das gefrorene meer, jahrgang 2007
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Großmutter ist tot
Magdalena Jagelke
Großmutter ist tot
das Dorf verließ ich und das Land
alle: nahm Großmutters Schürzen mit
Großmutters Schürzen, das Muster: Früchte
niemand trägt Bananen auf Röcken
ich trage schwarz, Trauerkleider
schützende Kleider
verschwinden kann ich ohne zu reisen
Vaters Hosen Vaters Krawatten
blaue passen zu seinen Anzügen
wann ist mein Vater wieder zu sprechen?
er steht auf dem Podium
ich strecke den Hals
Großmutter ist tot
gestolpert ist Vater
wo ist Mutter?
Vater hat einen Schnitt in der Zunge
er redet nicht er hackt Holz
ein Publikum hört und es klatscht
aber Vater hält keine Reden
im Kino klatscht man wenn der Film gut ist
man hustet niest man tritt die Sitze
ich lache wenn Popcorn die Leinwand trifft
Großmutter ist tot
das Lachen ist unecht
ich ziehe meine Mundwinkel hoch
weil ich nicht mehr lachen kann
senke ich beim Gehen den Kopf
diese Stadt hat viel Müll
Apfelschalen Scherben Schuhe
Hunde in den Zugabteilen
Hunde bellen wenn ich reise
Großmutter ist tot
ich will nicht reden
ich will nicht hier mit Ihnen reden
Sie haben´s schwer ich weiß ich weiß
ich glaube ich habe Sie einmal gesehen
Sie hatten eine Mütze auf
Sie bestellten einen Kaffee
und Käsekuchen oder nicht?
mögen Sie kalten Käsekuchen?
schlafen Sie manchmal auch sehr schlecht?
haben Sie Durchfall oder Fußkrämpfe?
spüren Sie Ihr Herz schlagen?
es ist laut finden Sie auch?
ich will nicht reden ich setze mich weg
ich ziehe um ich wohne allein
in der Wohnung ein großes Bett
ein Schrank ein Stuhl und eine Kochplatte
Großmutter ist tot
ich esse Gemüse
wie Gemüse in Großmutters Suppe
Großmutters Wirsing Großmutters Bohnen
sie sind irgendwo wo sind die Rezepte?
wo die Wolle? ich muss stricken
ich muss stricken wie meine Großmutter
ich muss sticken nähen putzen
ich muss die Ecken sauber kratzen
Großmutter ist tot
ich kaufe ihr Blumen
die Blumen liegen auf dem Tisch
wenn sie kommen sie nehmen würde
wüsste ich: sie war hier
Großmutter ist tot
sie hatte einen geraden Körper
ihre Schultern meine sind anders
seltsame Glieder:
die Beine Rücken derer im Schwimmbad
mein eckiges Becken die langen Finger
ich fürchte mich
vor Körpern vor Menschen
obwohl sie hinter Gardinen leben
Gardinen aus Spitze
in Häusern mit Gärten
auf den Dächern im Winter Schnee
darunter bringen sie sich um
Großmutter ist tot
im Haus wohnt niemand
in Großmutters Haus hat niemand zu wohnen
es ist so ruhig sagen die Nachbarn
sie halten Großmutters Grabstein sauber
neben ihr ist Platz für mich
meine Erde ich kaufe sie mir
wir könnten in einer Reihe liegen
Großmutter Großvater
ich muss warten -
bin ich schon krank?
ich habe den Arzt angerufen
alles in Ordnung hat er gesagt
ich male mir die Nase rot
die rote Nase einer Närrin
weil alle zu mir nie freundlich sind
will ich sie nicht als Freunde haben
mein Zimmer hat lange blickdichte Vorhänge
nie höre ich etwas: es gibt keine Nachbarn
aber sie wohnen über mir
ihre Kinder weinen nicht
Großmutter ist tot
ich stehe vor dem großen Spiegel
ich will dass meine Augen lachen
ich denke an etwas wirklich lustiges
ich lache und lache
die Augen verschwinden
ich sehe nichts mehr ich falle hin
wenn die Augen richtig lachen
verschwinden sie unter den Lidern
und die Tränen wenn ich lache
daran merkt man: es ist echt
ich weine nicht oft ich bin nicht echt
ich mache diese mechanischen Schritte
wenn jemand schreit habe ich Angst
wenn jemand fragt warm oder kalt?
sage ich kalt und nehme es nicht
ich will mich nicht festlegen
ich suche
ich stelle Einkaufspläne auf:
Montag: Käse
Mittwoch: Brot
Freitag: Tomaten
Sonntag: nichts
Großmutter ist tot
ich esse ich kotze
in der Pause wasche ich mich
an Werktagen mache ich alles falsch
Fehler werden zuerst entdeckt
ich sage lieber:
ich schlief nicht gut
außerdem habe ich Schmerzen im Zahn
ich bin von einem Stuhl gefallen
und nicht:
Großmutter ist tot
sie wusch ihr Gesicht mit Wasser und Seife
sie schnitt ihre Nägel cremte die Hände
sie sagte zu mir geh gerade
senk nicht den Kopf guck auf beim Gehen!
Großmutter ist tot
ich senke den Blick
ich halte mir die Ohren zu
ich schließe die Tür
ich gucke die Uhr
geht wieder falsch
Großmutter ist tot
wir lachten damals mit echten Augen
Vaters Augen sind wie meine
unsere Augen gehören Großmutter
wir haben das gemeinsam
Großmutter ist tot
die Augenfarben von Freunden Bekannten
habe ich mir nicht notiert
zu Feiertagen kommen Postkarten
Alles Gute! ich rufe mal an
im Kino zufällig heißt es: nicht mehr
ich kann nicht mehr! und keine Zeit
oder - du wolltest mich nicht lieben
dafür gibt es diesen Grund:
Großmutter ist tot
hier war ich mal mit ihr:
in den Löchern zwischen Tannen
oben das Blau unten Gras
und ich lege mich hinein
ich schließe die Augen
erinnere mich:
ich muss den Wecker reparieren
und das Bild zurechtrücken
das große Bild über dem Tisch
Großmutter ist tot
sie liegt auch hier
hier im Gras
ich taste es ab ich suche sie
es fällt ein Blatt es fällt auf mich
andere fallen so bedeckt
höre ich was passiert
nachts: der Wald kein leiser Riese
es schnüffeln die Tiere und sie keuchen
Großmutter ist tot
ich warte auf sie
ich rege mich nicht
am Kopf kleben meine Haare
ich bin durstig ich habe Hunger
ich warte hier ich warte auf Großmutter
ich warte, warte aber sie kommt nicht
Großmutter ist tot
ich liege und warte
ich warte - sie spricht nicht
ich bin wütend ich frage: Warum
ich gehe zurück in die Stadt
ich fülle einen Antrag aus
in meinem Zimmer spiele ich Squash
ich trinke Wasser mit Spiritus
ich höre Musik dann klingelt es
die Klospülung dort die des Hausmeisters
ist eigentlich lauter als das Radio
die Polizisten lachen plötzlich
ich biete ihnen Bier an
sie nehmen´s mit unter den Jacken
Großmutter ist tot
es ist wahr: das, was hier
heute passiert
heute: es regnet ununterbrochen
trotzdem sehe ich nicht Fern
es gab keine Fernseher im Dorf damals
keine Geschäfte mit Barbies und Lego
nur Felder Teiche Beeren im Wald
es fällt mir leicht nicht Fern zu sehen
es fällt mir leicht hinaus zu schreien
es geht nicht: im Zimmer kann ich nicht lesen
Großmutter ist tot
Großmutter ist tot
ich darf´s nicht vergessen
Großmutter ist tot
a – ha! der Mond
hier kann ich den Mond betrachten
lieber kein Schnaps
bitte kein Schnaps
und könnten Sie dieses Lied für mich spielen?
jemand lehnt an meinem Rücken
fragt: wer ruft mir jetzt ein Taxi?
der Mond und Tulpen
ein Mann geht herum
verkauft Tulpen
ein Euro sagt er und gibt mir eine
Großmutter ist tot
wir hatten keine Blumen in Töpfen
sie wuchsen draußen
wir rochen sie
der Hund - er schlief nicht mit im Zimmer
er hatte im Hof seine Hütte
die Kühe mochten nicht den Stall
sie bockten zerrten an den Ketten
sie bissen sich Löcher in die Ohren
Großmutter ist tot
Großmutter flocht mit Blumen Kränze
Mohn trug ich schon nach dem Aufwachen
Mohn in den Haaren Mohn auf dem Rock
ich frage die Menschen in den Zügen
jeder hat eine Lieblingsblume






Magdalena Jagelke: über die Autorin
Robert Quentin: über den Fotografen