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Unica Zürn: Ein gemarterer Körper
Marie Blancard
Übersetzung: Marion Sanchez
(Vortrag, gehalten am 18.09.04 zur Lesungs-Ausstellungs-Vortrags-Film-Reihe "Mein Körper" in der Blitzgalerie.)

"Da das Chaos ursprünglich ist und im Gefolge der Verwirrung ausbricht, bringen beide Anarchien Vitalitäten hervor, die der Künstler anschließend im Werk kristallisieren kann. Darin liegt sein Talent. Im Ursprung des Rationalen finden wir immer ein diabolisches und anschwellendes Irrationales; an der Quelle des Denkens und der Systeme erleben wir unaufhörlich psychologische Erschütterungen." (1)
Michel Onfray


Unica Zürn kommt 1916 in Berlin zur Welt. Opfer einer eher turbulenten Kindheit, geprägt von einer Vergewaltigung und von der Scheidung ihrer Eltern, sieht sie sich schnell gezwungen, die Schule zu beenden und einen Beruf zu erlernen. Zufällig wird sie Archivarin, Drehbuchautorin an der Ufa-Film.
Zürn heiratet 1942 Erich Laupenmühlen und gibt ihre Arbeit auf. Sprichwörtlich "unter Bombenhagel" gehen zwei Kinder aus dieser Ehe hervor.
1949 kommt es zur Scheidung. Laupenmühlen bindet sich mit seiner Geliebten. Die Kinder werden dem Vater anvertraut. Zürn führt nun ein "Leben als Boheme". Sie verdient ihren Lebensunterhalt mit Erzählungen für eine Zeitung und findet Freunde im Berliner Künstlermilieu.
1953 begegnet sie Hans Bellmer. Für beide ist es Liebe auf den ersten Blick. Sie verlässt Berlin und begleitet ihn nach Paris. Bellmer macht sie mit den Surrealisten bekannt:
"Arp, Breton, Matta, Meret Oppenheim, Ernst, Dorothea Tanning, Marcel Duchamp, Victor Brauner, Man Ray, Patrick Walberg, André Pieyre de Mandiargues, Bona, Leonor Fini, Wilfredo Lam aber auch Henri Michaux" (2).
Als sie 1960 wegen einer Abtreibung nach Berlin reist, erleidet Zürn ihren ersten Schizophrenieanfall. Sie ist 44 Jahre alt. Zahlreiche weitere Aufenthalte in Anstalten werden folgen. Trotz allem bleibt sie sehr produktiv: Während ihrer Internierungen zeichnet sie mit Tusche und malt. In mehreren ihrer Texte, unter anderem Der Mann im Jasmin, inspiriert sich Zürn im Übrigen an ihren Nervenzusammenbrüchen.
Im Zusammenleben mit Bellmer häufen sich die Schwierigkeiten, so dass Zürn nach einem Gewaltausbruch mit Zwang in Maison Blanche eingeliefert wird. Dort kommt sie erst einmal zur Ruhe.
Fast ein Jahr lang wird sie in verschiedenen Anstalten interniert. Am 19. Oktober 1970 dann erhält sie eine fünftägige Ausgangserlaubnis, um ihr Leben neu zu organisieren. Nach einem normal verlebten Tag beendet Zürn ihr Leben, indem sie sich aus dem Fenster stürzt.
Kunst wirkt ausgehend von diesem Schicksal als Vermittler eines unsagbaren Leids. Die Darstellung des Körpers ist hierbei Objekt einer immer wiederkehrenden Befragung. Und der eigene Körper des Künstlers, dessen Einheit permanent durch die Geisteskrankheit gefährdet wird, übernimmt die Rolle einer vereinheitlichenden Kraft, die durch Krisen unaufhörlich zur Erschütterung gelangt.
Dazu kommt, dass Zürns Werk sich auf verschiedene Bereiche erstreckt: Künstlerin und Schriftstellerin zugleich, fertigt sie Tuschezeichnungen an, malt sie und schreibt fiktive Prosa, Poesie und Texte mit autobiographischen Zügen. In all diesen Bereichen ist der Körper präsent. Die Untersuchung der Beziehung eines Künstlers zu seinem Körper erfordert es, diese unterschiedlichen Träger als spezifische Ausdrucksmittel hinzuzuziehen.

Dieser Vortrag baut folglich strukturell auf drei Momenten auf:
Eingangs soll der Zuhörer mit Zürns besonderer Art und Weise vertraut gemacht werden, den Körper darzustellen.
Im Anschluss werden einige ihrer Zeichnungen analysiert, die als Selbstportraits betrachtet werden können.
Schließlich und endlich kommen wir zu ihrem schriftlichen Werk.

Erstes Moment: Die Anspielung auf eine visuelle Gewalt als Darstellungsform des Körpers

Zürn beabsichtigt nicht vordergründig, den Betrachter zu beeindrucken. Bei ihr findet man kein Blutbad sondern einzig eine schnelle Zunahme von Strichen extremer Finesse. Schnell fühlt man sich von ihren spinnwebenartigen Bildern gefangen genommen, und ihr Werk nimmt beunruhigende Züge an.
Krallig und gehörnt, scheinen ihre Figuren sie zu quälen, wodurch im Gegenzug auch unsere Unruhe geweckt wird. Aus ihrer Fantasie oder ihren Wahnvorstellungen hervorgedrungen, nehmen die dargestellten Insekten, Tiere und Menschen eine verwirrende Form an.
Die Finesse einiger ihrer Zeichnungen (3) erinnert an einen Blick ins Mikroskop, an zellenförmige Schnitte, an Ektoplasmen oder auch an ein Universum auf See voller Algen und Wassertiere unvergleichbarer Winzigkeit und Durchsichtigkeit. Diese Monster sind mit Spinnweben, Antennen ausgestattet, durch die sie in manchen Fällen spinnenähnliche Formen annehmen.


Andere Figuren ähneln Reptilen oder Drachen und durchziehen ihr Werk bis zur Entstehung hybrider Menschen. Mehrere Tuschezeichnungen illustrieren diese Vorgehensweise in besonderer Art und Weise. So gelangen wir von einer Art Eidechse mit Glubschaugen zu einem gehörnten und kralligen "Säugetier".




Die letzte Etappe besteht in der Zusammenfassung dieser drei Elemente in einem Gesicht, das sich spaltet. Ihre ausgesprochen graphischen Zeichnungen wurden alle im gleichen Stil angefertigt: Zürn hebt die bedrohlichen Elemente dieser Figuren hervor, indem sie einige Bereiche schwärzt: Krallen, Stacheln oder die Spitzen der Hörner.
Zürns Universum ist vor allem monströs, wobei sich eine bestimmte Gewalt in die Konfrontation mit beunruhigenden Gestalten einschleicht. Die menschlichen Formen sind häufig verzerrt und verschieben die Grenzen eines kanonischen Menschenkörpers.







Eine Zeichnung aus dem Jahre 1956 illustriert diese Problematik. Silhouetten unterschiedlicher Farben werden auf einem gelben Hintergrund abgebildet. Mit Krallen und fühlerartigen Händen ausgestattet, vermischen sich diese menschlichen Wesen, bis sie ein komplexes Agglomerat bilden. Zu dieser Komposition kommen verschiedene Absätze einer imaginären Schrift hinzu, die die mysteriöse Haltung der Gestalten unterstreicht. Einige von ihnen haben Augen, Brüste oder weibliche Geschlechtsteile. Es fällt schwer, den Sinn dieses anonymen Gemenges zu begreifen, das uns eine besondere Sicht auf eine Frauengruppe vermittelt, die offenbar ihrem ungeheuerlichen Anblick nicht entfliehen kann.
Diese Thematik wird in einer weiteren Zeichnung wieder aufgenommen, die den Akzent im noch breiteren Maße auf die Organvermehrung setzt. Mit Arm- und Beinpaaren ausgestattet, weist das dargestellte Kind erschreckende Auswüchse im Bauchbereich auf, die vielleicht als wuchernde Brüste zu verstehen sind.
Ferner wird transparent ein ganzes Gefäßnetz sichtbar, das an jedem Ende in Krallen ausläuft. Vergessen wir auch nicht die Glubschaugen dieses kleinen Wesens, wobei das eine aus der Augenhöhle hervortritt und das andere im Kopf integriert ist. Angesichts dieses monströsen Kleinkinds bringt uns Zürn aus dem Gleichgewicht und geleitet uns in eine Vorstellungswelt, die die menschliche Grausamkeit, die Angst vor dem anderen und erneut die Befragung des weiblichen Wesens berührt.
Ihre Zeichnungen setzen im Allgemeinen Personen in Szene, die bestimmte weibliche Merkmale aufweisen: Weit entfernt von "positiven" Abbildungen, werden diese Attribute wie Missbildungen dargestellt. Die Weiblichkeit wirkt wie ein Handicap, das sich nur schwerlich überwinden lässt. Ohne in eine übertriebene psychologische Interpretation verfallen zu wollen, fällt es nicht schwer ist, hierin einige Identitätsfragen zu erkennen, die sich die Künstlerin stellt.

Zweites Moment: Die Selbstdarstellung oder die plastische Beschwörung

Im bildenden Werk der Zürn ist das Selbstbildnis nie explizit. Ihre Zeichnungen haben keinen Titel, der Betrachter ist meist frei, sie nach Belieben zu interpretieren.

Anzumerken wäre erstens: Es geht um die wiederholte Darstellung von Figuren mit weiblichen Attributen, die bereits die oben beschriebenen Zeichnungen prägen. Einem Werk ohne Titel aus dem Jahre 1956 gebührt eine besondere Aufmerksamkeit: Es handelt sich um eine Zeichnung, auf der eine Vorrichtung zu sehen ist. Eine Rolle ermöglicht es, in Hohlräumen des Blatts unterschiedliche Elemente abzubilden. Die Mitte der Zeichnung wird schwerelos auf einem blauen Hintergrund von einer rosigen weiblichen Gestalt belegt. Diese Figur ähnelt den anderen in vielerlei Hinsicht: Auch hier wieder wuchernde Brüste, Krallen und weibliche Geschlechtsteile.
Die Hohlräume dieser Vorrichtung sind sehr interessant. Der erste geringer Größe ist herzförmig und der zweite stellt den Innenraum des Körpers oder vielmehr des Bauchs dar. Beim Drehen dieser Vorrichtung wird in diesem Fenster ein Fötus sichtbar.
Ohne dass es sich notwendigerweise um ein Selbstportrait handelt, fällt es schwer, die Künstlerin und ihr Werk auseinander zu halten. Zu dieser Zeit scheint sie von der Frauenfrage, hier in ihrer Beziehung zur Mutterschaft, besessen zu sein. Der Einfallsreichtum der Vorrichtung ermöglicht es Zürn, die unterschiedlichen Etappen der Schwangerschaft von der Empfängnis bis zum Abgang des Fötus in Verbindung zu bringen, die in einer Entbindung, einer Fehlgeburt oder einer Abtreibung münden können.
Es wird schnell deutlich, dass die Thematik der Mutterschaft für Zürn problematisch ist. Das monströse Mutterbild auf der Zeichnung erinnert an die Beschreibung, die sie von ihrer eigenen Mutter in dem Buch Der Mann im Jasmin macht.

Une montagne de chair tiède où l'esprit impur de cette femme est enfermé s'abat sur l'enfant. Elle [Unica] s'enfuit, abandonnant à tout jamais, la mère, la femme, l'araignée ! (4)

Da wälzt sich ein Berg von lauem Fleisch, der den unreinen Geist dieser Frau einschließt über das entsetzte Kind, und sie flieht für immer die Mutter, die Frau, die Spinne! (5)

Es handelt sich ferner um ein physiologisches Phänomen, das sie besonders mitgenommen hat: Erinnern wir uns, dass eine ihrer Entbindungen durch die Bombenanschläge auf ihr Haus provoziert wurde. Terrorisiert, entbindet Zürn im wahrsten Sinne des Wortes unter den Bomben. Die Entbindung, oft als schwere Prüfung erlebt, wird in ihrem Fall zu einem wahren Albtraum.
Die weiblichen Monster, die das Werk der Zürn durchziehen, erscheinen wie ein Echo auf schockierende Episoden, die bereits weiter oben angesprochen wurden und zu denen die Vergewaltigung durch ihren Bruder, die Trennung von ihren Kindern und die Abtreibung hinzukommen.


Ein weiteres Motiv im Bereich der selbst darstellenden Interpretation ist von besonderem Interesse: Es handelt sich in diesem Fall um das Haar. Von vorn oder von hinten gesehen, besteht diese schwarze Haarfrisur aus einem Pony oder einem Dutt, die an die unterschiedlichen Fotoportraits der Künstlerin erinnern. Die Besonderheit der Zeichnungen, die das Gesicht darstellen, besteht in der Abbildung einer beunruhigenden Atmosphäre oder monströsen Gestalt, so als würde die Identität der Hauptfigur permanent bedroht oder durch eine scheinbar zerstörerische Kraft in Frage gestellt werden. Zürn sieht so ihre kraftlose Silhouette von einem sie bedrängenden oder beherrschenden Monster begleitet, das mit Hörnern, Spinnweben, Fangarmen ausgestattet ist. Sie sitzt wie in einer Falle.



Im gleichen Sinne weckt eine andere Zeichnungsserie unsere Aufmerksamkeit. Sie setzt sich aus gespaltenen und überlagerten Gesichtern zusammen. 1960 in der psychiatrischen Klinik Wittenau entstanden, prägen diese Zeichnungen Gesichter, die sich nach und nach auflösen. Symptomatisch lassen sich diese Gesichter Figuren in Frauengestalt zuweisen. In der Art des Kubismus erscheinen sie gleichzeitig von vorn und im Profil und stellen im gleichen Zuge mehrere Facetten ein und desselben Wesens dar. Wie sollte man in diesen Darstellungen nicht einen Versuch der Künstlerin sehen, die Krankheit nachzuvollziehen? Vergessen wir in diesem Zusammenhang nicht, dass die Schizophrenie insbesondere eine Persönlichkeitsspaltung ist, und Zürn seit 1960 in sukzessiven Schüben und bis zu ihrem Selbstmord an dieser Geisteskrankheit gelitten hat.
Nach dieser Spaltung vollzieht Zürn in ihren Zeichnungen eine völlige Zersplitterung ihrer Figuren. So gelangt sie zu einer Ansammlung von Gesichtern, die scheinbar nichts mehr gemein haben.









In Der Mann im Jasmin bietet Zürn einen Interpretationsansatz:

Depuis toujours obsédée par les visages, elle [Unica] dessine des visages. Après un premier moment où le plume « nage » en hésitant sur le papier blanc elle découvre la place dévolue au premier œil. Ce n'est que lorsqu'on la regarde du fond du papier qu'elle commence à s'orienter, sans peine, un motif s'ajoute à l'autre. (6)

Seit jeher besessen von Gesichtern, zeichnet sie Gesichter. Nach dem ersten zögernden « Schwimmen » der Feder über dem weißen Papier entdeckt sie den Ort für das erste Auge. Erst wenn « man » sie von dem Papier anblickt, beginnt sie sich zu orientieren, und mühelos fügt sich ein Motiv zum anderen. (7)

Bei dieser Beschreibung des Zeichnens ist die Geburt des Auges mit seinem Eigenleben eine aussagekräftige Metapher für die kreative Handlung: Die Zeichnung wird dem Künstler bei seiner Arbeit zuschauen, und er selbst wird sich nach und nach enthüllen. Aus anderer Sicht finden wir hier ein ergreifendes Zeugnis über die Krankheit der Autorin: Durch den Umsturz der Position der Künstlerin beschreibt sie eine halluzinative Erscheinung.
Weiter unten im selben Text sind weitere Hinweise darauf zu finden:

Ainsi elle dessine la « famille » qu'elle n'a jamais eue et se laisse adopter par elle. Une famille silencieuse, une famille patiente avec un petit sourire tendre aux coins des lèvres et des yeux de chats. (8)

So zeichnet sie die « Familie », die sie nie gehabt hat, und lässt sich von ihr adoptieren. Eine schweigende, eine geduldige Familie mit einem kleinen, zärtlichen Lächeln in den Mundwinkeln und den Augen von Katzen. (9)

Zürn entscheidet sich mit diesem Auszug, die Wahrnehmung ihres Werks komplexer zu machen: Dabei entsteht der Eindruck, dass sie die verrückte Vision beiseite lässt, um ihren Zeichnungen eine figurative Interpretation zu geben. Die "kleinen, zärtlichen Lächeln in den Mundwinkeln und den Augen von Katzen" übernehmen die Funktion des Auges: Die Gesichter beleben sich unter dem Blick der Künstlerin.
Sollte man also in diesen Zeichnungen nach den verrückten Visionen, nach der imaginären Darstellung ihrer phantasierten Familie und nach einer Spaltung ihres Ichs suchen? Diese Frage kann nur offen stehen bleiben.


Drittes Moment: Die Umsetzung in der Schrift: der Körper zwischen Selbstzeugnis und Kreation

Zur bildenden Kunst kommen Textwerke Zürns hinzu, die stark autobiographische Züge aufweisen.
Die erste lange Erzählung Der Mann im Jasmin, Untertitel Eindrücke aus einer Geisteskrankheit, lässt uns im Zuge der Anfälle der Autorin in unterschiedliche psychiatrische Welten eintauchen. In der dritten Person Singular und in einer Sprache verfasst, die einer klinischen Beschreibung nahe kommt, ist dieser Text ein ergreifender Augenzeugenbericht. Zürn versucht, uns das progressive Auftreten der Schizophrenie, die bis zur Internierung führt, nachleben zu lassen:

La chambre est calme et sombre - elle attend - elle sait que d'autres choses vont encore arriver. Elle est dans un état extraordinaire - tout devient possible. Voilà ! Une ravissante petite machine à coudre plane dans l'air à un mètre au-dessus de sa tête. (10)

Dieses Zimmer ist ruhig und dunkel - sie wartet - sie weiß - es wird noch mehr geschehen. Ihr Zustand ist ungewöhnlich - alles wird möglich! Da ! Eine kleine, reizende Nähmaschine schwebt einen Meter über ihrem Kopf in der Luft. (11)

Die Autorin versucht auch, mit uns die Augenblicke des Bruchs zu teilen, in denen die Realität sich erneut aufdrängt.

Le grand charme qu'elle trouvait à son extraordinaire état et dont elle a tiré plus de plaisir que d'aucun autre s'effrite lentement. Elle se sent dégrisée. Elle tombe brutalement et définitivement du magnifique sommet où elle s'était sentie si bien. (12)

Langsam zerbricht der große Reiz ihres außergewöhnlichen Zustandes, den sie sehr genossen hat wie kaum etwas anderes. Sie fühlt sich ernüchtert. Sie stürzt aus der schönen Höhe, in der sie sich so wohl gefühlt hat, auf eine brutale und endgültige Weise hinab. (13)

Im Verlauf dieser Krisen wird der Körper unaufhörlich beansprucht: Er lässt die halluzinativen Wahrnehmungen zu und sieht sich schutzlos depressiven Momenten ausgesetzt. So hinterlässt die Krankheit, obwohl mental, unauslöschliche Spuren im Körper.
Die psychiatrische Internierung, die als eine direkte Folge des abweichenden Verhaltens betrachtet wird, ist auch eine Bedrohung für den Körper: Das Gefangensein ist Synonym für die Beraubung des Ichs, und die starken Medikamente verursachen innere Veränderungen, die nicht folgenlos bleiben:

A plusieurs reprises, on change de médicament - finalement on lui en donne un qui fait des ravages sur elle : le corps est frappé de paralysie et les muscles se crispent. Comme quelqu'un qui va se noyer elle cherche autour d'elle un point auquel se raccrocher. (14)

Mehrere Male wechselt man ihre Medikamente - schließlich gibt man ihr eines, dessen Wirkung verheerend ist: sie wird starr, die Muskeln verkrampfen sich. Wie Jemand, der im Begriff ist zu ertrinken, sucht sie einen Punkt im Raum, um sich daran festzuklammern. (15)

Neben der Beschreibung und der Erzählung über unterschiedliche Anfälle entscheidet sich Zürn auch für poetische Texte: Anagramme. Variation ein- und desselben Satzes, der Buchstabe für Buchstabe zerrissen und neu zusammengefügt wird, bildet diese poetische Form sowohl einen kreativen Träger als auch ein Echo auf das persönliche Leben der Künstlerin.
Bestimmte Texte, zeitgleich mit Der Mann im Jasmin entstanden, sind paradoxerweise wahrhaft lyrische Enthüllungen: Das so stark verdrängte "Ich" findet endlich eine Instanz, um auszubrechen:

Meine Kindheit ist das Glück meines Lebens

Hinten - die kleine Stimme des Augenblicks. Es
ist meine beste Kugel im Sinken. Das Endliche
hinkt leise um die gelben Ecken. Das ist's - mein
Ende... liege im Stein, stinke im Buckel - hassend
meines Lebens Glück, das meine Kindheit ist.

Ermenonville 1959

Mon enfance est le bonheur de ma vie

Au fond - la petite voix de l'instant
C'est ma meilleure balle m'enfonçant
Le fini tourne doucement les coins jaunis en boitant.
C'est cela - ma fin… gisant dans la pierre, répandant une mauvaise odeur
Dans mon dos - laissant le bonheur de ma vie qu'est mon enfance.
 (16)

Das Leben der Autorin und ihre Besorgnisse werden zur Quelle der Inspiration. Die Kindheit, auf die im Der Mann im Jasmin in Form eines unweigerlich verlorenen Paradieses immer wieder angespielt wird, ist hier der Ausgangspunkt des Gedichts. Mit ihr stellt sich die Frage der Zeit. Schritt für Schritt verwüstet sie den Körper. Das unweigerliche Ende ist der Tod, der in seiner quälenden Grausamkeit erscheint.
Andere Anagramme wie "Meine Jugend ist das Unglück meines Lebens" und "Der Tod ist die Sehnsucht meines Lebens" widmen sich derselben Thematik:

Meine Jugend ist das Unglück meines Lebens

Stimme jedes Unglück singend, seine blauen
Djungelaugen - einen Blick des stummen Eises -
das ist meine Unglückjugend, meines Lebens
Mumiensessel. Jedes Unglück nagt dein Bein.
Jedes Glück ist eben Dumm-Sein. Lange uneins,
jedes Leimstück ungebunden, niemals eins.

Ermenonville 1959

Ma jeunesse est le malheur de ma vie

Voix chantant tout malheur ses yeux bleus de Jungle -
Un regard de glace muette - cela est ma jeunesse de malheur,
le siège de momie pour ma vie.
Tout malheur ronge ta jambe
Tout malheur n'est que - être bête.
Longtemps la désunion, chaque morceau da colle sans liaison,
jamais d'union.
 (17)



Der Tod ist die Sehnsucht meines Lebens

Ich seh', es eilen bitt'ren Mund's s des Todes
Stun den herbei. Es ist leicht - des Mondes
Stoss hebt dich in Sterne.
Leidensmüde stoß' mich Hund bitte in des Endes Leere.
Dort ist es, den ich Blinde sehen müsste.

Ermenonville 1959
La mort est le désir passionné de ma vie

Je vois approcher hâtivement, la bouche amère, les heures de la mort.
C'est facile - l'heurt de la lune te soulève vers les étoiles.
Fatiguée de la souffrance, pousse-moi, je te prie, Chien dans le vide du fini.
C'est là que je devrai voir, moi l'aveugle.


Statt sich hinter der dritten Person, einem "sie", zu verstecken, lässt die Autorin die Maske fallen. Die Gedichte werden so Ausdruck der intimen Verzweiflung, die reich an körperlichen Metaphern ist, wie "Mumiensessel" oder "nagt dein Bein". Verwesung und Fäulnis, die bereits im vorhergehenden Anagramm zu finden sind, werden in einem anderen Bezugssystem nochmals aufgenommen. Man findet in der transparenten Formulierung "Lange uneins, jedes Leimstück ungebunden, niemals eins" einen Verweis auf die Krankheit. Mit ihr kommen auch die Depression und ihre morbiden Anfälle als zentrales Thema des zweiten Gedichts.

Wie Hans Bellmer sagt "Der Körper lässt sich mit einem Satz vergleichen, der uns auffordern würde, ihn zu zerreißen, damit er sich über eine Serie endloser und inhaltsloser Anagramme wieder finden kann.(18) Über die Anagramme stellt sich die Frage nach der Dekonstruktion des Seins und nach der Metamorphose, von der gesprochen wurde. Wie Bellmers Die Puppe, phantasievolle und unverknüpfte Interpretation eines weiblichen Körpers, sind die Anngramme für Zürn ein wunderbares Ausdrucksmittel. Mit dieser ausgesprochen rigorosen Form wird ihr eine Welt der Permutation zugänglich: Die Sprache wird zu einem Körper, der sich modellieren lässt.

- HINTER DIESER REINEN STIRNE
- Derrière ce front pur

[...]

Hinter dieser reinen Stirne
Redet ein Herr, reist ein Sinn,
irrt ein Stern in seine Herde,
rennt sein seid'ner Stier. Hier
der Reiter Hintersinn, seine
Nester hinter Indien - Irr-See -
Irr-Sinn, heiter sein - Ente der
Drei Tinten-Herrn - reisen sie
- ein Hindernis! Retter seiner
Dinten-Herrn - ist es eine Irre?
 (19)


Derrière ce front pur
Un monsieur parle, une idée voyage,
Une étoile s'égare dans son troupeau,
Un taureau de soie s'élance.
Voici le cavalier Réticence,
Ses nids sont derrières les Indes.
Mer en folie - Folle idée.
Serein - Le canard des trois seigneurs de l'encre.
Ils voyagent - des traverses ! -
Sauveteur des seigneurs de l'Encre -
Est-ce une folle ?
 (20)


Ausgehend von einem gespielt unschuldigen Satz "Hinter dieser reinen Stirne" schreibt Zürn ein Gedicht, das ihre eigene Subjektivität deutlich macht. Der im anfänglichen Satz insbesondere mit dem Begriff "Stirn" vorhandene Körper ist Verursacher aller folgenden Permutationen. Die Metaphern reihen sich aneinander und münden in der Befragung der Vorstellungskraft aber auch in der Schöpfung im Allgemeinen. Man stellt fest, dass Zürn ausgehend von einer rigorosen Form Ideen aneinanderreiht, die an die Funktionsweise der automatischen Schrift erinnern. Die Schlusskadenz des Gedichts mit der Frage "Ist es eine Irre?" zeugt von einer abschließenden Verwirrung: Die Autorin befragt ihren Zustand. Ist Schöpfung in ihrem Fall nicht die Erkundung einer besonderen Vorstellungskraft in Form von Halluzinationen verbunden mit dem Wahnsinn?

*
* *


Für Zürn ist die Schöpfung folglich Synonym von Metamorphose. Sie bietet uns eine besondere Interpretation der Welt an, in der der Körper wie auch die Zunge sich hinter ihren Grenzen verschanzen, um letztendlich völlig gelöst zu sein. Somit folgen alle Versuche der Wiedervereinigung ergebnislos: Unica, die Einzige, versucht in Der Mann im Jasmin ein einheitliches Bild ihrer selbst zu entwerfen, um es sofort in Stücke zu reißen, wie sie es auch in einigen Zeichnungen und in ihren Anagrammen tut.
Dem Surrealismus verbunden, beteiligt sich Zürn wie ihr Lebensgefährte Bellmer an einer Bewegung, der zufolge Kraft heißt "zu seinen Prämissen gemacht zu haben, dass die Kunst wie auch die Revolution eine Gewalt, ein Kidnapping und auch eine schmerzliche Metamorphose des Körpers ist". (21)



Zitate und Anmerkungen

(1)
M. Onfray, Le désir d'être un volcan, Journal hédoniste, Paris, Grasset, 1996, Le Livre de Poche, Collection Biblio essais, S.328

(2)
Georgiana Colvile, "Unica Zürn" in Scandaleusement d'elles, 34 femmes surréalistes, Paris, Place, 1979, S.302

(3)
Bei den Zeichnungen xxvi und xxxix handelt es sich um zwei Farbillustrationen.

(4)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, traduit de l'allemand par Ruth Henry et Robert Valançay, préface d'André Pieyre de Mandiargues, 1970 pour la version allemande, Paris, Gallimard, 1971, réed. Collection L'Imaginaire, 1999, p.16

(5)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin (Ullstein, 1977) / Dunkler Frühling (Merlin,1969), mit einem Nachwort von Ruth Henry und einem Essay von Jean-François Rabain, Frankfurt / M, Berlin, Ullstein Taschenbuch, Die Frau in der Literatur, 1987, S.9

(6)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., S.153, die schräg gedruckten Textstellen stammen von der Autorin.

(7)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin, op. cit., S.93-94

(8)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., S.153

(9)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin, op. cit., S.94

(10)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., S.35, die schräg gedruckten Textstellen stammen von der Autorin.

(11)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin, op. cit., S.20

(12)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., S.70

(13)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin, op. cit., S.41

(14)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., p.150

(15)
U. Zürn, Der Mann im Jasmin, op. cit., p.92

(16)
U. Zürn, « Meine Kindheit ist das Glück meines Lebens », in Approche d'Unica Zürn, Supplément au cahier 49, Paris, Le Nouveau Commerce, 1981.

(17)
U. Zürn, « Meine Jugend ist das Unglück meines Lebens », in Approche d'Unica Zürn, Ibid.

(18)
H. Bellmer, zitiert von Jean-François Rabain, "Les anagrammes d'Unica Zürn", in La Femme surréaliste, Herausgeberdatum, S.262

(19)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., p.32, und Der Mann im Jasmin, op. cit., S.19

(20)
U. Zürn, L'Homme-Jasmin: impressions d'une malade mentale, op. cit., S.32

(21)
X. Gauthier, Surréalisme et sexualité, Préface de J.B. Pontalis, Paris, Gallimard, Collection Idées, 1971,


Marie Blancard: über die Autorin