohnheim, bis es geschlossen wurde und wir erneut umzogen. Diesmal in eine fast eigene, traumhafte Wohnung. Es waren zwei Zimmer mit eigenem Bad und Küche. Bei uns wohnte noch eine Frau aus Bosnien, allerdings hatte sie ein eigenes Zimmer und war kaum da. In dieser Zeit sprachen schon alle außer meinen Eltern akzentfrei die deutsche Sprache. Sie waren immer in der Wohnung, denn arbeiten durften sie nicht.

Nach einem Jahr, wie hätte es anders sein können, mussten wir ausziehen, um wieder in einem Wohnheim unterzukommen, diesmal in Mitte. Wir lebten fünf Jahre dort. Ich lag zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus und zog erst später ein. Das Wohnheim war frisch eingerichtet worden und war so etwas wie eine "Sammelanlage" für Ausländer. Wir gehörten dort zu den ersten Mietern. Wie in einem Hotel kam man sich vor, tolle Möbel, keine Küche, trotzdem eine Kochgelegenheit im Wohnzimmer. Seltsam nur, dass es keinen Herd gab, nur eine Mikrowelle. Mittlerweile war es uns gelungen auch den ältesten Bruder und die jüngste Schwester zu uns zu holen. Sie waren beide krank und so konnten wir ihre Einreise bei den Behörden rechtfertigen. Wir lebten jetzt also zu neunt auf 75 Quadratmetern. An Privatsphäre war nicht zu denken. Ich wachte auf aus meinem Traum und sah zum ersten Mal der Realität ins Auge. In dem Krieg, der 1998 begann, kamen alle im Kosovo verbliebenen Familienmitglieder um. Manche werden bis heute vermisst, und man hofft vergebens auf ein Zeichen oder darauf, dass ein Wunder geschieht und sie überlebt haben. Meine Mutter hat am meisten leiden müssen. Sie verlor ihre Mutter, die sie über alles liebte, und macht sich noch immer große Vorwürfe. Sie hätte da sein müssen, sagt sie. Jetzt sind viele Jahre vergangen und es hat sich wenig Gutes ereignet. Meine Eltern haben zu hoch gepokert, haben ihr altes Leben aufgegeben, ihre Familie verlassen. All das, damit es uns gut geht. Es geht uns aber nicht gut. Vierundzwanzig Stunden am Tag besteht die Gefahr einer unbegründeten Abschiebung in den Kosovo. Denn wir werden nur offiziell geduldet, haben keine feste Aufenthaltserlaubnis. Eigentlich sind wir nichts weiter als ein lästiger Fall, der bearbeitet werden muss. Dabei spielt es keine Rolle, ob man intelligent ist, oder ob man über besondere Kenntnisse verfügt. Wir haben hier keine Rechte, müssen jede Kleinigkeit beantragen, damit sie schließlich mit einem freundlichen Lächeln abgelehnt wird.
Rational sieht die Lage so aus: Der Krieg ist offiziell vorbei, wir könnten also zurückgehen. Doch wohin sollen wir gehen? Ich sehe doch, dass es immer wieder Streitigkeiten mit Todesfolgen in beiden Völkern gibt. Reagiert Europa erst, wenn Massengräber gefunden werden? Ist ein Menschenleben wo wenig wert?
Emotional ist die Lage nicht auszuhalten. Egal was irgendein Gesetz festlegt. Ich lebe und liebe hier. Meine eigene Muttersprache habe ich fast verlernt. Die Situation, in der ich lebe, gleicht einer ständigen Bedrohung. Ursprünglich sind wir vor einer Verfolgung geflohen. Daraus wurde eine Art persönlicher Krieg. Aus einem persönlichen Krieg ins Neue zu tappen, das muss man verarbeiten. Es ist so: Alle drei Monate müssen wir zum Landeseinwohneramt, wo über unser Schicksal offiziell entschieden wird. Das ist jedesmal wie die Hölle des Lebens. Diese psychische Anspannung, diese Angst, alles zu verlieren, was man sich aufgebaut hat, das ist für viele unvorstellbar. Ich wünsche niemandem eine so schwierige Situation. Jeder Tag kann der Tag deiner Abschiebung sein. Manchmal wird mir alles zu viel und mir kommt ein schrecklicher Gedanke: Lieber wäre ich im Krieg umgekommen, als 11 Jahre lang hier den Krieg zu erleben, in man mit unserem Aufenthaltsstatus gerät. Ich sehne mich nach einem normalen Leben.
Zurzeit darf ich keine berufliche, schulische oder akademische Ausbildung beginnen, obwohl entsprechende Angebote vorhanden sind. In meiner Schulzeit hatten wir das Pflichtfach "Berufsorientierung". Auf dem Lehrplan standen Bewerbungen Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Das einzige, was ich davon mitgenommen habe, ist das Gefühl, fehl am Platz zu sein, etwa so: Du hast seit Tagen nichts gegessen, jetzt kommst du in einem Raum, wo ein riesengroßer Kuchen steht und alle essen schon. Du hast tierisch Hunger, doch das einzige, was man dir gestattet, ist, einmal daran zu lecken, nicht mehr. Wehe, du nimmst dir mehr...

Ich frage mich immer wieder, warum ich mich gegen den Gedanken einer Rückkehr wehre. Ich wüsste doch dann endlich, wo ich hingehöre. Doch dann fallen mir diejenigen hier in Deutschland ein, denen ich das Durchhalten und Weiterkämpfen schuldig bin. Die Menschen, die an mich glauben, obwohl ich schon lange damit aufgehört habe. Auch meinen Eltern bin ich es schuldig, sie haben sich für mich und meine Geschwister aufgeopfert. Das Hoffen habe ich eigentlich vor Jahren aufgegeben, und trotzdem gibt es da noch etwas: Ich hoffe, dass die Politiker aufwachen und merken, wie sie den geduldeten Ausländern das Leben zur Hölle machen. Ich weiß, ich werd' es nicht mehr miterleben, ich will nur wissen, dass die 11 Jahre nicht ganz verloren waren und dass das, was mir die deutschen Behörden jeden Tag angetan haben, irgendwann bestraft wird. Mit jedem Tag schwindet meine Kraft für eine Sache, für die es so nutzlos ist, weiter zu kämpfen. Ich frage mich, was ich alles mit der sinnlos investierten Kraft hätte machen können.
Heute bin ich 18 Jahre alt und fühle mich wie 100. Zumindest mit einer größeren Wohnung hat es vor kurzem geklappt und gesundheitlich ist seit Jahren alles in Ordnung, na ja, körperlich. Ich kämpfe gegen meine psychosomatischen Beschwerden. Mein Pessimismus ist das Stärkste in mir. Trotzdem will ich mich einsetzen für die Menschenrechte, die mir und meiner Familie verwehrt blieben und vielleicht gelingt mir das, indem ich von meinem Schicksal, einem von Millionen, erzähle.
Mal sehen wie es morgen weitergeht.