das gefrorene meer, jahrgang 2001
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Vom "Kampf um Wahrheit" zum "Kampf um Wirklichkeit"
Robert Seyfert

"Denn die Wirklichkeit ist jeder Geschichte, jeder Fabel, jeder Göttlichkeit, jeder Surrealität erschreckend überlegen." Antonin Artaud

Es ist meine These, dass wir heutzutage den selben Kampf um den Begriff der Wirklichkeit führen, der früher um den der Wahrheit geschlagen wurde. Der transzendente Wahrheitsbegriff ist ins Reich des Irrationalen, Religiösen und Mythischen (und damit Unsagbaren, resp. Undiskutierbaren) verbannt, bzw. er wurde einfach mit der realen Tatsache, mit der Wirklichkeit gleichgesetzt. Das kommt entweder einem Bannspruch oder einer Trivialisierung gleich. - Danach trat an die Stelle von Wahrheit das, was wir heute unter Wirklichkeit verstehen; eine Wirklichkeit, die durch ihre Teilung in verschiedene Sphären einen Streit um die "wirkliche Wirklichkeit" hervorrief und in immer neuer Weise hervorruft. Man bedient sich dabei einer bekannten Methode: Die "andere" Wirklichkeit wird zur "Schein-" oder "Traumwelt", im schlimmsten Fall zur "virtuellen Existenz" erklärt.

Was die Schriftsteller schreiben
Ist ja nichts gegen die Wirklichkeit
Jaja sie schreiben ja dass alles fürchterlich ist
Dass alles verdorben und verkommen ist
Dass alles katastrophal ist
Und dass alles ausweglos ist
Aber alles das sie schreiben
Ist nichts gegen die Wirklichkeit
Die Wirklichkeit ist so schlimm
Dass sie nicht beschrieben werden kann
Noch kein Schriftsteller hat die Wirklichkeit so beschrieben
Wie sie ist
Das ist das Fürchterliche

(Bernhard: Heldenplatz)

 

Als das Wirkliche nie das Wahre war!

In der kritischen Tradition ist der Verweis, dass das Wirklich nie das Wahre ist noch die Feststellung schlechthin: "Das, was ist, kann nicht wahr sein."(1) Hier wird das Leben auf einen transzendenten Grund gestellt, indem die Wirklichkeit nur eine Projektionsfläche (und noch dazu eine schlechte) des Dahinterliegenden, Wahren ist. Als die Väter dieses Gedanken finden wir wohl nach wie vor die antiken Philosophen, allen voran Platon, dessen Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit man im Höhlengleichnis(2) nachlesen kann. Dieser Auffassung stellte man langezeit Aristoteles' gegenüber: Die konkreten Einzeldinge sind Wesen, sie sind ‚wahr'. Allerdings ist das eine sehr schiefe Sichtweise auf die aristotelische Philosophie. Obwohl sie nicht der Komplexität seines Entwurfes entspricht, möchte ich, sozusagen als Gegenpart, diese (wenn auch verzerrte) Darstellung nutzen Demnach "bezeichnet "Sein" oder "ist", daß etwas wahr sei, …"(3) Nun ist diese Trivialisierung der aristotelischen Ontologie recht geeignet um darzustellen, welche Möglichkeiten in Bezug auf das Verhältnis Wirklichkeit - Wahrheit zu wählen sind: Einerseits Platons Höhlenmensch, lebend im Unwahren, in einer Scheinwelt die es mit Anstrengung zu überwinden gilt (bei Platon übrigens nicht ohne Hilfe, da der Mensch dort ja von einer äußeren Gewalt herausgezerrt und zum sehen gezwungen wird), und andererseits die nüchterne Feststellung, hier gibt es nichts hineinzudeuten; enthalten wir uns der Verdopplung der Wirklichkeit (die Vorstellung eines Reiches, indem die ‚wahren' Gegenstände unserer Bilder sich befinden) - alles ist wie es ist!

[Doch würde man den Scharfsinn Aristoteles' und die Komplexität seines Denkens arg unterschätzen glaubte man sein Werk der mittelalterlichen Deutung in vollständiger Entsprechung. Es würde den Umfang dieser Arbeit bei weitem sprengen, hier eine ausführliche Analyse seiner Metaphysik vorlegen zu wollen. Aber Hinweise wie: "... der letzte Stoff ist derjenige des eigentlichsten Wesens,..." und " so sind aber der letzte Stoff und die Form ein und dasselbe - das eine dem Vermögen, das andere der Verwirklichung nach."(4) verweisen auf eine Vorstellung, in der aufsteigende Seins-Stufen gedacht sind, die mit einer Zunahme an Wahrheit einhergehen - in einen Gipfelpunkt kulminierend (auch hier sollte man sich enthalten nur an den ‚Unbewegten Beweger' , oder konkreter an einen Gott zu denken).(5)]

Grundsätzlich nahmen die griechischen Philosophen jedoch die Erreichbarkeit von Wahrheit an, auch wenn diese manchmal sehr einer göttlichen Eingebung oder zumindest Gabe glich (z.B.: der daimon des Sokrates oder die Spur des Plotin)(6) Die Vorstellung einer totalen Unerreichbarkeit oder gar Relativität von Wahrheit war ihnen nicht bekannt.

 

Die Wahrheit verflüssigt sich

"Die Liebe und der Glaube an Wahrheit, hat sich in eine so reine und ekkle Höhe gesteigert, daß er, damit der Schritt in den Tempel recht ergründet und begründet werde, einen geräumigen Vorhof erbaut, in welchem sie, um den Schritt zu ersparen, sich mit Analysieren und Methodisiren und Erzählen so lange zu thun macht, bis sie zum Trost ihrer Unfähigkeit für Philosophie sich beredtet, die kühnen Schritte anderer seien weiter nichts als Vorübungen oder Geistesverwirrungen gewesen." (Hegel)

Diese Relativität oder Unerreichbarkeit droht dann, wenn man einzig dem Menschen (und hier nur seiner Vernunft) eine Legitimität zur Wahrheitsfindung zugesteht. Wir wollen hier den Fokus nicht auf die Differenz Mensch -Tier (i.S. Mensch, als das Tier was Vernunft hat) legen, sondern beobachten, wie sich ein Verständnis von Wahrheit ändert, wenn ich die Wahrheit zuerst mit Vernunft verknüpfe, und anschließend diesem Potential Maßstäbe anlege, die nur dem Menschen zukommen.

So geschehen bei Kant. Durch die Untersuchung der Strukturen der reinen Vernunft wurden Gesetzmäßigkeiten entdeckt, die gewisse Wahrnehmungen im Vorhinein bestimmen. Dem weiter folgend, muss man dann sagen, dass Vorstellungen z.B. einer Idee von Wahrheit oder von Gott im Mensch selbst bedingt sind. Dann kann man folgern, dass hieraus kein Beweis für die tatsächliche Existenz (Gottes oder der Wahrheit) aus diesen Vorstellungen folgt, sondern sie nur subjektiv angelegt sei (d.h. im Subjekt als Mensch) - das Gegenteil beweisen kann man damit aber auch nicht.

Hegel konnte daraufhin zumindest auf die merkwürdige Vorraussetzung Kants hinweisen, die uns heute als das ‚fertige Erkenntnissubjekt' bekannt ist. Es ist die Trennung in absolute Objektivität und absolute Subjektivität, die Hegel erstaunte. Denn das Argument, dass alle Erkenntnis sich aus einer transzendentalen Anschauung speise und damit subjektiv sei, setzt immerhin voraus, dass diese Anschauung überhaupt keine Verbindung zur objektiven Welt habe. Genau das bestreitet Hegel aber: "Dadurch, daß die Anschauung transcendental wird, tritt die Identität des Subjektiven und Objektiven, welche in der empirischen Anschauung getrennt sind, ins Bewußtsein;"(7)

Insofern kann das Zunehmen der Fragwürdigkeit der Wahrheit auch mit dem Auftauchen der Skepsis gegenüber der Idee vom Göttlichen zusammengedacht werden.(8) Wittgenstein jedoch, liess nicht die Vernunft etwas über den Menschen Hinausgreifendes selbst konstruieren, sondern hatte noch eine Vorstellung davon, dass sie transzendente Wahrheit einfach nicht greifen konnte; er drängte sie somit in das Unsagbare, in das Unerreichbare und auch in das Religiöse zurück: "Worüber wir nicht sprechen können, darüber müssen wir schweigen." und "Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt." Über die Existenz von Wahrheit allein sagt dies nichts, es macht sie aber zumindest wissenschaftlich unerreichbar. Von der Wahrheit im griechischen Sinne spricht man heute nicht mehr. Sie ist als metaphysisches Gespenst auf dem Weg in die Moderne zurückgelassen worden; sie befindet sich zur Zeit im Umkreis von Religion und Irrationalität: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische."(9)

Aber nicht jeder schweigt, wovon er nicht sprechen kann: "Wahrheit, Wirklichkeit und Sinnlichkeit sind identisch." (Feuerbach)
Zu dieser Identitätsbehauptung von Wahrheit und Wirklichkeit kann wohl niemand besser als Heidegger antworten: "Solange wir so reden und meinen, verstehen wir die Wahrheit immer nur als Richtigkeit, die zwar noch einer Voraussetzung bedarf, die wir selbst - der Himmel mag wissen, wie und weshalb - nun einmal machen."(10)
In Heideggers Kritik offenbart sich die einfache Feststellung, dass es nicht reicht einen Wahrheitsbegriff einfach auf Richtigkeit (auf die Übereinstimmung mit der feststellbaren Tatsache) zu reduzieren und es damit auf sich bewenden zu lassen. Es liegt immer etwas vor dieser richtigen Tatsache (was als das Wahre verstanden werden muss) mit dem wir umgehen, bzw. es stillschweigend voraussetzen.

Der Unterschied zum klassischen Wahrheitsdisput besteht darin, dass wir heute nicht in skeptischem Zweifel und demütigem sokratischen Nicht-Wissen verharren ("Ich weiß, dass ich nichts weiß"), sondern reine Wirklichkeitsanalyse betreiben.

 

Wahrheit wird zur harten Wirklichkeit

Das Verlassen der Wahrheit im griechischen Sinne vereinfacht die Sache keineswegs. Abgesehen davon, dass nun Philosophie in ihrem Charakter völlig umgedreht ist und statt "Liebe zur Weisheit" (also "Suche nach Wahrheit") wohl eher "Liebe zum Leben" heißen sollte, zeigt sich auch in diesem Mikrokosmos dasselbe Problem wie bei der unsagbaren Wahrheit des Transzendenten. Die Wirklichkeit scheint genauso schwer zu handhaben, bzw. zu erreichen wie die Wahrheit: und die Aushandlung der Menschen über sie endet nie.

Der Wahrheitssuche im Sinne eine Versenkung des Geistes in den Kosmos (als ein Absolutes, als ‚Ganzes' gedacht), steht das Aufdröseln des menschlichen Wahrnehmungsapparates mit gleichzeitiger Beschränkung auf diesen gegenüber.

Man versuchte sich die Unlösbarkeiten der Probleme, die durch Methodik und Systematik nicht zu nötigen Klarheit zu bringen waren vom Halse zu schaffen, und landete in einer lebensweltlichen Wirklichkeit, die nun durch Wahrnehmungsverschiebungen und Standortdifferenzen gekennzeichnet ist. Und so stellt sich das, was früher die Suche nach Wahrheit war, heute als das Bemühen dar, virtuelle Welten und Scheinexistenzen zu verlassen oder gar nicht erst zu betreten. So muss man wohl die explodierende Zahl neuer Forschungszweige, wie gender studies, Feminismus, race studies, disability studies etc., die stets in irgendeiner Art und Weise eine ‚Korrektur der Wahrnehmung' bzw. ‚Zerschlagung von Normalität' (ihrem gemeinsamen Feind) zum Ziel haben, als Zeichen dafür nehmen, wo der Kampf um Wahrheit gekämpft wird. Da man diese zu-kurze-Tischdecke in jede beliebige Richtung und so oft wie möglich verschieben kann, werden wir wohl vorerst mit keinem Paradigmawechsel zu rechnen haben (11); vielmehr wird es in Zukunft darauf ankommen, die kleinsten Nischen und Exoten ‚fruchtbar' zu machen und sie (und das ist das Wichtigste) hochwirksam zu vermitteln. (12)

"Schließlich löst sich das Ganze in Systemen von Formeln auf, die untereinander zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind" Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

Faktizität und Lebenswelt
Sprache als Wahrheitsbestimmung

Ein Beispiel für den Kampf um Wirklichkeit findet zur Zeit in der Diskussion über die Terrorakte in New York statt. Es fehlt nicht an Stimmen, die nach diesem Schock das Erwachen anmahnten und die Ankunft in der "Wüste des Realen" verkündeten.(13)

Wittgenstein hatte bei der Beschäftigung mit der Alltagssprache festgestellt, dass es nicht eine Sprache, sondern verschiedenste Sprachspiele gibt. Jedes Sprachspiel nun wiederum gehört einer bestimmten Situation bzw. einem bestimmten Kontext des Lebens an. So teilt sich dann ein Verstehen von Wirklichkeit erst in dem lebensweltlichen Zusammenhang des Einzelnen mit.
Die lebensweltliche Sprachbenutzung wird mit dem Wahrheitsbegriff verklammert. Da es nun nicht ‚eine' Sprache gibt, gibt es auch nicht ‚eine' Wahrheit": wir müssen die Pluralität und Relativität von Wahrheit akzeptieren.(14)

Damit ist aber der ursprüngliche Rahmen von Philosophie verlassen. Die Menschen begannen zu philosophieren, weil sie sich wunderten (Aristoteles), und jetzt bedenke man nur einmal worüber die Menschen sich zuerst wunderten: Warum ist etwas, und nicht vielmehr nichts?, die metaphysische Frage schlechthin. Unsere Konsequenz ist, dass wir zwar nicht mehr von der Wahrheit im klassischen Sinne sprechen können oder wollen, jedoch gelingt es uns auch nicht das Wundern einzustellen.
Es wird jetzt das Richtige und Wirkliche analysiert; dadurch fühlen sich Philosophen bald nur noch als kritische Instanz, zur gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Perspektivkorrektur beauftragt. Es fühlte sich der Mensch durch ein ureigenstes Streben zur Wahrheit gedrängt, allein hat er sich selbst das Streben nach ihr dogmatisch abgeriegelt.
Ein transzendenter Wahrheitsrahmen wird zwar nicht ausgeschlossen, allein im forschenden Bemühen taucht er nicht mehr auf.

Dass aber die Suche nach Wahrheit (und das ist Philosophie, im Gegensatz zum Besitz der Wahrheit) weiterhin möglich ist, mag man sie im Unbekannten, im Unklaren und Schwarzen weitersuchen, zeigt ausgerechnet einer, der kein Philosoph ist, Samuel Beckett: "Nein, man muß etwas anderes finden, einen besseren Grund, damit es aufhört, ein anderes Wort, eine bessere Idee, im Negativ benützen, ein neues Nein, das alle anderen annulliert, alle die alten Neins, [...], ja, ein neues Nein, das sich nur einmal sagen läßt, das seine Falltür öffnet und mich, den Schatten und das Geschwätz, in eine Abwesenheit verschlingt, die nicht so vergeblich ist wie die der Existenz." Um das zu verstehen, erinnern wir uns an das Unsagbare Wittgensteins, und wie dieses Unsagbare die Wahrheit auf einmal in unsere Subjektivität holte. Dazu Beckett: "Das ist mein Leben, .... Es bedarf dessen, wie es scheint, sobald Sprache da ist."(15)
Dies kann die (wittgensteinsche) Sprachphilosophie "vom Kopf auf die Füße stellen". Mit der Textstelle verweist man lediglich darauf, dass das wittgensteinsche Dogma: " Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."(16) mit den gleichen Variablen offen gedacht werden kann. Die beckettsche Variante sagt im Prinzip nichts anderes als der Satz Wittgensteins; sie denkt, oder tastet aber über diese Welt hinaus und schließt sich nicht in eine Umzäunung ein, sondern sucht die Lebenswelt stets auch zu überspringen.

- Dieser Gedanke siehe Anmerkungen zu Beckett- Descartes -

Man sollte mit der Morgenzeitung in der Hand philosophieren (Hegel)

Nein nein ich würde ersticken
ohne die österreichischen Dreckblätter.
Sie ersparen sich Unsummen für Tabletten
wenn Sie sich schon in der Frühe gleich
dem totalen Stumpfsinn der Kronenzeitung und des Kurier ausliefern
das bringt den Blutkreislauf schon in der Frühe in Raserei.
Thomas Bernhard: Heldenplatz

Die Vorstellung einer Ankunft im Realen, in der "harten Wirklichkeit" bietet sich seit Husserls "Lebenswelt"- Konzeption idealerweise an, um an die Stelle von Wahrheit zu treten. Alfred Schütz, der Husserls Lebensweltkonzeption aufgriff und die Alltagswelt nun geradezu aufschichtet, kann uns illustrieren, wie man sich von der "harten Alltagswelt" entfernen kann. Bei ihm bilden die äußersten Grenzen der Lebenswelt einmal die "harte Alltagswelt"(als unausweichlichste Welt der Lebensnotwendigkeiten) und andererseits die Traumwelt. Wir können unsere jeweilige Lebenssituation danach einordnen: so kann man sich bei der Überquerung einer Straße den materialen Gegebenheiten durchaus nicht entziehen, der Traum jedoch macht sogar das Aussetzen von Kausalität möglich. Wenn nun Zizek behauptet, durch die Terrorakte in USA sei deren Bevölkerung wieder im Realen angekommen und habe ihren Urlaub von der Geschichte beendet, dann geht er davon aus, dass die Balance zwischen Traum- und harter Alltagswelt nicht mehr gegebene gewesen sei, mithin die Amerikaner in einer Scheinwelt gelebt hätten. So deutet er die Filme The Truman Show und Time out of joint nicht als Fiktion, sondern als Zeichen der amerikanischen Zeit, als das spätkapitalistische kalifornische Konsumparadies und gerade in seiner Hyperrealität irreal und substanzlos.(17) Angenommen dem sei so, und es gäbe etwas wie die "wirklichste Wirklichkeit", dann hätten wir hier ein ideales Beispiel dafür, wie wir heute Wahrheit im Wirklichkeitssinn zu verstehen haben.(18) Ein weiteres Beispiel findet sich zum selben Thema in einem Interview von Wim Wenders, in dem er zu seiner Kritik an Amerika, daß dort die Ununterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit bewußt betrieben werde, befragt wird: "News sind in Amerika dermaßen zum Entertainment verkommen, daß man sie an dem Tag, wo man sie wirklich auseinanderhalten müßte, genau das nicht mehr kann."(19)

All das behauptet nicht das Fehlen eines Wahrheitsbegriffes bei den angeführten Personen, vielmehr ist gerade die Beschäftigung dieser Persönlichkeiten ein Zeichen dafür inwieweit sich der Begriff von Transzendenz in den Wirklichkeitsbereich verschoben hat, bzw. inwieweit auch im Wirklichen ein Verlassen des Metaphysischen unmöglich scheint.

Transzendente Wahrheit als das Offene gedacht

Transzendentes Denken im Sinne des Wahren nicht aufzugeben bietet sich aus folgenden Gründen an:
Die Beschränkung auf das vorgeblich Reale bietet durchaus nicht die Klarheit, die unterstellt wird. Vielmehr scheint es so zu sein, dass sich dieser Begriff so instrumentalisieren lässt, dass er eine Interessendurchsetzung erlaubt. Denn unzweifelhaft liegt der Wirklichkeistbehauptung stets auch eine implizite Annahme zugrunde, die bei dieser Gelegenheit mit untergeschoben wird. Das ist in etwa der Vorwurf, den sich metaphysische Spekulationen zunehmend gefallen lassen mussten (man denke nur an das ‚Gute' der Griechen, das heute das Kainsmal des Normativen trägt).
Wenn sich aber zeigt, dass man dieser Gefahr nicht aus dem Weg gehen kann, hat ein transzendenter Wahrheitsbegriff den Vorteil, die Menschen aus ihrer nihilistischen Selbsteinkapselung zu befreien. Im Wirklichkeitsdenken jedoch trifft der Mensch überall immer nur sich selbst (Heidegger). Und warum sich der Mensch von dem äußeren Kontext zunehmend abkapselt, lässt sich vielleicht philosophiegeschichtlich (Kants Kritik der reinen Vernunft; Subjekt-Objekt-Trennung, Gegensatz Mensch-Natur) erklären, aber es wird nicht deutlich, wie man sich den Menschen ohne transzendente Kontexte zu denken, vorzustellen oder zu glauben hat.

"Wehe! Es kommt die Zeit wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft ..."
Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra

Was wahr ist, so entsunken, so verwaschen
in Keim und Blatt, im faulen Zungenbett
ein Jahr und noch ein Jahr und alle Jahre -
was wahr ist, schafft nicht Zeit, es macht sie wett.
Bachmann: Was wahr ist

Robert Seyfert: über den Autor

Zitate:

(1)
Ernst Bloch: Philosophische Grundfragen, Frankfurt 1961, S. 65

(2)
Das Höhlengleichnis - Beschreibung der Lage der Gefangenen:
"Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande. Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen. - Ich sehe, sagte er. - Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte tragen, die über die Mauer herüberragen, und Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei, andere schweigen. - Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. - Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? - Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! - Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? - Was sonst? - Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? - Notwendig. - Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? - Nein, beim Zeus, sagte er. - Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? - Ganz unmöglich. - Nun betrachte auch, sprach ich, die Lösung und Heilung von ihren Banden und ihrem Unverstande, wie es damit natürlich stehen würde, wenn ihnen folgendes begegnete. Wenn einer entfesselt wäre und gezwungen würde, sogleich aufzustehen, den Hals herumzudrehen, zu gehen und gegen das Licht zu sehn, und, indem er das täte, immer Schmerzen hätte und wegen des flimmernden Glanzes nicht recht vermöchte, jene Dinge zu erkennen, wovon er vorher die Schatten sah: was, meinst du wohl, würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges gesehen, jetzt aber, dem Seienden näher und zu dem mehr Seienden gewendet, sähe er richtiger, und, ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein und glauben, was er damals gesehen, sei doch wirklicher als was ihm jetzt gezeigt werde? - Bei weitem, antwortete er. -"
(Platon: Politeia, Übers.: Friedrich Schleiermacher, VII, 514a - 517a)

(3)
Aristoteles: Metaphysik: 1017 b31

(4)
Ebd.: 1045 b15 und: 1070 a 20

(5)
Ausführlich dazu das neu erschienene Buch von Emil Angehrn, der selbst den Begriff der "Pluralistischen Substanzenontologie" verwendet

(6)
Plotin: Enneaden V9, übers. Richard Harder, Hamburg 1990: "Eine dritte Klasse endlich sind gottbegnadete Menschen, die von einer stärkeren Kraft sind und ein schärferes Auge haben, daher sehen sie sozusagen wie Fernsichtige den Glanz dort oben und heben sich dort hinauf gleichsam über die Wolken und den Dunst der Welt hinweg, und verbleiben dort in der Höhe, achten alles Irdische gering und erquicken sich an jenem Orte welcher der wahre und ihnen angestammte ist, ..."

(7)
G.W.F. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie

(8)
Jean Paul Sartre: Das Sein und das Nichts Versuch einer phänomenologischen Ontologie Paris, 1943, S. 708/1052: "Aber die Gottesidee ist widersprüchlich und wir gehen umsonst zugrunde; der Mensch ist eine unnütze Passion."

(9)
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico philosophicus

(10)
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, S. 38

(11)
Ich erwarte den ‚Metapradigmenwechsel, bzw. ‚Das Ende der Paradigmen(wechsel)' übrigens sehnsüchtig

(12)
Zwar hier nicht ganz zum Thema, aber um sich vor Augen zu führen, welche Ausmaße solch eine Wahrnehmungskorrektur haben kann, dient das Beispiel des Naturschutzes bestens: Der ‚Vogel des Jahres 2002' ist DER HAUSSPERLING!

(13)
Slavoj Zizek: Willkommen in der Wüste des Realen, in: DIE ZEIT vom 20.09.2001 (der Titel bezieht sich auf ein Zitat aus dem Film Matrix)

(14)
Putnam, bzw. Kuhn

(15)
Samuel Beckett: Texte um Nichts in: Erzählungen

(16)
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico philosophicus, 5.6

(17)
Slavoj Zizek: Willkommen in der Wüste des Realen, in: DIE ZEIT vom 20.09.2001

(18)
Ich will damit nicht behaupten, Zizek könne den Begriff Wirklichkeit nicht von Wahrheit unterscheiden. Er gebraucht letzteren ja gar nicht; aber genau das verweist auf die Problematik. Selbst wenn Zizek Wahrheit als philosophisches Thema noch aktuell fände, scheint er sich eher verpflichtet zu fühlen, erstmal was wirklich ist klären zu wollen.

(19)
Ein Gespräch mit Wim Wenders: Feldzug der Zärtlichkeit, FAZ vom 24.09.2001