(in Erinnerung an Franz Kafka)
Ein Wanderer kam den gewundenen Weg herauf. Leichtfüßig setzte er Schritt vor Schritt. Seine
Schuhe riefen ein regelmäßiges Geräusch auf den silbernen Metallplatten hervor. Er war frohen
Mutes. Hinter ihm lag das Helle und vor ihm erstreckte sich das Dunkle.
Am Scheitel angelangt hielt er inne und betrachtete mit Staunen Den über dem Abgrund. "Ich
grüße dich." Der über dem Abgrund sah ihn an und antwortete dann: "Ich grüße dich auch." Der
Wanderer trat etwas näher heran. "Ich komme von weit her. Darf ich eine Weile bei dir ruhen?"
"Sicher", antwortete Der über dem Abgrund. Der Wanderer setzte sich auf die Platte direkt
gegenüber Dem über dem Abgrund seitlich des Weges. Erst jetzt bemerkte er die Geräusche, die
von tief unten zu ihm heraufdrangen. Er vermochte sie nicht genau zu bestimmen, da sie aus
weiter Ferne zu kommen schienen. Der Wanderer neigte sich etwas nach vorne. Die obersten
Metallplatten der Tiefe waren noch sichtbar, doch darunter war nur Schwärze. Er sah wieder zu
Dem über dem Abgrund auf. "Verweilst du schon lange hier?" "Ja, sehr lange", antwortete Der
über dem Abgrund. "Doch heute ist ein besonderer Tag, denn bald werde ich nicht mehr hier
sein." Der Wanderer betrachtete Den über dem Abgrund genauer. Lange, zerzauste Haare
rahmten sein weiches Gesicht. Der Rest seines Körpers wurde von mächtigen Greifarmen aus
Stahl umspannt, die ihn über der Tiefe hielten. Ein dünner Schlauch, dessen Anfang nicht
auszumachen war, führte in seinen Hinterkopf. Tief liegende Augen betrachteten den Wanderer
mit ruhendem Blick. Dann sagte der Wanderer: "Wie meinst du das?" Der über dem Abgrund
antwortete: "Ach, weißt du, viele Wanderer habe ich hier vorbeigehen sehen. Einige rasteten
eine Weile, so wie du, andere nicht. Ich bin müde. Und heute werde ich gehen." Der Wanderer
dachte nach. "Wie bist du hierher gelangt?" Der über dem Abgrund blickte ihn unbewegt an.
Aus der Tiefe drang ein lautes Geräusch nach oben. Es klang wie Donnergrollen. Dann erstarb
es wieder. Der Wanderer glaubte auch, ein dunkles Rauschen wahrzunehmen, aber sicher war er
sich nicht. "Vor langer Zeit kam ich, wie du, aus dem Tal herauf zu diesem Ort, aber aus der
entgegengesetzten Richtung, dem Dunklen. Ich war froher Dinge, aber als ich passieren wollte,
hieß mich ein Wächter stehen zu bleiben. Er fragte mich nach meinem Ziel und als ich
antwortete, ich wolle ins Helle, beschied er mir, dass das nicht möglich sei. Ich fragte ihn nach
dem Grund, doch er versperrte mir nur schweigend den Weg. Viele Tage und Wochen harrte ich
so aus, und nach und nach kamen mir Zweifel, ob ich denn überhaupt ins Helle wollte. Als
einige Monate vergangen waren, begann ich, mich an diesem Ort zu Hause zu fühlen. So blieb
ich hier. Nachdem eine weitere Weile vergangen war, ließ mich der Wächter wissen, er müsse
nun gehen. Doch um mir den Zutritt in das Helle zu verwehren, müsse er sicherstellen, dass ich
hier bliebe. So befestigte er mich über der Tiefe und so bin ich noch heute hier."
In der Tiefe waren die Geräusche lauter geworden während Der über dem Abgrund erzählt
hatte. Dann geriet einer der Greifarme in Bewegung und löste sich von ihm. Der Wanderer
erhob sich und betrachtete Den über dem Abgrund: Unterhalb des Halses war er von einem
durchsichtigen Kunststoffbehälter umfangen, der nun nur noch von dem anderen Arm gehalten
wurde. Der untere Teil des Behälters war beschädigt. Die linke Körperhälfte war bis unter die
Hüfte – abgerissen. Zwischen langen, abgebrochenen Plastikscherben machte der Wanderer
Kleidungsfetzen, lange Hautstreifen und Reste alten Fleisches aus. Der Wanderer betrachtete
das Gesicht von Dem über dem Abgrund. Seine Augen waren jetzt geschlossen, so als schliefe
er. Der Schlauch hatte sich von seinem Hinterkopf gelöst und hing neben dem entriegelten
Greifarm. Die Geräusche aus der Tiefe wurden jetzt immer lauter und verdichteten sich schnell
zu einem Tosen. Dann erschütterte eine stetig stärker werdende Vibration den verbliebenen
Arm. Der Wanderer wich etwas zurück. Der Arm glitt zur Seite und Der über dem Abgrund
stürzte in die Tiefe. Unvermittelt erstarben die Geräusche. Die beiden Greifarme schwenkten
leicht. Der Wanderer trat bis zum Rand der Tiefe vor. Es war vollkommen still.
Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort, ins Dunkle. Leichtfüßig setzte er Schritt vor Schritt.
Seine Schuhe riefen ein regelmäßiges Geräusch auf den schwarzen Metallplatten hervor. Er war
frohen Mutes.
Dazwischen
Helge Bewernitz
Helge Bewernitz
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