das gefrorene meer, jahrgang 2007
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Dazwischen
Helge Bewernitz
(in Erinnerung an Franz Kafka)

Ein Wanderer kam den gewundenen Weg herauf. Leichtfüßig setzte er Schritt vor Schritt. Seine Schuhe riefen ein regelmäßiges Geräusch auf den silbernen Metallplatten hervor. Er war frohen Mutes. Hinter ihm lag das Helle und vor ihm erstreckte sich das Dunkle.
Am Scheitel angelangt hielt er inne und betrachtete mit Staunen Den über dem Abgrund. "Ich grüße dich." Der über dem Abgrund sah ihn an und antwortete dann: "Ich grüße dich auch." Der Wanderer trat etwas näher heran. "Ich komme von weit her. Darf ich eine Weile bei dir ruhen?" "Sicher", antwortete Der über dem Abgrund. Der Wanderer setzte sich auf die Platte direkt gegenüber Dem über dem Abgrund seitlich des Weges. Erst jetzt bemerkte er die Geräusche, die von tief unten zu ihm heraufdrangen. Er vermochte sie nicht genau zu bestimmen, da sie aus weiter Ferne zu kommen schienen. Der Wanderer neigte sich etwas nach vorne. Die obersten Metallplatten der Tiefe waren noch sichtbar, doch darunter war nur Schwärze. Er sah wieder zu Dem über dem Abgrund auf. "Verweilst du schon lange hier?" "Ja, sehr lange", antwortete Der über dem Abgrund. "Doch heute ist ein besonderer Tag, denn bald werde ich nicht mehr hier sein." Der Wanderer betrachtete Den über dem Abgrund genauer. Lange, zerzauste Haare rahmten sein weiches Gesicht. Der Rest seines Körpers wurde von mächtigen Greifarmen aus Stahl umspannt, die ihn über der Tiefe hielten. Ein dünner Schlauch, dessen Anfang nicht auszumachen war, führte in seinen Hinterkopf. Tief liegende Augen betrachteten den Wanderer mit ruhendem Blick. Dann sagte der Wanderer: "Wie meinst du das?" Der über dem Abgrund antwortete: "Ach, weißt du, viele Wanderer habe ich hier vorbeigehen sehen. Einige rasteten eine Weile, so wie du, andere nicht. Ich bin müde. Und heute werde ich gehen." Der Wanderer dachte nach. "Wie bist du hierher gelangt?" Der über dem Abgrund blickte ihn unbewegt an. Aus der Tiefe drang ein lautes Geräusch nach oben. Es klang wie Donnergrollen. Dann erstarb es wieder. DazwischenDer Wanderer glaubte auch, ein dunkles Rauschen wahrzunehmen, aber sicher war er sich nicht. "Vor langer Zeit kam ich, wie du, aus dem Tal herauf zu diesem Ort, aber aus der entgegengesetzten Richtung, dem Dunklen. Ich war froher Dinge, aber als ich passieren wollte, hieß mich ein Wächter stehen zu bleiben. Er fragte mich nach meinem Ziel und als ich antwortete, ich wolle ins Helle, beschied er mir, dass das nicht möglich sei. Ich fragte ihn nach dem Grund, doch er versperrte mir nur schweigend den Weg. Viele Tage und Wochen harrte ich so aus, und nach und nach kamen mir Zweifel, ob ich denn überhaupt ins Helle wollte. Als einige Monate vergangen waren, begann ich, mich an diesem Ort zu Hause zu fühlen. So blieb ich hier. Nachdem eine weitere Weile vergangen war, ließ mich der Wächter wissen, er müsse nun gehen. Doch um mir den Zutritt in das Helle zu verwehren, müsse er sicherstellen, dass ich hier bliebe. So befestigte er mich über der Tiefe und so bin ich noch heute hier."
In der Tiefe waren die Geräusche lauter geworden während Der über dem Abgrund erzählt hatte. Dann geriet einer der Greifarme in Bewegung und löste sich von ihm. Der Wanderer erhob sich und betrachtete Den über dem Abgrund: Unterhalb des Halses war er von einem durchsichtigen Kunststoffbehälter umfangen, der nun nur noch von dem anderen Arm gehalten wurde. Der untere Teil des Behälters war beschädigt. Die linke Körperhälfte war bis unter die Hüfte – abgerissen. Zwischen langen, abgebrochenen Plastikscherben machte der Wanderer Kleidungsfetzen, lange Hautstreifen und Reste alten Fleisches aus. Der Wanderer betrachtete das Gesicht von Dem über dem Abgrund. Seine Augen waren jetzt geschlossen, so als schliefe er. Der Schlauch hatte sich von seinem Hinterkopf gelöst und hing neben dem entriegelten Greifarm. Die Geräusche aus der Tiefe wurden jetzt immer lauter und verdichteten sich schnell zu einem Tosen. Dann erschütterte eine stetig stärker werdende Vibration den verbliebenen Arm. Der Wanderer wich etwas zurück. Der Arm glitt zur Seite und Der über dem Abgrund stürzte in die Tiefe. Unvermittelt erstarben die Geräusche. Die beiden Greifarme schwenkten leicht. Der Wanderer trat bis zum Rand der Tiefe vor. Es war vollkommen still.
Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort, ins Dunkle. Leichtfüßig setzte er Schritt vor Schritt. Seine Schuhe riefen ein regelmäßiges Geräusch auf den schwarzen Metallplatten hervor. Er war frohen Mutes.
Helge Bewernitz: über den Autor
Annette Quentin-Stoll: über die Künstlerin