das gefrorene meer, jahrgang 2008
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Das letzte Hindernis

Dierk Knechtel
Keiner der Söhne war bei ihm, als der Vater starb. Wie es vor sich ging, wussten sie aus den Erzählungen der Mutter. Er starb auf die Art, wie er gelebt hatte: ohne viel Aufhebens.
Er war zweiundneunzig, und es war Zeit. Fast nichts mehr war von ihm übrig. Der Tod hatte Jahre vorher begonnen, irgendwann zwischen dem fünfundachtzigsten und neunzigsten Jahr. Es war eine lang anhaltende Reduktion gewesen.
Erst konnte er bestimmte Aktivitäten nicht mehr ausüben, Schlittschuhlaufen, Autofahren, Radfahren. Sein Körper wurde kleiner, die Schritte kürzer. Aber noch war er der, der er immer gewesen war. Erst, als die Erinnerungen ausblieben, verschwand allmählich auch sein Wesen. Zu sagen, es veränderte sich, trifft es nicht ganz; es nahm einfach ab.
Zu sterben, indem man klaglos und geduldig Stück um Stück von sich gibt, jeden Tag ein wenig mehr hinübergeht, das kann nur, wer sich in allem bescheidet. So war er. Er haderte nicht, trauerte nicht, ging einfach Seite an Seite mit dem Tod.
Was an diesem Nachmittag geschah, war nicht der Tod, sondern die Einstellung der Körperfunktionen als letzter Akt dieser großen Reduktion. Wie man noch die Finger aus dem Spalt zieht, bevor eine Tür sich schließt.
Er suchte sich einen Zeitpunkt aus, an dem seine Frau bei ihm war. Er hatte einmal gestanden, er fürchte sich davor, allein zu sterben. Seit Wochen lag er in dieser neuen, gut geführten Seniorenresidenz, wo sie alles Menschenmögliche für ihn taten, obwohl er schwierig wurde, wenn sie ihn anfassten. Seine Frau kam mittags und blieb vier, fünf Stunden, während er die meiste Zeit schlief.
An diesem Tag verweigerte er die paar Schlucke Tee, die er sonst immer von ihr angenommen hatte.
Wahrscheinlich wäre er schon Tage früher gestorben, hätte ihn nicht sein alter Husten gehindert. Der Husten war die einzige Krankheit, die er zum Schluss hatte. Alles in ihm wollte gehen, aber der Husten riss ihn immer wieder empor.
Seine Frau gab ihm die Kügelchen, die schon einige Male geholfen hatten. Sie versuchte alles bis zuletzt. Nach wenigen Minuten hörte der Husten auf, und sie konnte sehen, wie Ruhe über ihn kam. Sie las weiter in dem Buch von Kübler-Ross.
Irgendwann war ihr, als würde er nicht mehr atmen, und sie sagte: "Du musst atmen, du musst atmen!"
Darauf schien er zu reagieren, er öffnete den Mund und rang seufzend nach Luft. Dann senkte sich seine Brust, und die Luft ging wieder hinaus, zum letzten Mal. Er wollte nicht weiteratmen, und seine Frau ließ es gut sein. Sie hielt seinen Kopf und schwieg. Mehrere Minuten hielt sie ihn so, dann ging sie aus dem Zimmer und sagte dem Personal Bescheid. Dann erst kamen die Tränen.
Obwohl es ein glücklicher Tod war, trauerte sie viele Monate. Ihren Söhnen erzählte sie die Geschichte in allen Einzelheiten, doch die Sache mit den Kügelchen verschwieg sie. Es dauerte zwei Jahre, bis sie darüber sprechen konnte. Es kam aus ihr wie ein Geständnis. Hatte sie doch die ganze Zeit Angst gehabt, die Söhne würden ihr Vorwürfe machen.




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