simultané / zeitgleich
Fensterchen
Frederik Hartig
Manchmal dringt abends ein Sonnenlicht in mein Zimmer. Wenn ich nicht die Kraft habe, die Gardinen zu zuziehen, bleibt mir nur, mein Gesicht in mein Kopfkissen zu pressen und abzuwarten. Ich liege schon lange im Bett. Wenn es nicht zu hell ist, schaue ich aus meinem Fensterchen. Das Fensterchen liegt genau in Höhe des Platzes. Ich kann die Schuhe derer, die vorbeigehen sehen. Manchmal habe ich die Kraft, mich etwas im Bett aufzurichten. Dann öffne ich das Fensterchen, manchmal, und strecke meine knochige Hand hinaus. Aber schon bald wird ein unachtsamer Passant drauftreten. Ich werde für lange Zeit nicht die Kraft haben, mich aufzurichten. Eines abends gibt es Musik, die kommt von drüben. Ruhige Musik. Mein Herz schlägt ruhig, ich atme ruhig. Ruhig. Ich sehe nicht aus meinem Fensterchen. Eines morgens gibt es Krach, von drüben oder von oben. Mein Herz schlägt laut, ich atme schnell. Schnell. Laut. Krach. Ich sehe nicht aus meinem Fensterchen. Gestern habe ich mein Fernglas genommen und durch das Fensterchen geschaut. Auf der anderen Seite des Platzes hat einer mit dem Fernglas zurückgeschaut. Ich habe gewunken. Er hat gewunken. Es kommt Weinen von drüben. Mein Herz schlägt ruhig. Ich atme schnell. Schnell. Ruhig. Weinen.
Mein Zimmer wird von Tag zu Tag kleiner. Ich brauche nicht viel - nur dass die Decke sich senkt. Mein Fensterchen wird kleiner, jetzt kommt weniger Licht herein. Gut. Decke und Licht. Könnte ich mich aufrichten, wäre es bald höchste Zeit zu gehen. Und mir ein neues Zimmer mit Fensterchen zu suchen. Fensterchen. Heute Nacht zerspringt mein Zimmer, zerspringt mein Fensterchen. Ich schlafe lang, träume nichts. Ich habe nie geträumt: Es ist Nacht und ich sehe die Sterne über mir. Was geschieht, wenn morgen die Sonne aufgeht? Mit großen Schritten gehe ich über den Platz, am Spiegel vorbei. Niemand ist auf dem Platz.
Kein Gardine, wenn die Sonne kommt, kein Kissen. Noch habe ich die Augen geschlossen, noch ist Nacht. Mein Fensterchen ist zersprungen.

23. 02. 2002
Frederik Hartig: über den Autor
Ingrid Gillain (Foto): gridy@web.de