das gefrorene meer, jahrgang 2007
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Das tote Kind
Anja Kristin Anmut
"Haben Sie je Ihr Kind beim Spielen beobachtet? Ich meine, richtig beobachtet. Nicht bloß hektisch mit den Augen abgetastet: alles okay? Wahrscheinlich haben Sie das nicht. Aber das ist so. Beobachtung setzt voraus, dass der Blick ein höheres Ziel kennt. Solange ein Kind aber lebt, sind wir ausschließlich damit beschäftigt, es zu erziehen. Nein. Ja. Vielleicht morgen. Wenn du mal groß bist ... und wenn es nicht groß wird, weil es tot ist, dann tut uns unsere Hektik furchtbar leid. Erst tut sie uns leid, und dann tun wir uns leid. Uns fallen die Anderen ein: Eltern, Bekannte, Nachbarn, Medien ... die Gesellschaft. Dieser permanente Druck, das Abhandenkommen des schlichten Gefühls, das komplizierte Abwägen jeden Schrittes für das Kind. Alles muss berücksichtigt werden, nicht zu soft und nicht zu hart, ein bisschen Waldorf, aber auch pragmatisch, realistisch wie kreativ, laut wie leise, selbstbewusst wie bescheiden sollen unsere Kinder werden. Wie sollte man da sein Kind beobachten, und einfach froh sein? Das haben die Anderen doch nie erlaubt, sagt man sich trotzig, hinterher, wenn das Kind tot ist. Es ist schwer, ein Kind zu haben, es zu lieben und trotzdem drauf zu scheißen, was die Anderen sagen, finden Sie nicht? Und dann wenn es tot ist, haben wir nur diese imaginäre Zettelbox, in der wir die wichtigsten Begrifflichkeiten gesammelt haben, die unser Kind hat oder haben soll. Dort finden wir: adrett (JA), sportlich (JA), mutig (JA), zurückhaltend (NEIN), hochbegabt (WEISS NICHT, JA), hübsch (JA), charmant (NEIN), beliebt (YO!), sozial veranlagt (NEIN). Im hintersten Winkel haben wir die Eigenschaften versammelt, die es nicht haben soll und trotzdem hat: trotzig, kindisch, frech, egozentrisch, kennt Schimpfworte, guckt zu viel fern. Und im doppelten Boden der imaginären Kiste, erst dort dann, haben wir so eine Liebhaberliste versteckt, ganz persönlich, von Eltern zu Kind: Mag es, an der Nasenspitze gerieben zu werden. Hasst Unterhosen. Will später mal fünf Kinder und drei Männer ("eina zum Küssen, eina zum Kochen, eina als Kindamädchen"). Der Kommentar meines Mannes, in die Ecke gekritzelt, lautet: "Das hat sie von dir. Nur, dass in Deutschland ein Mann für alles zuständig sein muss." Wir haben ganz gut harmoniert, als Familie. Aber meinen Sie, daran kann ich mich erinnern?
Das tote Kind Ich erinnere mich, dass ich ihr immer auf die Pfoten gehauen habe, wenn sie auf den Esstisch gelangt hat. Ich war ganz froh, wenn sie abends endlich schlief und Ruhe war. Ich habe viel zu oft Nein gesagt, und daran gedacht, dass ich ihr das nicht erlauben darf, weil sie sonst zu verwöhnt wird und auch nicht schlau genug, und dass sie dann schlechte Chancen später hat. Wenn sie sich morgens zu langsam anzog und minutenlang ins Leere starrte, stand ich mit schwingender Zunge hinter ihr und habe sie angetrieben. Philosophen kriegen keinen Job.
Nun ist mein Kind tot. Mein Büro hat mir gekündigt, weil ich begann, über den Sinn dieser Tätigkeit nachzudenken. So verbringe ich den halben Tag auf dem Spielplatz und beobachte fremde Kinder. Indem ich sie beobachte, diese puren Existenzen, deren frischen Atem und glockenhelles Lachen ich an schlechten Tagen kaum ertrage, versuche ich, mich an das zu erinnern, was ich vielleicht nie von ihr wusste. Kinderstimmen, Kindertoben, Kinderkreischen, Kinderlachen und Kinderweinen. Dazwischen suche ich sie, irgendwo ist sie, ich weiß es.
Hören Sie es?
Fangen Sie bloß rechtzeitig an, ihr Kind zu beobachten.

Seit Ritas Tod sind fast fünf Monate vergangen, aber ich verstehe diese Zeit nicht. Ich fühle nicht: Fünf Monate sind vergangen. Ich befinde mich in einer langen Dämmerung, die einsetzte, als Rita in einem übertrieben kleinen Holzsarg mit Glockenfries in der Mitte in die Erde gelassen wurde und die schaufelgroße Portion deutscher Erde auf den Deckel fiel. Es gab kein Echo, denn darunter war ihr Leib. Ist es kitschig, wenn ich sage, dass ich am liebsten hinterher gesprungen wäre? Im Grunde befinde ich mich seit diesem dumpfen Aufprall in der Bemühung, es nicht zu tun. Es ist ein ironischer Gedanke, der mich davon abhält, aber: Ich will Ritas Erbe weitertragen.
Dafür jedoch muss ich mich an sie erinnern.

Alles, was mir immer und immer wieder einfällt, ist, wie sie starb. Meine Erinnerung an sie kennt nur noch die Irreversibilität einzelner Momente, die zu ihrem Tod führten. Etwas geschah, was doch niemals geschehen sollte, entschieden in einzelnen Momenten.
Der erste Moment: Ich gebe Ritas Drängeln nach, ganz allein den Schulweg mit dem Fahrrad zu fahren. Zur Probe. Ihre Einschulung sollte erst drei Monate später stattfinden, aber Rita war, wie gesagt, mutig (JA). Ein gutes Attribut, und ich selbst bin ja auch mutig. War es zumindest. Also gab ich nach, geschickt, wie ich meinte, indem ich ihr den Fahrradhelm aufzwang. Nur, wenn du den Helm trägst, darfst du fahren. Sonst komme ich mit ... Sie willigte ein, da es für Rita mit ihren fünf Jahren peinlicher gewesen wäre, ihre Mutter neben sich herlaufen zu haben. Ja, so eine Art Mut war das bei ihr. Mein Mann, der viel vorsichtiger ist, als wir beide es zusammen gewesen sind, machte sich immer Sorgen. Er nannte ihren Mut "fatalistisch" und grummelte: "Das wird sie eines Tages noch ins Grab bringen". Ihr Tod hat uns, wie Sie sich denken können, auseinander gebracht. Wenn wir beide wieder soweit sind, weiterreichende Entscheidungen zu treffen, wird es wohl eine Scheidung geben.
Ich versprach Rita also, sie alleine fahren zu lassen, und sie versprach mir dafür, diese vierhundert Meter mit Fahrradhelm zu fahren. Allerdings hat sie es mir nicht mit einem Handschlag bestätigt. Nicht mit Handschlag, warum hast du das nicht bemerkt? Diese Frage stelle ich mir. Ich frage nicht: Gott, warum hast du uns das angetan? Gott, warum ausgerechnet sie? Das finde ich albern, wer soll das sein, Gott? Was soll mir das helfen? Tatsache ist doch, dass ich es versäumt habe, sie zu beobachten. Jetzt weiß ich, dass sie eben das testen wollte: wie sehr ich sie be(ob)achte. Antwort: Gar nicht, zu wenig, zu lax. Also, ich selbst bin die Ursache. Immer gewesen, werde sie immer sein.
Ritas Handschlag war ihr Garant für Ehrlichkeit. Wenn sie mir keinen Handschlag gab, was ja, schlimm genug, des Öfteren vorkam, war das ein Test: Merkt es Mama, dann lüge ich nicht. Merkt sie es nicht, dann darf ich lügen, dann hat es mir der liebe Gott erlaubt, zu lügen. Sie glaubte an den lieben Gott. Hoffentlich gibt es ihn doch. Wenigstens für sie.
Aber so: Ich Schlimmste aller lebenden Mütter habe versagt. Ich habe mich ablenken lassen von einem ihrer Tricks – sie war clever, wissen Sie –, denn just als wir den Kompromiss schlossen, schlug sie wütend auf ihren Arm, und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Es hätte sie was gestochen. Das wäre, in einem Nachhinein ohne tödliches Ende, betrachtet, frech (JA) gewesen.
So fuhr Rita ohne Helm. Ein nicht gewesener Stich und die überflüssige Sorge der Mutter um den nicht gewesenen Stich führten sie direkt in den Tod.

Der zweite Moment: Ich sehe ihr nach, sehe, dass sie ihren Helm nicht trägt. Träge bin ich gewesen, furchtbar träge. Dachte, dieses Schlawinchen! ... Na, wird schon gut gehen. In zehn Minuten ist sie ja wieder da. Wissen Sie, ich konnte sie verstehen. Das war das Problem. Ich habe diese juckenden, quetschenden, schweren, hässlichen Helme so sehr gehasst, dass ich mich – mit dem Hinweis auf meine erwachsenere Übersicht der Dinge – weigerte, einen zu tragen. Kein Wunder, werden Sie sagen, dass Rita dann auch rebellierte. Ja, es ist leicht, mir Schuld aufzuladen. Tun Sie es! Ich nehme alle auf mich. Überhaupt ist es wichtig, dass ich Schuld habe. Sonst gäbe es für mich keinen Grund mehr, weiterzuleben. Dass mein Leben weitergeht, ist die Buße für meine Schuld. Ich habe lebenslänglich bekommen. Aber, wegen meiner Helmpflichtverweigerung, da denke ich ..., ich glaube zu wissen, dass Rita den Unterschied verstanden hat. Sie musste ja auch früher ins Bett (als Kind), konnte sich nicht alles kaufen (als Kind) und durfte nicht alleine bei Dunkelheit aus dem Haus gehen (als Kind). So verständig war sie. Einer der wenigen Erziehungsfehler, die ich nicht begangen habe, war, mich wieder zum Kind zu machen, bloß, weil ich auch eins habe. Es muss doch erstrebenswert sein, erwachsen zu werden, finden Sie nicht? -- Aber vielleicht haben Sie Recht. Ein Fahrradhelm ist kein Naturgesetz wie die Schlafenszeit. Geben Sie mir die Schuld. Ja, seien Sie wütend auf mich. Bloß kein Mitleid mehr. Ich kotze vor Mitleid.

Der dritte Moment: Ich stehe in der Küche, tue so, als ob ich den Tisch abwische und warte auf Rita. Obwohl sie in den drei Minuten, die sie weg war, unmöglich schon wieder zurückgekommen sein konnte. Das ungute Gefühl, das ich hatte, bewertete ich nicht weiter. Ich war etwas sauer auf Rita, weil sie mich ausgetrickst hatte, und machte mir die üblichen Sorgen eines Elternteils. Ich hätte mir diese Sorgen vermutlich auch gemacht, wenn Sie mit Fahrradhelm losgefahren wäre. Eine Vorsehung war das nicht, dafür hatte ich nie eine Begabung. Das Autoquietschen kam deshalb umso überraschender, es war nichts, womit ich gerechnet hatte.
Der Schulweg, müssen Sie wissen, ging entlang der kleinen Straße, in der wir wohnen. Rita musste nur einmal über eine Kreuzung, die etwas mehr Autos fasste als unser Weg. Aber an jeder Straße gab es mindestens ein Schild, das um Rücksicht auf Kinder bat. Und da diese Kreuzung meist nur Eltern befuhren, galt sie als ganz ungefährlich. An diesem Tag jedoch, an dem Rita ihren Mut testen wollte, frech gewesen war und ich unaufmerksam, fuhr einer dieser Frischführerscheinhalter über die Kreuzung. Er hatte eben noch zu seinem Mitfahrer einen Witz über die Schilder gemacht, wie er hinterher, noch im Schock, selbst erklärte: Kuck ma, wollte er gesagt haben, olle Piepmätze haben Vorfahrt. Wolln mal sehen, ob wir einen erwischen. Komisch, das er das erzählt hat. Er wirkte nicht so wie einer, der freiwillig Schuld auf sich nehme. Aber, ein totes Kind verändert viel.
Er hat also einen Piepmatz erwischt. Meinen. Volle Breitseite, wie es der junge Fahrer, Andi hieß er, glaube ich, es vielleicht ausgedrückt hätte. Rita flog seitlich vom Fahrrad und knallte mit dem Kopf zuerst auf den Asphalt.
Am Montag beginnt der Prozess gegen den "Todesfahrer", wie ihn eine Zeitung am nächsten Tag betitelte. Aber Rache, verglichen mit der Tatsache eines toten Kindes, ist die lächerliche Regung eines überreizten Nervensystems. Sollen sie ihn freisprechen.

Der vierte Moment: Ich verstehe, dass das Autoquietschen zu Rita, und damit auch zu mir gehört, und renne los. Ohne Schuhe und mit einem Schmerz der Ahnung im Bauch, der mich seither nicht mehr losgelassen hat. Ich weiß nicht, ob eine Ahnung oder die Tatsache schlimmer ist. Eine Ahnung ist spirituell, unwägbar, dehnbar und in ihrer radikalen Ungewissheit fast tödlich. Eine Tatsache ist unabänderlich. Man kann mit ihr umgehen lernen, aber man kann sie nicht verbiegen. Auch das kann tödlich sein.
Sie war nicht gleich tot. Ihre Augen, die mich fiebrig glänzend und gierig ansehen und dann erlöschen. Keine Chance ohne Helm, erklärte mir ein Arzt später. Eine Tatsache, die nicht weniger wahr wurde, indem er sie wiederholte.
Wie geht es Ihnen jetzt? Sie fühlen sich gerade nicht besonders wohl, so wie Sie unruhig hin und her rutschen. Es ist Ihnen nicht ganz Recht, dass ich tatsächlich angefangen habe, zu reden. Sie hätten mich lieber schweigend gehabt. So, dass Sie hinterher sagen können: Ich habe es versucht, und meine Gegenwart hat ihr sicher geholfen. Oft ist das Mitgefühl eines Fremden hilfreicher als das Salbadern von Freunden. Tja, die Arme ... Und nun, ziehe ich Sie in den Sog. Und weil Sie nett sind, gut erzogen, eine Moral haben und auch ein Kind, bleiben Sie sitzen."

"Ich habe auch ein Kind verloren. Guten Tag."
"-Ah----Aha?"
"Darf ich Ihnen davon erzählen?"
"-------- mhm."
"Ich fange jeden Morgen so an: Wohin fällt man, wenn das eigene Kind tot ist? Für mich gibt es kein Vorher mehr. Ich liege auf einem schlammigen Grund und betrachte durch ein trübes Wasser meine Umwelt. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich mein Kind erst gesehen, als es schon nummeriert war, ein Zettelchen am Fuß. Es lag auf der Bahre mit einem weißen Laken, welches kleiner zugeschnitten war. Darunter lag sie, Fünfjahresiebenmonateundachtzehntage alt. Und vierzehn Stunden, dreiundzwanzig Minuten, siebzehn Sekunden. So viel Zeit hatte sie. So viel Zeit hatte ich sie. Und erst als sie schon drei Stunden, sechsundzwanzig Minuten und vierunddreißig Sekunden nicht mehr lebte, habe ich sie wiedergesehen. Drei Stunden also. Sie hatte sich mit einem Kuss von mir verabschiedet hat, ja, ganz so wie es sein soll, mit einem Kuss. Morgens, als ich sie am Kindergarten absetzte. Ich weiß noch, dass ich ein wehmütiges Stechen in mir spürte. Ähnlich dieses kurzen, harten Stoßes, wie man ihn vielleicht noch von früher erinnert, bei Abschieden am Bahnhof. Es ist etwas ganz anderes bei einem Kind, und dennoch ist es ein ähnlicher Schmerz. Es gab Tage, da wollte ich sie nicht gehen lassen, für immer festhalten. Auf solch einer Basis muss ich ihren Tod verkraften.
Das tote Kind Als ich also dachte, dass es nun anfängt, der Schmerz des Loslassens vom eigenen Kind, und das jetzt schon, wo sie doch erst fünf Jahre alt war, da war ich noch ein Mensch. Ein Mensch, der sich für einen Moment selbst bemitleidete, weil schließlich das Größerwerden des eigenen Kindes das untrügliche Zeichen für das eigene Altern ist. Ein Mensch, der sich dann zurechtwies, weil doch das eigene Altern angesichts des Größerwerdens des Kindes zurückstehen muss. So ein Mensch war ich, bevor sie starb. Bei allem Möglichen, was sie tat, dachte ich, hoffentlich passiert nichts. Und dann ist es doch passiert. Und ich war nicht da. Erst drei Stunden zu spät.
Als meine Frau mich anrief, und eigentlich gar nichts sagte, nur dass sie nicht mehr leben wolle, da wusste ich gleich, dass sie endgültig nicht aufgepasst hat. Meine Frau ist selbstbezogen, sie hat nicht genug Platz für andere in ihrem Kopf, auch Kinder fallen durchs Raster. Gleichzeitig ist sie unfähig, Kritik anzunehmen, es ist eine Art Trotz, der sehr anstrengend ist. Aber dennoch habe ich sie bis zu diesem Tag geliebt. Nun hasse ich sie.
Der Moment der Veräußerung des Körpers ist das Ende des Lebens im Leben. Es war totenstill, als ich durch den Raum der Gerichtsmedizin schritt. Ich meine das nicht sarkastisch. Die Stille eines Raumes, in dem nur Tote, ein Arzt und ein Wesen befinden, das sich veräußert, ist unendlich. Der Gerichtsmediziner blickte mich an, dieser dickliche Mann, dessen absurd blaue Turnschuhe in der blitzblanken Weißheit des Saales hervorstachen. Meine Schuhe wiederum krachten viel zu laut auf das Linoleum. Ein Geräusch, dessen besondere Grausamkeit darin lag, dass an dessen Ende nichts mehr sein würde. Da capo, was hätte ich für ein immerwährendes Da Capo gegeben. Als ich schritt, begriff ich, dass ich lieber wie ein Sisyphos mein Leben lang diese Meter gehen würde ohne vorwärtszukommen, als am Ende anzukommen. Aber es ging nicht, klack, klack, klack, tot, tot, tot, tot, tot. Und kurz bevor ich angelangt bin, habe ich mich selbst ausgetauscht. Es ging nicht anders, ich habe meine Seele neben meine Tochter gelegt, ich habe meine Augen ausgetauscht, und habe die Augen dieses Gerichtsmediziners angenommen. Der ist zwar auch immer ein wenig traurig, aber er hat schon lange ein riesiges Schloss vor sein Herz gemacht, damit die verwesenden Dämpfe nicht eindringen können.
So sehe ich mich fallen und fallen. Aber ich selbst bin ein nüchterner Gerichtsmediziner, der seine Seele verloren hat, sein Kind und seine Frau. Die Arbeit muss getan werden.
ABER MANCHMAL ZERREISST ES MICH ..."

"Was soll ich sagen: mein tiefes Beileid. Ja. Ist es nicht seltsam, wem man wann bisweilen begegnet? Sie erinnern mich an jemanden, aber ich kann nicht sagen, an wen."
"Sehen Sie. Es geht mir ähnlich. Wer weiß, vielleicht sind wir uns in einem anderen Leben schon einmal begegnet – alles verschwimmt, finden Sie nicht?"
"Oh ja! Oh ja."

"Was ist damals mit Ihrer Frau passiert?"
"Na ja. Sie ist damals gleich hinterher, wenn Sie diesen Ausdruck verzeihen. Auch sie trug dieses Zettelchen am Fuß, am Ende. Sie war nicht mehr zu retten. Erst wurde sie verrückt, ich gebe zu, nicht ohne meine Schuld. Den ganzen Tag stellte ich mir vor, wie einfach alles gewesen wäre, wäre ich zu Hause gewesen. Rita, hätte ich gesagt, gib’ mir die Hand. Versprich mir in die Hand, dass du den Helm aufziehst. – Wie, es hat dich etwas gestochen? Oh je, aber bitte, gib mir zuerst die Hand. So einfach wäre es gewesen. Tot wäre sie auf alle Fälle nicht. Sie sehen, ich bin noch immer wütend, dabei ist meine Frau längst tot. Es dauerte nicht lange, verstehen Sie? Erst ist meine Frau verrückt geworden, grau, faltig und sich selbst bezichtigend. Dann hat sie sich die Schere in den Kopf gerammt, verstehen Sie? Und ich habe zugesehen. Vielleicht habe ich sogar nachgeholfen. Vielleicht hat sie sich sogar gewehrt. Ich weiß es nicht genau. Auf alle Fälle war ich nicht ehrwürdig in diesem Moment. Geh, du Weib, dachte ich wohl. Erst als sie weg war, erkannte ich, dass damit auch der letzte Teil meiner Tochter gegangen war. Das erst machte mich traurig."
"Irre Geschichte."
"So irre wie Eltern sind, die ihre Kinder verlieren."
*****
"Im Grunde weiß ich gar nicht, wie Trauer geht. Meine Tochter ist weg, sie kommt nicht wieder und alles erscheint mir sinnlos. Wo, zwischen diesen Regungen befindet sich die Trauer?"
"Gedenken Sie Ihrer Tochter. Zünden Sie eine Kerze an. Seien Sie friedvoll."
"Bin ich Gott? Ich bin nicht friedvoll. Ich hasse mich. ICH HASSE MICH."
"Jetzt beruhigen Sie sich doch."
"Nein, nein, nein. Es macht mich meschugge, es gibt keinen Ausweg. In einer Sekunde noch die träge Glücksseligkeit der Normalität, im nächsten gibt es nichts mehr. Nie wieder."
"Stimmt."
*****
"Kommen Sie. Ich will weg von hier. Kommen Sie!"
"Ich darf noch anfügen, dass ich mittlerweile Gerichtsmediziner bin. Zettel an Füße klebend. Urologe, das erschien mir nicht mehr passend."
"Sie sind wirklich irre."
"Gläubig. Das bin ich, in gewissem Sinne."
*****
"Jetzt rennen Sie doch nicht so schnell. Die Beerdigung. Werde ich nie vergessen. Wie heulende Balkanhuren stand die ganze weibliche Besatzung der Straße Spalier und war doch nur froh, dass es nicht ihr Kind war, das in diesem Sarg lag. Meine Frau, in einer anderen Welt verschwunden. Schwankend ging sie neben mir. Wir haben uns nicht angesehen. Außer mir hat niemand dem Pfarrer zugehört. Jedes persönliche Leid, und mag es noch so schlimm sein, entbinde nicht von der Pflicht, anständig weiterzuleben. Wie wahr, wie wahr."
"Wie ich diese salbungsvollen Sprüche hasse."
"Lassen Sie mich wenigstens ausreden? Diese Worte zu hören, hätte der Trauergemeinde, namentlich meiner Frau, sicher nicht geschadet. Um mich jedoch nur Weinen und Selbstmitleid. Dazwischen ich, aufmerksam. Ich hatte mir vorgenommen, an diesem Ehrentag für meine Tochter, bevor alle Welt sie vergäße, wach zu sein, alle Gedanken nur ihr zu widmen. Ohne mir dabei leid zu tun. Das war nicht einfach, aber am Ende des Tages war ich, glaube ich, der Einzige, der ihr tatsächlich anständig auf Wiedersehen gesagt hat. Wohin gehen wir überhaupt?"
"Zu mir nach Hause."
"Und was machen wir dort?"
"Das sehen Sie dann schon. Hihi."
"Wie bitte?"
"Das war ein Wortwitz. Sie werden noch verstehen."
*****
"Ah, hier ist der Friedhof. Warten Sie ..., sehen Sie, hier liegt Rita begraben."
"Um Himmels willen. Das ist ja gruselig. Meine Rita auch. Sie hat ein Windrädchen und ein Glockenspiel."
"Meine Rita hat auch ein Windrädchen. Ein Glockenspiel, das ist eine gute Idee. Etwas Leichtes, schwermütig im Wind klimpernd. Kommen Sie, das kaufen wir. Da, dort ist der Laden. Schnell, schnell."
"Rita – Rita. So häufig ist der Name nicht."
*****
"Sie sehen plötzlich so jung aus. Sind Ihnen Haare nachgewachsen?"
"Ja."
"Was es nicht gibt. Aber jetzt kommen Sie. Schnell. Wir müssen zu mir nach Hause. Ehe mein Mann kommt."
"Wollen Sie mich etwa verführen?"
"Ich bitte Sie. Ich will, dass Sie mich blenden."
"Aber das tue ich doch."
"Nein. Nicht so. Was reden Sie denn? Denken Sie an Ihr totes Kind. Das dürfen Sie nie vergessen."
"Wie man’s macht ..."
"Als nächstes kommt der Spruch mit den Frauen, oder?"
"Dafür, dass wir uns nicht kennen, kennen wir uns verdammt gut, nicht?"
*****
"So. Nun sind wir zu Hause. Blenden Sie mich."
"WAS soll ich?"
"Hier, die Schere. Sie haben doch Erfahrung damit. Die Geschichte von Ihrer Frau, die sich blenden wollte, das hat mir gefallen. Ich finde, das ist die richtige Art. Ich habe nicht genau genug beobachtet. Jetzt muss ich büßen."
"Ja."
"Also, worauf warten Sie noch."
"Nein."
*****
Das tote Kind "Hören Sie. Ich weiß genau, was das soll. Jetzt sehen Sie aus wie mein Mann, da Sie wieder jung sind. Du bist mein Mann, nicht wahr?"
"Ja."
"Du hast gesagt, ich habe mich gewehrt. Also, du musst anfangen."
"Ich habe gelogen. Du hast dich gar nicht gewehrt."
"Heißt das, du hast mich ... du hast einfach zugestoßen? Kühl und überlegen?"
"Kühl und überlegen."
"Was soll das?"
"Ich kann nicht."
"Wie, du kannst nicht? Du musst. Es ist dein Schicksal."
"Nein. Ich kann nicht."
"Spinnst du? Vor einer halben Stunde saß ein fünfzigjähriger Mann neben mir auf der Bank, hieß Edgar und erzählte mir von seiner toten Tochter und seiner toten Frau. Das warst du!"
"Nein."
"Sondern?"
"Ein Anderer."
*****
"Was ist das?"
"Die Türklingel."
"Wer ist das? Sieh nach."
"Die Polizei."
*****
"Guten Tag. Mein Name ist Kritzinsky, Wachtmeister. Ich habe Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen."
"Was denn?"
"Darf ich reinkommen?"
"Ja – Edgar?"
"Wer ist Edgar?"
"Mein Mann."
"Aber Ihr Mann ist hier. Wie heißen Sie?"
"Moritz. Ruth, was ist mit dir? Weißt du es schon?"
"Was weiß ich schon? Und wer sind Sie?"
"Entschuldigen Sie, Herr Wachtmeister. Ich verstehe selbst nicht, was hier läuft. Vielleicht hat es ihr schon jemand gesagt."
"Meinen Sie?"
"Moritz, du hast Blut an deinen Händen?"
"Ja. Erkennst du mich jetzt wieder?"
"Nein. – Und du trägst eine Baseballkappe in deinen Händen. Was soll das?"
"Ja. Ruth es – ich kann nicht. Herr Wachtmeister, bitte sagen Sie es."
"Was weinst du denn, Moritz? Herr Polizist, bitte?"
"Ihr Sohn, Florian, er ist einem tragischen Unfall ... er ist leider tot. Es tut mir leid."
"Mein Sohn?"
"RUTH! Du bist mit mir verheiratet, wir haben einen Sohn, Florian, das heißt, wir hatten – hatten einen Sohn."
"Das kann nicht sein."
"Ja. Das kann nicht sein. Aber es ist so."
*****
"Herr Edgar. Wo sind Sie?"
*****
"NEIN!"
"Es tut mir leid. Es ist nichts mehr zu machen. Ihr Kind ist tot. Ein schrecklicher Unfall."
"Oh Gott, LISA..."
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"Was? Ist schon wieder mein Kind tot?"
******
"Und wieder?"
"Wie bitte? Mein tiefstes Mitleid und Bedauern, Frau Engel, aber ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen..."
"Dieses Mal – Anika."
*****
"Fünf Jahre. Alle sind fünf Jahr alt. Alle sterben, und ich bin nach der neuesten Mode gekleidet. Was soll das?"
"Das, Liebes, ist die Strafe. Vom Himmel geschickt."
"Ich will da raus. Das ist ja furchtbar."
"Dann töte dich."
"Wie? Nun doch?"
"Ja. Nun kannst du es tun, nicht wahr? Du kannst es. Du kannst es."
"Hilfe, nein. Lass das. Edgar!"
*****
"EDGAR!"
Ruth fährt im Bett hoch, nass geschwitzt. Ihr Gesicht ist schrecklich verzogen. Es dauert ein Weilchen, bis sie erkennt, dass sie noch lebt. Als die Mutter der verstorbenen Rita. Die Tränen sind da nicht mehr weit. Als sie trostsuchend zu ihrem Mann hinüberblickt, sieht sie, dass Edgars Betthälfte leer ist. Ein Blick auf den Wecker zeigt, dass er wohl kaum noch auf ist. Es ist drei Uhr sechsundzwanzig und vierunddreißig Sekunden. Moment mal, denkt Ruth. Diese Uhrzeit, diese Zeit. Ist sie mir nicht in meinem Traum schon begegnet? Drei, sechsundzwanzig, vierunddreißig ... ach ja: So lange war Rita in ihrem Traum tot, als ihr Vater sie in der Gerichtsmedizin fand. Oder? Der Traum verschwimmt schon wieder. Da entdeckt Ruth, dass Edgar ihr etwas hinterlassen hat. Ein Stapel Papier, obenauf liegt eine Schere. "Haben Sie je Ihr Kind beim Spielen beobachtet?", lautet der erste Satz der Geschichte. Ruth, fünf Monate nach dem Tod ihrer Tochter Rita immer noch unendlich traurig, liest die Geschichte ihres Mannes sorgfältig, und trifft dann gleich beim ersten Mal.

Als man Edgar die Nachricht am nächsten Tag überbringt, findet man ihn auf einer Bank am Spielplatz. Die Nacht war sehr kalt gewesen.
Anja Kristin Anmut: über die Autorin
Robert Quentin: über den Künstler